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Die Erzählung von der verlassenen Braut

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Jörns zögerte einen Moment, wohl um sich die Gedanken zu­rechtzulegen, dann fuhr er fort:

“Also, in Waldstädten wohnte einmal eine mir bekannte Familie; ich kannte sie zwar nur flüchtig, aber in unserer Kleinstadt ist man ohnehin mit allen mehr oder weniger flüchtig bekannt. Die Tochter - ihr Name spielt keine Rolle - war verlobt, mit einem An­gestellten der hiesigen Volksbank. Die beiden wollten bald heiraten. Alles war schon für die Hochzeit vorbereitet, die Aussteuer schon - äh - wie sagt man? - bereit­gestellt, der Hochzeitstermin stand fest, der Pfarrer war unterrich­tet, der Standesbe­amte in Kenntnis gesetzt, und selbstver­ständlich hatten die Verlobten auch das Auf­gebot bestellt. Da passierte etwas Schreckliches, Katastrophales: In das Verlöbnis brach - ich möchte fast sagen: mit elementarer Gewalt ein anderes Mädchen ein - man sagte, es wäre die beste Freundin der Braut gewesen, ein bildschönes Mädchen, eine kleine Helena - weißt du. Und Helena machte die Bezie­hung kaputt, spannte der Braut den Bräutigam aus, brachte die Hochzeit zum Platzen!“

Jörns schlug, während er die letzten Sätze sprach, mit der Rechten zweimal aufs Lenkrad, dass es laut und dumpf im Wagen knackte; mit weit aufgerissenen Augen blickte er da­bei geradeaus, als befürchte er den Irrlauf eines Tieres oder er erwarte jeden Augenblick die Rückleuchte eines Schwerlasters, dem es auszuweichen gelte.

„Nun, die Geschichte ist gewiss tragisch“, fuhr er mit sei­ner Erzählung fort, „tra­gisch für das verlassene Mädchen, für die sitzen gelassene Braut, aber so ganz unge­wöhnlich ist sie ja auch wieder nicht, meine ich! Denn bekanntlich kommt es öfter vor, dass die eine der anderen den Freund ausspannt - oder umgekehrt! So läuft das nun mal im Leben, die Liebe ist halt etwas arg Unbeständiges, etwas - wie soll ich sagen? - Flatteriges - wir wissen das ja aus eigener Erfahrung, mit unseren diversen Thusneldas, nicht wahr? Ha, ha, ha, ha!”

Das schallende Lachen des Erzählers ging in ein Meckern über, was in Anbetracht des tragischen Gegenstandes unangemessen und taktlos anmutete.

„Nun, das einzig Ungewöhnliche an dieser Geschichte war vielleicht, dass alles so kurz vor der Hochzeit passierte. Ich glaube, so was kommt doch relativ selten vor, nicht? Ganz außerordentlich selten, kann man sogar sagen! - Aber, pass’ auf, Elmar, etwas noch Selteneres, ich möchte fast sagen: Sensationelles passierte dann außer­dem noch in unserer Geschichte! Jetzt meinst du wohl, die bei­den Mädchen seien mit dem Messer aufeinander .losgegangen. Oder jedenfalls die eine, die betrogene, auf die an­dere, oder sie hätte sich mit Mord und Totschlag am verräterischen Bräutigam gerächt, was? - Nein, ganz so schlimm, ganz so blutrünstig ist die Geschich­te nicht ausgegangen! Zunächst geschah etwas, was noch nicht gar so aufregend, aber doch immerhin bemerkenswert war: Die Familie der Braut und diese natürlich selbst ha­ben sich die Treulosigkeit und die Blamage so zu Herzen genom­men, dass sie mit Sack und Pack von Waldstädten wegzogen; sogar das Haus haben sie verkauft, der Vater ließ sich von der Firma versetzen; das Mädchen, das in Waldstädten berufstätig war, ebenfalls. Die ganze Sippe hat sozusagen sämtliche Zelte abge­brochen und ist auf und davon! - Aber jetzt kommt es, das eigentlich Aufsehen Erregende, das Beispiellose - pass auf!“

Holger Jörns hob den rechten Zeigefinger und blitzte Elmar Redlich mit sei­nen Schlitzaugen von der Seite an.

„Bevor die Familie also aus Waldstädten regelrecht flüchtete, sprach die verlassene Braut - also man soll’s nicht glauben! Man soll’s nicht glauben! - sie sprach in meh­reren angesehenen Familien vor, beschuldigte ihre Freundin, sie habe ihr Verlöbnis kaputtgemacht, sie wolle das den Familien, sagte sie, offiziell zur Kenntnis geben! Verstehst du: offiziell! - Tja, was sagst du nun, Elmar? Ist das nicht.... Das ist so un­gefähr das Dollste, was mir hier, in unserer Provinz, je zu Ohren gekommen ist - ver­gleichsweise, sagen wir, vergleichsweise! Es gibt natürlich noch ganz andere Sachen, aber so etwas! Eine, der der Bräutigam ausgespannt wurde, geht von Haus zu Haus und beschwert sich, gibt ihre Blamage auch noch offiziell......., nein, so ’was habe ich noch nicht gehört!“

Der Mann am Steuer legte eine Pause ein, als hätte ihm die­se Sensation die Sprache verschlagen, umständlich griff er mit seiner Rechten in seine Hosentasche und zog ein großes Schnupftuch hervor, mit dem er sich über die vom vielen Reden feucht gewordenen Lippen und über die Stirn fuhr. Dann setzte er seine Erzählung fort:

„Nun, so ganz unlogisch war diese Melde-Aktion der verlas­senen Braut auch wieder nicht. Man muss nämlich eins wissen: Das kleine, süße Biest, diese...äh....besagte Helena, nicht wahr, die auf so brutale Weise Schicksal spielte - sie stammte aus einer der angesehenen Familien von Waldstädten. Damit wird die Aktion der Braut ziem­lich klar: das Biest sollte angeprangert werden, es sollte Druck auf die Familie aus­geübt werden, dass sie der kaltschnäuzigen Ausspannerin ins Gewissen redet. Und der Bräutigam sollte eventuell wieder zurückgelotst werden. Ein Appell war das so­zusagen, ein Appell an den Anstand des Bräutigams; an sein - wie sagt man? - an sein Schuldgefühl, nicht? - Tja, die Familie des betroge­nen Mädchens ist dann, wie gesagt, auf und davon, nach ei­ner kurzen Zeit des Abwartens - glaube ich; aber der Ver­flossene machte leider keine Anstalten, zur Braut zurück­zukehren - war also nichts mit dem Zurücklotsen, was? Ha, ha, ha, ha! - Sie sind dann, soviel ich weiß, nach Hamburg gezogen, gewissermaßen in die große Welt hinaus....“

Holger Jörns hatte gerade die Scheinwerfer angestellt, denn es war in dem Wald­stück, das sie durchfuhren, und wegen neu aufgekommener Bewölkung etwas dunkel geworden. Der Scheinwerferkegel des Kraftwagens erfasste kurz darauf das Ortsein­gangsschild von Enkdorf. „Waldstädten, Ortsteil Enkdorf“ las Elmar den altvertrau­ten Namen. Um sich von den unguten Gefühlen, die Jörns mit seiner Geschichte, mehr noch mit seinem meckern­den Lachen bei ihm auslöste, freizuma­chen, schaute er aufmerksamer durch das Wagenfenster, be­obachtete die ersten Häuser des Dorfes, wie sie schattenhaft und flüchtig an ihnen vorbeiglitten.

„Tja, Elmar“, ließ sich Jörns nach einer länge­ren Pause wieder vernehmen. Er schien seine Ge­schichte beendet zu haben und wollte offenbar zu ei­ner Bewertung, zu ei­nem Resümee übergehen. „Du siehst, es gibt auch andere Gründe, seine Heimat zu verlassen!“, resü­mierte er; „wie soll ich’s nennen? Verletzter Stolz? Ge­kränkte Fami­lienehre? Unerträglicher seelischer Schmerz, den man durch einen Ortswechsel zu lindern sucht? Vielleicht war das alles nicht so ausschlaggebend, aber mitgespielt hat es bestimmt, zu­mindest der seelische Schmerz! Man wollte zu neuen Ufern, zu einem Neu­anfang, weit weg von die­ser total verkorksten Sache, von diesem ... in die Binsen gegan­genen Verlöbnis!“

Sie waren inzwischen im Zentrum von Enkdorf. angekommen. Holger Jörns hielt nun mit Sprechen inne, da das Rotlicht einer Verkehrsampel die zügige Fahrt unter­brach. Er sah zu Elmar herüber, ähnlich durchdringend und aus­dauernd wie schon zu Beginn seiner Erzählung, so als wollte er ihn zwingen, den Kopf zu wenden, als wollte er unbedingt erreichen, dass er sich diesen Augen stellte, die sich von der Sei­te her förmlich in seinen Mitfahrer hinein­bohrten. Doch dieser tat ihm den Gefallen nicht. Irgend etwas warnte ihn, ein unbestimmtes, aus den Schat­tenzonen seiner See­le aufsteigendes Gefühl, demzufolge er es vorzog, lieber geradeaus durch die Wind­schutzscheibe zu blicken, so als beobachte er aufmerksam, mit geradezu gespanntem Inte­resse das Treiben auf der Dorfstraße; wo allerdings von einem Treiben kaum et­was zu sehen war; nur ein Traktor fuhr vor ihnen her und ein alter Mann kam ihnen, einen Karren schiebend, entgegen. Endlich spürte Elmar, wie dieser lange, prüfende Blick des Journalisten, der ihm beinah physische Schmerzen bereitete, aufhörte. Die Ampel schaltete gerade auf Grün, und Jörns legte wieder den Gang ein, ließ die Kupplung los, und ab ging es über die Kreuzung in die Mitte des Dorfes hinein. Elmar aber sehnte das Ende der Fahrt herbei, denn das Gebaren seines Nachbarn zur Seite war ihm doch lästig geworden.

„Glaube mir, Elmar“, begann Jörns von Neuem, und seine Stimme verfiel in einen merkwürdig pa­thetischen Ton, „die Natur ist unser Schicksal. Wir sind ihr ausgelie­fert, wir sind ihrer Macht unterworfen, vor al­lem in unserer Ju­gend! Und nur schwer können wir uns gegen sie wehren. Sie macht uns im­mer wieder einen Strich durch unsere klugen Vorausberechnungen. Denk’ nur an das Ge­witter heute morgen, an die Erdmassen, wie sie an manchen Orten losbrachen. Der Laster in Waldgirmes wurde da mitgerissen, zwei Menschen sind schwer verletzt worden! Ich muss mir das gleich mal anse­hen. Alle Vorkehrungen, die wir gegen diese Katastrophen treffen, alle Si­cherheitsvorkehrungen, um die gewalttätige Natur im Zaum zu halten........“ Jörns überlegte kurz, suchte offenbar nach einem treffenderen Vergleich, um ihm die ge­fährlichen Attacken der Naturmächte plausibel zu machen, und indem er mit dem rechten Zeigefin­ger eine kreisende Bewegung in der Luft ausführte, sprach er weiter:

„Wir bauen Schutzdämme um unsere Behausungen, gegen die Gewalt des Meeres zum Beispiel - gut! Aber was hilft es, wenn die Natur ihre ge­wal­tigsten Kräfte ent­fesselt? Wenn sie Sturmböen, Orkane und - weiß der Geier, was noch? - Springflu­ten, Sturmfluten, Wirbelstürme gegen uns loslässt? Sie überrollen alles, zertrümmern alles! Alles, was wir an trutzigen Bollwerken, an Dämmen, an Schutzdeichen dage­genstellen! - Und, glaube mir, Elmar, im privaten Bereich gilt das alles auch....“

Jörns unterbrach abrupt seinen leidenschaftlichen Redeerguss. Elmar kam es vor, als wollte er diesem überraschenden Schwenk seiner Gedanken, ih­rem Sprung ins Inner­seelische, wo die Stürme und Orkane nur symbolisch wüten, durch eine auffällige Pause Nachdruck verleihen. Vielleicht auch musste er sich nur auf den Straßenver­kehr konzentrieren, der vorüberge­hend seine gan­ze Aufmerksamkeit erforderte.

„Auch im privaten Bereich schlagen die Naturmächte auf uns ein“, fuhr er fort, und seine Stimme schlug erneut einen emphatischen Ton an; „das un­glückliche Mädchen, von dem ich dir erzählte...., die Natur war es, die ihm zum Schicksal wurde, die Na­tur und nichts anderes!“

„Und Elmar....“, er beugte sich jetzt weit zu seinem Nachbarn zur Rechten herüber, wobei sein Kopf fast den Elmars berührte und dieser heißen, übel­riechenden Atem zu spü­ren bekam. Elmar wunderte sich, dass Jörns in die­ser verrenkten Haltung über­haupt noch das Fahrzeug lenken konnte, „lass’ es dir gesagt sein!“, hämmerte es jetzt unmit­telbar neben Elmars Ohr, mit unschönem Stakkato; „die Natur ist auch unser Schicksal! Sie nimmt keine Rücksicht auf An­stand, auf edle Gesinnung! Und die Moral? Das Gebot der Treue? Die Pflichten? All das zählt bei ihr nicht, alles wirft sie über den Hau­fen! Sie zerstört die gute Ehe, sie zerstört die beste Freundschaft, reißt Fa­milien auseinander! Erst einmal richtig entfesselt, übt sie ihre Herrschaft über den Menschen aus - und wir? Wir hassen sie! Wir stemmen uns ihr entge­gen, als unseren Feind und - sehnen sie zugleich herbei - als unsere wahre Erfüllung!“

Mit diesen starken Worten sind sie vor dem Bürgermeisteramt von Enkdorf angel­angt. Beide steigen aus. Mechanisch und mit einem eher hingehauch­ten ’Danke schön!’ reicht Elmar seinem Bekannten von früher die Hand, denn er war förmlich erschlagen von dem Wortschwall, mit dem Jörns ihn zu­letzt überrollt hatte. Das Wal­ten der Natur schien es dem Journalisten mäch­tig angetan zu haben.

Jörns wünschte Elmar noch einen angenehmen Aufenthalt in Enkdorf und in Wald­städten, er sprach die Hoffnung aus, es sei doch wohl nicht das letzte Mal, dass sie sich gesehen hätten. Dann gab er ihm seine Visitenkarte, for­derte ihn auf, morgen oder übermorgen bei ihm hereinzu­schauen, möglichst abends, wenn es ginge; tags­über sei er nicht anzutreffen, da sei er unter­wegs oder in der Redaktion oder weiß der Geier wo! Alle seine Worte rauschten an Elmars Ohr vorbei, so ramm­dösig war er durch Jörns’ gewal­tige Beschwörung der Natur geworden, durch das Pathos seiner Schilderun­gen, welches Ver­hängnis und Tragik schauerlich aufklingen ließen.

Noch einmal kurz grüßend, stieg Jörns wieder in seinen Wagen und brauste davon, Richtung Waldgirmes, zu der Stelle also, wo die Natur heute Morgen alle ihre Kräfte entfesselt hatte.

Immer noch benommen schaute sich Elmar im Dorf um. Der ganze Ort sah aus, als hätte er ihn erst ge­stern oder heute früh verlassen, und dort hin­ten, in jenem weißem Haus auf der Anhöhe, wohnten noch sei­ne Eltern. Er är­gerte sich. Das wunderschöne Erlebnis der Fahrt durch den herbstlich-ver­goldeten Mönchswald, dann die hübschen Ausblicke auf sein Heimatdorf, sobald der Wald auflockerte - Jörns hatte ihm alles vereitelt, da er ihn stän­dig mit seinem Geschwätz festnagelte. Auch sein Elternhaus, welches auf der gegenüberliegenden Seite des Tales, in dem das Dorf eingebettet lag, seine glänzend weiße Fassade vorzeigte, hatte er deshalb nur flüchtig wahrgenomm­en. Jetzt blickte er genauer hin: Ja, da oben stand es immer noch, ihr Haus, als ob al­les so wäre wie vor über 20 Jahren und seine Eltern lebten noch da oben und erwar­teten zur Mittagszeit seine Rückkehr von der Schule, und er, Elmar, wäre gerade im Begriff, nach Hause zu kommen.

Er überlegte, was er in Enkdorf alles unternehmen sollte. Gewiss, einen Gang zu sei­nem Elternhaus hatte er sich fest vorgenommen. Aber sollte er auch ehemalige Nach­barn oder an­dere Bekannte im Dorf aufsuchen? Wenn sie über­haupt noch lebten, nach so vielen Jahren! Am ehesten die gleichalt­rigen Spielgefährten sei­ner Kindheit, aber auch sie mochten das Dorf, dieses abgelegene Nest hinter den Wäldern, schon vor langer Zeit verlassen haben. Außerdem, die Jahrzehnte, die hinter ihnen lagen - hatten sie nicht das Aus­sehen der Menschen verändert, in einem Maße verändert, dass ein Wieder­erkennen erst unter großen Mühen, nach langen Erklärungen zu er­warten wäre? Er dachte in dem Augenblick nicht an Holger Jörns, der ihn ja in Wald­städten auf An­hieb erkannte und das ungeachtet all jener Veränderun­gen, welche die Zelt in seinem Gesicht, an seiner Figur, an seinem ganzen Habitus ganz sicher verur­sacht hatte. Waren es also Lustlosigkeit oder Be­quemlichkeit, dass er auf eine um­ständliche Wiedererkennungsprozedur, wie er sie erwartete, gerne verzichtete? Oder war es die Scheu, alten Be­kannten unter die Augen zu treten, ihnen, die einiges über seinen Werdegang wuss­ten, die vielleicht mehr über ihn wussten, als ihm lieb war, genauso Rechen­schaft ablegen zu müssen wie gegenüber dem Journalisten Jörns, Rechen­schaft vielleicht noch über diese und jene unangenehmen Kapitel seines Le­bensromans oder über die fern der Heimat, in der Fremde geschriebenen Kapitel? Sei es, wie es sei! Elmar beschloss, seine Wege sollten ihn - außer zu dem Forsthaus - nur noch zu ei­nem Waldsee führen, der ihm einst ein besonders lieber Ort war, und zu sonst niemandem mehr.

So machte er sich also auf den Weg, und es vergingen keine fünf Minuten, bis nach einer Biegung der Dorfstraße das Forsthaus vor ihm auftauchte, und noch einmal dauerte es so lange, und er stand – nach über 20 Jahren – zum ersten Mal wieder vor dem Haus, in dem er seine Kindheit und Jugend verbracht hatte. Eben noch, von fer­ne aus dem Fenster des Wagens hin­überblickend, hatte er sich gewundert, dass die lange Zeit offenbar spurlos an diesem zentralen Ort seiner Heimat vorübergegangen war. Doch jetzt, da er das Haus aus der Nähe betrachtete, bemerkte er doch gewisse Verände­rungen, die ihm den Zeitablauf ins Bewusstsein hoben: Die Ahornbäume hinter dem Haus, in prachtvolles herbstliches Gelb gekleidet, schickten ihre Kronen um ein Vielfaches höher als früher in den Himmel. Auch die Blau­fichte zur Rechten, einst ein kleines Bäumchen, war zu gewaltiger Höhe an­gewachsen, nur das Haus selbst hatte sein Aussehen kaum verändert, ab­gesehen von den kargen Vorhängen an den Fenstern, die auf einen nüchter­nen Geschmack des augenblick­lichen Besitzers hindeuteten.

Er öffnete das Vorgartentor und begab sich, um das Haus herumgehend, in den hinte­ren Teil des Gartens, wo sich der Wintergarten befand, ein er­kerhaft vorgebauter Sei­tentrakt, einst Ort vie­ler geselliger Kaffeestunden und Dämmerschoppen; der Gar­ten selbst, für ihn als Kind eine bevorzugte Spiel­stätte von gewaltigem Ausmaß, kam ihm jetzt ungeheuer geschrumpft und unansehnlich vor. Auch der Wintergarten, den er früher als ein mächtiges Ge­bäude, fast wie ein Haus neben dem Haus empfunden, erschien ihm jetzt wie ein kleines, verkommenes Anhängsel, denn der Putz seiner Wände war rissig und die braune Farbe blätterte von seiner heruntergelassenen Roll­läden ab. Noch schlimmer der Garten, der ob seines ungepflegten, vergam­melten Aussehens herzzerreißend vor sich hintrauerte. Einige kahl gewor­dene Rhododen­dronsträucher fielen Elmar sofort ins Auge, da sie ihm ihre gelblichen Blät­ter fle­hentlich, kam es ihm beinah vor, ent­gegenstreckten, als wollten sie anklagend auf ihre Elend hinweisen, auf die fehlende Pflege und die falsche Behandlung. Von den Obstbäu­men keine Spur mehr! Außer eini­gen kümmerlichen Bee­ten und den hochge­wachsenen Ahornen sah man nur noch Rasen, gelb­lich-grün verfärbten Rasen, auf dessen Fläche sich mehr das Moos als das Gras ausbreitete. In seiner Mitte reckte ein verkrüppelter Chinawacholder seine ebenfalls kahl gewor­denen Zweige in die Luft. Die hochaufgeschossenen Ahornbäume, die Sommer für Sommer tiefere Schatten verbreiteten, hatten ihm wohl das begehrte Sonnenlicht gestohlen, ihm, dem nach Sonne lechzenden Wacholderstrauch.

Wohin man blickte, überall Zeichen fehlender Zuwendung und Pflege. Über­flüssig zu erwähnen, dass auf allen Beeten robuster Hahnenfuß, Quecke und Windhalm ge­gen vernachlässigte Erdbeerkulturen erfolgreich anwucherten, erfolgreich nicht nur gegen die Erdbeerpflanzen, sondern auch gegen allerlei Stauden- und Rosengewäch­se.

Aus einem der hinteren Fenster, dessen Flügel schräg geöffnet standen und das frü­her zu einem der beiden Wohnzimmer seiner Eltern gehörte, vernahm er Schreibma­schinengeklapper. Er ging näher heran, stieg auf einen Mauer­vorsprung an der Haus­wand und blickte durch rauchverschmutzte Gardinen in das Zimmer. Überall an den Wänden - riesige Regale, angefüllt mit langen Reihen von Leitzordnern und dicken Bän­den. Eine Bürokraft saß, ihm den Rücken zukeh­rend, vor einer riesigen Schreib­maschine und hämmerte un­entwegt auf den Tasten herum. Neben ihr, in unregelmä­ßiger Anordnung aufgeschich­tet, ein gewaltiger Stapel von Akten. Die Stenotypistin hielt zu­weilen inne, ihre linke Hand griff nervös nach einer Zigarette, die qualmend auf dem Halter eines Aschenbechers lag; nach einem gierigen Zug setzte das Klap­pern der Schreibmaschine wieder ein, indessen die ausgestoßene Rauchwolke im schwebenden, das ganze Zimmer ausfüllenden Ziga­retten­dunst auf­ging.

Elmar hatte genug gesehen; er sprang von dem Mauervorsprung herunter und ging in den Vorgarten zurück. Aus seinem Elternhaus war ein Büroge­bäude geworden, viel­leicht eine Filiale der städtischen Gemeindeverwaltung. Und richtig: Neben der Ein­gangstür bemerkte er jetzt ein Amtschild, das ihm vor­her nicht aufgefallen war. „Wasserwirtschafts­amt Waldstädten - Bezirk Süd“ stand dort zu lesen.

Enttäuscht schloss er das Eingangstor. Sich umdrehend, warf er noch einen letzten Blick auf die ihm so wohlvertraute Fassade des Hauses mitsamt den Fenstern und ih­ren verschlissenen Gardinen. Hinter ihnen konnte man auch nur nüchterne Büroräu­me mit Regalen voller Leitzordner vermuten. Dann wandte er sich ab und ging lang­sam den Weg zurück zur Bushaltestelle. Der verwahrloste Garten, die kalte Büroat­mosphäre in dem hinteren Zimmer, dazu die Funk­tionsmöbel und der ganze Büro­kram - wie ernüch­ternd hatte alles auf ihn gewirkt, wie dämpfend auf seine Einbil­dungskraft. Unentwegt hatte sie ihm neue Bilder aus der Erinnerung hervorgezau­bert, ständig nach neuen Anläs­sen gesucht, ihm noch schönere, noch phantasti­schere Eindrü­cke aus frühester Zeit zu vermitteln - musste ihr nicht jede Lust zur romanti­schen Rückschau abhanden kommen und auch seine Bereitschaft betäuben, noch ein­mal auf den Pfaden der Erinnerung zu wandeln? Ihm kam die rüde Entzauberung dieser von ihm bislang verklärten Stätte wie ein symbolischer Akt vor, wie eine ein­zige Metapher auf die schrittweise Desillusionierung, die er im Laufe seines Lebens über sich ergehen lassen musste: Am Anfang seines Weges, der ihn ins Leben hinausf­ührte, bestand die Welt für ihn nur aus diesem Garten hinter dem Haus. Mit seiner Unmenge an Sträuchern und Blumenrabatten, seinen von Bü­schen eingefass­ten, verwinkelten Wegen, seinen Obstbäumen, seinen Boh­nenranken und Erbsen­sträuchern war er für ihn, der dies alles mit den Augen des Kleinkindes betrachtete, das erste Abenteuergelände von un­geheueren Ausmaßen. Er glaubte, dieses Gelände sei die Welt, die es zu entdecken gelte, und sonst gebe es nichts an­deres mehr; ein Abenteuerspielplatz, in dem alles um ihn herum schön, geheimnis­voll und be­glückend war, als be­wegte er sich in den verzauberten Gefilden eines Elysiums: Es blühten im Frühsommer die Rhododendren und die Ro­sen, die Hyazinthen und der Jasmin ließen ihre betörenden Düfte verströ­men, und der Rasen war grün und dicht wie ein weiches Kissen. Seine Katze, die sich ebenfalls in diesem herrlichen Garten Eden nur wohlfühlte, schnurrte behaglich, wenn er sie graulte; er liebte sie wie einen echten Freund, und als sie eines Tages starb, weil sie etwas Giftiges gefressen hatte - seine Mutter meinte, irgendein bösartiger Zeitgenosse habe das Tier vergiftet - weinte er bitterlich, als hätte er wirk­lich einen echten Freund verlo­ren; erst recht heulte er bei dem „Begräbnis“ seines Lieblings. Sein Großva­ter, der gerade zu Besuch weilte, ließ den toten Körper der Katze aus dem Karton, in den ihn Elmars Mutter liebevoll auf feines Seidenpapier gebettet, mit einem rüden Stoß in das ausgeschachtete Grab kullern. Elmar konnte da nicht anders, er musste ob dieses Kalther­zigkeit herzzerreißend aufschluch­zen.

So also war er damals, als Kind, später auch noch als älterer Knabe: gefühl­voll, emp­findsam, gutherzig, weltentrückt. Und heute? Seine Enttäuschung über den herunter­gekommenen, verwahrlosten Garten, über die Zerstörung seines einstigen Paradieses ist gewaltig, genauso wie seine Enttäuschung und Ernüchterung gewaltig ist, wenn er als Erwachsener heute in die Welt hinausblickt, wenn er sie so zu verstehen sucht, wie sie in Wahrheit ist. Manchmal ist er geradezu entsetzt über den Kontrast zwi­schen seiner kind­lich-naiven Vorstellung von einst und der Welt, die er viel später in ihrer wah­ren Gestalt entdeckte, eine Welt, die sich meist hinter Fassaden versteckt, weil man sonst ihre Gemeinheit, ihre Niedertracht nicht ertragen könnte. Jedoch der Drang, diese eigentlich grauenerregende Welt zu vernebeln, zu kaschieren, zu senti­mentalisieren ist immer noch stark in ihm lebendig, so­dass er dem Wunsch oft nach­gibt, das Gemeine zu übertünchen. Dabei sug­geriert er sich gleichzeitig gerne, er würde vieles vielleicht falsch sehen, die Welt sei vielleicht nur aus einer bestimmten pessimistischen Perspektive grauenerregend, oder, wie ein Philosoph einmal sagte, die Dinge an sich wären meistens weder gut noch schlecht, sondern erst durch unsere Sicht­weise erscheinen sie uns gut oder schlecht. Mit solchen Sprüchen bewahrte er sich dann die letzten Illusionen, er retuschierte an dem hässlichen Bild der Erwach­senenwelt so lange herum, bis er es sich einigermaßen erträglich gemacht hatte. Das war ihm lieber, als sich dieses Bild durch eine durchweg schwarz gefärbte Sichtwei­se zerfetzen zu lassen, mit der Folge, dass er dann in deprimierendes, krank machen­des Grübeln verfallen müsste.

Elmar hielt inne, sein Gedankenstrom brach ab. Warum waren gerade jetzt diese nie­derschmetternden Vorstellungen wie eine Springflut aus seinem Seelenabgrund hervorgestürzt? Es konnte doch nicht allein am An­blick des heruntergekommenen Gartens liegen, dass er sich zu solch be­klemmenden Assoziationen über den düsteren Lauf der Welt hatte hinreißen lassen!? Elmar vermutete, die Erzählungen von Holger Jörns seien daran schuld; sie hatten etwas in ihm ausgelöst, hatten Ereignisse aus sei­ner Vergangenheit in ihm hochgewirbelt, die er bislang verdrängt hatte. Das rück­sichtslose, egoistische Verhalten jenes gefährlichen Mädchens, welches das Glück ei­ner Braut zerstörte, konnte er mit seiner Auffassung von Anstand, Redlichkeit und Ehrenhaftigkeit nicht vereinbaren. Gleichzeitig fielen ihm pa­rallel zu diesem schäbi­gen Vorgehen des Mädchens noch andere Schlech­tigkeiten ein, ausgeführt von Men­schen, mit denen er zu tun hatte, jedoch geriet ihm die Erinnerung daran nur vage, im Einzelnen waren ihm diese furchtbaren Erlebnisse entfallen. Nur dass es gewissenlo­se Individuen gege­ben hatte und dass sie auch nach ihm wie mit ausgefahrenen Kral­len gelangt hatten, um ihn zu verletzen - daran erinnerte er sich, das heißt: er stellte sich in diesem Augenblick vor, dass es solche dramatischen Begebenheiten ge­geben haben muss. Denn er hatte ja in seinem Leben mehrmals die Welt aus der Sicht eines Verlierers betrachten müssen. Diese Sicht aber ist grauenhaft; die Welt verwandelt sich in einen düsteren Ort, und die Menschen legen ihre liebenswürdigen Masken ab; dahinter tritt dann grinsend ihre Bosheit und eine erschreckende Verdorbenheit zuta­ge.

Doch rasch beendete Elmar seine unseligen Grübeleien. Er wollte in die Zeit jener Blicke damals, die sich notgedrungen auf das Hässliche, Fatale ge­richtet hatten, nicht mehr zurückkehren. Er wollte jetzt nur noch, auch we­gen der ganzen Ernüchterung, die ihn beim Betrachten des Hauses und des ungepflegten Gartens erfasst hatte, mit dem nächsten Bus nach Waldstädten zurückfahren. Außerdem war er entschlossen, seiner Verab­redung dort nur kurz nachzukommen und anschließend eilig nach Hause, zu Lisi und seinen Kindern, zu fahren.

Doch ob er diesen eher vagen Ent­schluss auch in die Tat umsetzen würde, erschien ihm kurz darauf wieder zweifelhaft. Denn er tat etwas, was diesem Entschluss in ei­ner Weise entgegenarbeitete, dass ihm praktisch schon der Boden entzogen war: El­mar blickte zu den bewaldeten Hügeln der Steinfirst hinauf. ‚Ah’, dachte er, ’der Steinfirstsee! Ja, da liegt er, jenseits der Hügel­kette, verborgen in einem stillen Fich­tenwald - der abergläubisch gefürchtete, von vielen gemiedene und doch von mir einst so geliebte Stein­firstsee!’ - Durfte er ihn dort, in seiner verzauberten Einsamk­eit, für immer ruhen las­sen, diesen Ort der Sehnsucht und der er­regenden Erin­nerungen, durfte er morgen einfach lieblos nach Hause fahren, ohne noch einmal hinzufahren, um den See - vielleicht ein letztes Mal in seinem Leben - zu begrüßen und nachzuschauen, ob sich irgend etwas in seinem Umkreis und an seinen Ufern verändert hatte? Könnte er das fertig bringen?

Ja, könnte er - sagte er zu sich - jedenfalls heute! Es wurde schon langsam dunkel, und jetzt noch zum Steinfirstsee zu gehen, der immerhin 4 km von Enkdorf entfernt lag, war unvernünftig. Morgen hatte er ja auch noch Gele­genheit dazu. Heute wollte er nur noch zurück nach Waldstädten, allerdings mit dem Bus, nicht zu Fuß. So ging er also entschlossen zurück zur Bushal­testelle, wo er erst noch einige Zeit warten musste, und als der Bus schließ­lich eintraf und er bald darauf zurück nach Waldstäd­ten fuhr, überlegte er unterwegs, wie er den nächsten Tag verbringen sollte. Den Plan, sofort nach Hause zurückzufahren, ließ er endgültig fallen. Zunächst wollte er Frau Lam­bertz anrufen und seine Ankunft nicht für den nächsten, sondern für den übernächsten Tag ankündigen. Am nächsten Tag, morgen also, beabsich­tigte er, er­neut nach Enkdorf zu fahren, denn die Aussicht, noch einmal den Steinfirstsee aufzu­suchen, hatte in ihm ein geradezu unbezwingbares Ver­langen ausgelöst, nicht nur den See, sondern auch das Wochenendhaus wiederzusehen, das sein Vater vor langer Zeit am Ufer bauen ließ. Ob die­ses Haus noch stand, das interessierte ihn, das wollte er unbedingt noch herausbekommen.

Im Hotel Krone angekommen, ging er zur Rezeption und verlängerte seinen Aufent­halt um noch eine Nacht. Dann begab er sich auf sein Zimmer, wo er sich rasch noch etwas frisch machte, denn er wollte einigermaßen zivilisiert im Speiseraum des Ho­tels erscheinen und dort ein kurzes Nachtmahl einneh­men. Nachdem er zu Abend ge­gessen hatte, blieb er noch eine Weile am Tisch sitzen und blätterte zerstreut in einer Illu­strierten. Sollte er Jörns’ Rat vielleicht doch befolgen und noch einen Bummel durch die Kleinstadt ma­chen? Mal flüchtig da und dorthin schauen, um zu sehen, was sich geändert hatte? - Nein, entschied er nach kurzem Nachdenken! Er war zu müde, und er hatte keine Lust! Auch den Anruf bei Frau Lambertz verschob er auf mor­gen früh. Also begab er sich auf sein Zimmer und legte sich, erschöpft von der Reise und den Aufregungen des Tages, ins Bett, um einen langen und wie er hoffte: er­quickenden Schlaf zu tun.

Doch jetzt trat das ein, was er insgeheim befürchtete: Er schlief nicht ein, er lag auf seinem Hotelbett, hell­wach und aufgewühlt. Ständig musste er über die Erzählungen des Journalisten Jörns nachdenken, besonders über seine letzten Worte, die sich ihm ins Gedächtnis eingegraben hatten und die nun, wie aus einem inneren Lautsprecher heraus, mit Jörns Stimme auf ihn einre­deten: ‚Die Natur ist unser aller Schicksal.... sie zerstört die beste Ehe...sie zerstört die beste Freundschaft.....!’

Was sollte das alles? Was sollte die merkwürdige, bilder­reiche Beschwörung der Na­tur? Warum - fragte er weiter­ - hatte Jörns ihm überhaupt jene selt­same Geschichte erzählt? Um ihm die Zeit zu verkürzen, während der Fahrt nach Enkdorf? Daran glaubte er nicht mehr! Vielmehr glaubte er, einem hässlichen Gedanken Raum ge­bend, Jörns habe etwas Bestimmtes im Schilde geführt, etwas Gemeines, Tücki­sches. Obwohl Elmar vorher nie et­was von dem betro­genen Mädchen gehört hatte, kam ihm die Geschichte mit einem Male bekannt vor, so als hätte sie eine rätselhafte Be­ziehung zu sei­nem eigenen Leben, und er vermutete schließlich, wobei er an die Bli­cke des Journalisten dachte, wie sie von der Seite forschend auf sein Innerstes ziel­ten, dieser Jörns habe mit seiner Erzählung seine, Elmars, eigene Vergan­genheit im Visier gehabt, wo sich ähnliche Ereignisse zugetragen hatten, wo es auch zu einem Bruch, zu einem Verrat gekommen war. Auf diesen Verrat oder was immer es gewe­sen war - er konnte sich im Augenblick nicht genau erin­nern und er wollte das auch gar nicht - auf ihn hatte der neugie­rige und zugleich unverschämte Journalist ange­spielt, indem er ihm die Geschichte sozusagen als Gleichnis, als tragische Parabel er­zählte!

Doch plötzlich waren sie da, die Erinnerungen, auf die Elmar so gerne ver­zichtet hät­te, Erinnerungen an längst abgeschie­dene Zeiten. Aus den ver­borgensten Winkeln seiner Seele stiegen sie empor, traten heraus aus den schwärzesten Schatten des Un­terbewussten, wo sie lange in tiefer, barm­herziger Vergessenheit geruht hatten, und sie standen jetzt vor ihm, zuerst noch verschwommen, bald aber scharf kontu­riert und klar unterscheidbar - Bilder mit verwirrendem, schlafraubendem Inhalt, und zwi­schen Halbschlaf und dämmrigem Wachsein ständig hin - und her­schwankend, über­legte er verzweifelt, wie er den nicht abreißenden Strom der Erinnerungen, diesen zermürbenden Attacken auf seinen Nachtschlaf ein Ende bereiten könnte. Als er end­lich einschlummerte, suchten ihn grausige Träu­me heim: Wie ein düster beleuchteter Horrorfilm ziehen sie vor den Augen seines träumenden Ichs vorüber, versetzen es in Angst und Schrecken. Er sieht das betrogene Mädchen, von dem Jörns erzählt hat; im weißen Grabgewand, die Haare wirr um den Kopf, schreitet es durch die engen Gassen von Waldstädten, vorbei an den geduckten, fugenlos aneinandergereihten Häu­sern der Altstadt. An einem Haus hält es an, einem größeren, herrschaftliche­n, und ihre starren, toten Au­gen richtet sie jetzt zum oberen Stockwerk hin­auf, wo zwei grell er­leuchtete Fenster kalte, seelenlose Scheinwerfer­blicke in die Nacht hinaus­schicken, als wären es die viereckigen Augen eines Monsters. Dann - ein Szenenwechsel: die unheimliche Gestalt taucht erneut auf, dieses Mal in einem Treppen­haus, und sie klopft an eine Tür, bittet um Einlass, tritt vor eine versammelte Hochzeitgesellschaft und beginnt zu sprechen, zuerst leise, unverständlich; hingemurmelte Sätze fegen die Party­laune der Hochzeitsgäste weg, lächelnde Gesichter erstarren zu Gri­massen. Schließlich lauter werdend, redet sie mit schneidender Stimme, pran­gert ihre beste Freundin an, bezichtigt sie, ihr den Bräutigam weggenommen zu ha­ben, auf schändliche Weise, mit raffinierten Zauber­tricks. ’Sie ist eine von euch!’, stößt sie her­vor, ’und ihr, statt zu feiern, solltet diese kaltherzige Per­son aus euren Reihen verbannen, ihr solltet sie bestrafen! Sie ist eine Mör­derin. Mich hat sie gemordet!’ - Und wieder ein Szenenwechsel: das Mäd­chen um­schleicht das elterliche Haus der Rivalin, mit starrem Blick Ausschau hal­tend nach dem Liebespaar; schließlich ent­deckt sie die beiden in einer Nische, in wildem Kusse vereinigt! ’Was tut ihr da?!’, schreit sie mit krei­schender Stimme und schlägt mit ihrer Tasche auf die Rivalin ein; ’ihr habt kein Recht, so zu han­deln! Dies ist mein Bräutigam. Du hast ihn mir gestoh­len!’ Und als die beiden Verliebten in das Haus flüchten und die Tür hinter sich verschließen, kreischt die Verzweifelte: ’Hilfe, Hilfe, Polizei! Ist denn kei­ner da, der mir hilft?!’ -

In Schweiß gebadet wachte Elmar auf, setzte sich mit gebeugtem Oberkör­per auf die Bettkante, presste seine Hand gegen die erhitzte Stirn. Er war schockiert über den furchtbaren Traum, aber auch erleichtert, dass er sich als Phantom herausgestellt und sogleich auf­gelöst hatte. Da sein Schlaf ohnehin nur leicht und störanfällig war, musste er befürchten, noch ei­nige Zeit, vielleicht Stunden, wach zu liegen und fort­während von peinigenden Gedanken be­drängt zu werden. Wie verwünschte er jetzt den Augenblick, dass er ausgerechnet diesem flüchtigen Bekannten aus seiner Ju­gend be­gegnet war, diesem Journalisten, mit seinem aufdringlichen, neugierigen Be­nehmen. Spürte er doch, wie die­ser Mensch etwas in ihm wachgerüttelt hatte, das sich womöglich nicht mehr so leicht in jene geheimen Seelen­räume zurückbannen ließ, wo es lange Zeit, unerreichbar für das tastende Suchen seiner Erinnerung, ver­borgen blieb.

Er griff also nach einer Schlaftablette, um wenigstens von weiteren bedrü­ckenden Erinnerun­gen unbehelligt zu bleiben, und fand auch bald danach den ersehnten, die­ses Mal traumlosen Schlaf, aus dem er erst gegen 8 Uhr früh halb­wegs erholt auf­wachte.

Da er heute viel vorhatte und auch das Wetter sich wieder, wie gestern Nachmittag, von seiner freundlichen Seite zeigte, beeilte er sich. Rasch frühstückte er im Büffe­traum des Hotels, legte sich dabei die Worte zurecht, die er an Frau Lambertz am Te­lefon richten wollte, die Erklärung also, wa­rum er erst morgen zu ihr käme und dass sie auf den Schlüssel, den er ihr im Auftrag von Klara überbringen sollte, noch einen Tag länger warten müsste. Nachdem er gefrühstückt hatte, ging er wieder auf sein Zimmer und wählte auf seinem Zimmertelefon die Nummer von Frau Lambertz.

„Lambertz!“, tönte es vom anderen Ende der Leitung her.

„Ja, hier Redlich, Elmar Redlich! Guten Tag, Frau Lambertz!“

„Elmar!“, rief Frau Lambert freudig. „O, wie freue ich mich, etwas von dir zu hören! Elmar, nein, so ’was! Ich glaube, 25 Jahre sind das nun her, dass wir zuletzt mitein­ander gesprochen haben, nicht? 25 Jahre! Was für eine lange Zeit! - Übrigens hat mich Klara gestern angerufen und mir.....“

„Ja, deshalb bin ich hier, Frau Lambertz“, unterbrach Elmar die alte Frau, „ich bin nach Waldstädten gekommen, um Ihnen den Haustürschlüssel zu bringen.“

„Was, du bist jetzt schon in Waldstädten? So früh schon? Wir haben doch erst 9 Uhr...“

„Deshalb rufe ich ja an, Frau Lambertz. Ich bin schon seit gestern in Wald­städten und wollte Ihnen.......“

„Seit gestern schon? Und da hast du dich nicht mal gemeldet.“

„Es ist so, Frau Lambertz: Ich habe hier in Waldstädten und auch in Enkdorf einiges zu erledigen. Alte Freunde möchte ich besuchen, deshalb werde ich erst morgen bei Ihnen hereinschauen.“

„Aha!“, tönte es aus der Telefonmuschel, „ja, das verstehe ich natürlich, El­mar, dass du in deinem Heimatdorf alte Freunde besuchen möchtest. Selbstverständlich bist du dann morgen bei uns eingeladen, sagen wir zum Kaffee, ja? - Wenn ich uns sage, El­mar, so meine ich...... Julia und mich. Julia hat ihren Besuch auch verschoben, sie kommt erst morgen Nachmittag, weißt du? Das trifft sich also gut, dass ihr beide am selben Tag hier bei mir ankommt.“

„Ah ja!“, sagte Elmar und konnte ein leichtes Zittern in seiner Stimme nicht unter­drücken.

„Julia kommt übrigens alleine. Sie will mal bei mir richtig ausspannen. Ihr Mann hat in Weiden zu tun, angeblich, weißt du? Aber wenn du mich fragst, wollte er gar nicht mitkommen. Die Ehe zwischen den beiden......., na ja, Klara hat dir ja sicher davon erzählt, nicht?“

„Nein!“, erwiderte er, und seine Erregung steigerte sich.

„So! Na, dann können wir ja morgen darüber....., ich meine, falls Julia noch nicht da ist..... - Ja, ja, Elmar, du kannst dir’ s ja denken, wenn man so viele Kinder hat, dann vervielfachen sich auch die Sorgen.... Na ja, wir können morgen weiter darüber spre­chen, nicht!“

„Gut!“, sagte Elmar und konnte jetzt ein freudig-erregtes Gefühl kaum noch unter­drücken, „dann also bis morgen Nachmittag, Frau Lambertz, sagen wir so gegen halb vier?“

„Ja, eine gute Zeit! Ich erwarte dich also und vielleicht wartet auch schon Julia auf dich, ja?“

„Tschüss, Frau Lambertz!“

„Tschüss, Elmar!“

Er legte auf - und schaute sinnend vor sich hin. Seine Hand fuhr mechanisch an seine Stirn, rieb an ihr eine Weile, dann fuhr er mit ihr in seine Haare und wühlte dort eini­ge Zeit herum. Er war drauf und dran, die Fassung zu verlie­ren, so hatte ihn die An­kündigung von Frau Lambertz erschüttert. Sollten sich seine heimlichen Mutmaßun­gen nun doch nicht als Hirngespinste her­ausstellen, wovon er gestern noch überzeugt war, sollte es also doch eine neue Heimat für ihn geben, und alle vernünftigen Ein­wände gegen dieses Wunschdenken, wie er es gestern noch nannte, sich als Ge­schwätz, als Ma­kulatur herausstellen? Er wollte es nicht glauben, noch nicht, aber es schien aller Voraussicht nach genau auf das hinauszulaufen, was er insgeheim und uneingestanden erhofft hatte, wovor er allerdings nicht wenig Angst ver­spürte, weil sich ja in seinem Leben womöglich eine Umwälzung anbahnte, die einigen Men­schen, vor allem denen, die ihm nahe standen, wenig Freude bereitete, genauer ge­sagt: die ihnen Schrecken und Angst einjagen musste.

Elmar erhob sich mit einem Ruck. Ob alles wirklich so dramatisch ablaufen würde, wie er es sich gerade vorstellte, dessen war er sich noch gar nicht sicher. Bis jetzt konnte er bei all diesen Erwartungen nur auf Andeutungen verweisen. So beschloss er, diese Kapitel, welche noch der unentdeckten, noch nicht ins Leben getretenen Zu­kunft angehörten, nicht weiter zu erör­tern. Zunächst galt es ja, den Plan auszufüh­ren, den er sich für den heutigen Tag zurechtgelegt, und der hieß nicht Besuch ehe­maliger Freunde, wie er Frau Lambertz, nicht ganz bei der Wahrheit bleibend, versi­cherte, sondern einzig und allen hieß das heute: Wanderung zum Steinfirstsee. Damit er keine Zeit verlor, wollte er dieses Mal nicht nach Enkdorf laufen, sondern mit dem Bus hinfahren und anschließend den Weg zu dem vier Kilometer ent­fernten See zu Fuß zurücklegen.

Nachdem er die für die Wanderung nötige Wanderkluft angezogen hatte, verließ er das Hotel und begab sich zum Bahnhof. Der Bus nach Enkdorf – Waldgirmes stand dort bereits, er brauchte nur eine Fahrkarte zu lösen, schon fuhr der Bus los, fuhr zu­nächst durch die Innenstadt von Waldstädten, um kurz danach in die ihm so vertraute Straße nach Enkdorf einzubiegen. Nicht lange dauerte es, und der Mönchswald, jener breite, zwischen Wald­städten und Enkdorf gelegene Waldrücken ließ sein Ausläu­fer, die er am Horizont über eine Anhöhe schob, in prachtvollem herbstlichem Gold auf­scheinen. Da Elmar jetzt auf seiner zweiten Fahrt nach Enkdorf genauer auf diese Einzelheiten achtete, kam es ihm vor, als winkten ihm die ersten Boten seiner Hei­mat einen freundlichen Willkommensgruß entgegen. Er wuss­te, hinter dieser Anhöhe folgte eine steile Talfahrt mitten ins Herz des Mönchs­waldes hin­ein. Die Straße, dicht umsäumt von mächtigen Bu­chen und Eichen, hoch überwölbt vom Blätterdach ihrer Kronen, glich einem Tunnel, der selbst bei strahlender Sonne seine beklemmen­de Düsternis nicht verlor. Nur im Winter, wenn kahle Äste das Tageslicht ungehin­dert durchlie­ßen, erhellte sich vorübergehend die Miene des Waldes.

Am Ende der Talfahrt würde dann wie gehabt der Wald zur linken Seite auf­lockern und den Blick auf jene ausgedehnte Talmulde freigeben, in der El­mars Heimat­dorf lag. Jetzt also, nicht mehr abgelenkt durch das Palavern eines aufdringlichen Beglei­ters, konnte er auf alle diese Besonderheiten, die ihm am Herzen lagen, genauer ach­ten, auf das weiß­angestrichene Haus seiner Eltern zum Beispiel, welches auf der ge­genüberliegenden Seite des Tales sofort ins Auge fiel, daneben ein anderes umfang­reiches Waldgebiet, die schon genann­te Steinfirst. Ungefähr in der Mitte ragte das weiße Haus aus einem Kranz hochgewachsener Ahorne hervor, und blickte kraft sei­ner herausge­hobenen Lage über die tiefer liegenden Häuser von Enkdorf hin­weg.

Als nun der Bus die Stelle passierte, wo der Mönchswald sich zur Linken öffnete, lag das Dorf vor ihm, ausgebreitet zwischen den beiden Waldzügen, und er musste auch jetzt feststellen, nichts hatte sich aus der Ferne besehen geändert, alles sah so aus wie früher, als er noch zur Schule ging. Da kam es ihm wieder wie schon gestern vor, als wohnten sei­ne Eltern immer noch in dem Haus da oben, und sie erwarteten zur Mit­tagszeit seine Rückkehr von der Schule, und er wäre gerade im Begriff, nach Hause zu kommen.

Doch sein Ziel war diesmal nicht sein Elternhaus; das interessierte ihn nicht mehr. Was hatte er noch mit einem Haus zu tun, welches man in eine städtische Behörde mit Büros unten wie oben verwandelt hatte. Nein, nur noch dem Steinfirstsee galt sein Interesse, nur ihn wollte er heute noch ein­mal aufsuchen, ein letztes Mal, so wie er es sich gestern vorgenommen. An die noch in der Zukunft schlummernden Ereig­nissen, die ihm gestern unauf­hörlich durch den Kopf gingen, wollte er dieses Mal keinen Gedanken mehr verschwenden.

Ulrike D.

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