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Der Pfadfinder

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Elmars plötzliche Eile hatte noch einen anderen Grund: heute Abend tagte die Pfad­findergruppe „Paul Gerhard“, und er war eines ihrer eifrig­sten und treuesten Mitglieder. Die Sitzung be­gann dieses Mal ausnahmsweise zur späten Stunde, um 21.00 Uhr, denn das aufregende Ereignis einer Nachtwanderung stand bevor. So mussten noch Vorbereitungen getroffen werden, vor al­lem musste er zu Hause ein kräftiges Abendessen zu sich nehmen, um den Marsch zur mitternächt­lichen Stunde, kreuz und quer durch die Wälder der Umgebung, durchstehen zu können. Sein Vater würde ihn nach dem Essen mit dem Wagen nach Waldstädten fahren und ihn früh­morgens, wenn die Pfadfindertruppe zurückkehrte, auch wieder abholen. Den Nacht­schlaf konnte Elmar dann am Vormittag nachholen, denn morgen war Feiertag. Ob­wohl Achim gerade seine Abneigung gegenüber den „frommen Pfadfindern“ bekun­det hatte, hoffte Elmar, ihn eines Tages doch noch überreden zu können, wie er ein ’Sternbaldpfadfinder’ zu werden. Zur Zeit widmete sich der Freund vor allem seinem Schwimmverein und war dort mit dem gleichen Eifer und Ernst aktiv wie Elmar in seiner Pfadfinderschaft.

Was wusste er eigentlich noch von seiner Pfad­finderzeit? Auf dem Baum­stumpf am Steinfirstsee sitzend, war Elmar vorübergehend wieder in die Ge­genwart zurückge­kehrt. Lohnte es sich überhaupt, diese frühe Episode aus dem Halbdunkel des Ver­gessens hervorzuholen? Wenn er schon erinne­rungsselig die alten Zeiten beschwor, dann doch zuallererst, um sich mit dem Aufregenden, Interes­santen jener Tage zu be­fassen, und als solches bot sich vor allem anderen die Liebe an, die Liebe mit all ih­ren verwirrend vielfältigen Spielarten, denen ein junger Mensch viele Male, dabei im Ex­tremfall alle Empfindungsstufen durchlaufend, ausgeliefert ist; und was ist hier nicht alles möglich: als erstes die flüchtige Liebschaft, auch amouröses Abenteuer genannt, dann, einige Grade stärker: die „Beziehung“ - gleichfalls mehr sinnenrei­zend als seelisch bindend, aber fester, dauerhafter; schließ­lich, wenn die zuständigen Götter es besonders gut meinen: die zarte, mit­unter auch stürmisch verlangende, auf jeden Fall tiefe Zuneigung der glück­lich Liebenden, welche die Seelen - und nicht nur die! - unwiderruflich zu­sammenschließt, wenn nicht zusammenschweißt. Dann noch das etwas an­dere, geradezu Gegensätzliche - gegensätzlich zur erfüllten Liebe der Glück­lichen: die seelenerschütternde, seelenverletzende Leidenschaft der un­glücklich Liebenden; endlich auch - al­lerdings wohl eher in einem späteren jugendli­chen Stadium - eine Art Bindung, welche ihre Festigkeit weniger dem Bedürfnis der Seelen als dem verlangenden Eros, daneben aber auch dem Verantwortungsgefühl, der Gewissenhaf­tigkeit der Liebenden verdankt - dann jedenfalls, wenn die Bezie­hung gewisse Folgen zeitigt - und weiß der Himmel, welche bunte Mischung der Triebe, Empfindungen, Gefühle, Zunei­gungen, Begierden, Entzückungen und Sinnlichkeiten es da noch gibt, auf dass die Liebespaare aneinandergeschmiedet, -ge­kettet, -gefesselt, -ge­knotet, -gebunden, -gefügt oder nur - gefädelt werden.

Von welcher Art Liebe wurde er, Elmar, damals beglückt oder vielleicht auch ’heim­gesucht’? Es wäre doch sicher denk- und erinnerungswürdiger, über dieses Thema nach­zusinnen als auf eine Zeit zurückzublicken, wo er, geschmückt mit Lederhose, grünem Hemd und braunem Halstuch, den Zeltbau, das Feuermachen und das Kno­ten übte oder mit Pfadfinderkameraden in Zeltlagern lebte und abenteuerliche Gelän­despiele bestritt? Und müssten nächst seiner glücklichen oder auch schmerzlichen Begegnungen mit der Liebe nicht zuallererst die Erfahrungen in der Schule er­wähnt werden? Der konfliktreiche Umgang mit den Lehrern, der kameradschaftliche mit den Mitschülern und Freunden, die Nöte der Abiturprü­fungszeit? Und wie steht es mit der späteren Lebensphase des Jünglings, nachdem er die Reifeprüfung erfolg­reich - oder war es nur mit mäßigem Erfolg? - abgelegt, die Zeit, da er sich seiner Begabung, seiner be­ruflichen Bestimmung bewusst werden musste, da er, die Strapa­zen, Anfechtungen und Prüfungen seiner Ausbildungszeit durchstehend, um einen Platz in der Gesellschaft rang, da er schließ­lich, aber in der Reihenfolge nicht unbe­dingt zuletzt und falls die genannten Liebeserlebnisse noch keine Klarheit gebracht, da er eine Frau als Lebenspartner suchte und endlich eine fand?

Doch war die Pfadfinderzeit wirklich so unbedeutend, dass man sie als kindliche Spielepisode einfach beiseite lassen sollte? Als Elmar gerade im Begriffe war, die­sem frühen Lebensabschnitt die Aufschrift ’nebensächlich’ aufzudrücken, spürte er, es könnte gerade in diesem Abschnitt Wichtiges passiert sein, was seiner Le­bensbahn eine gewisse schicksalhafte Wendung gab, und dass mit dieser Weichenstellung auch die Ursache seiner Alpträume zusammenhängen könnte, nach der er ja suchte. Schließlich wollte er nicht in die Vergangenheit zurückkehren, um nur erinnerungs­selig und romantisch auf den verwilderten Pfaden seiner Jugend zu wandeln, sondern in erster Linie ging es ihm um die genannte Ursachenforschung, um die Frage, wo die Störquelle seiner neurotischen Traumgesichte liegen könnte, welche Erlebnisse in welcher Phase seines Lebens, eventuell auch in seiner Pfadfinderphase, am ehesten dazu beitrugen, dass sich in seiner Seele ein Trauma oder ein Konflikt oder ein Ge­fühlsstau gebildet hatte, der später dann ins Unterbewusstsein abgewandert und dort, Störsignale aussendend, hängen geblieben war.

Ganz klar, solche Überlegungen, die er jetzt zum wiederholten Male anstellte, muss­ten dazu führen, dass ihm die Pfadfinderzeit mit einem Male viel bedeutsamer und nachdenkenswerter erschien als noch wenige Minuten zuvor und dass der Gedanke jetzt unabweisbar war, er müsste sein Augenmerk nun doch genauer auf die schein­bar so nebensächliche, scheinbar so gehaltlose, vergessenswürdige Pfadfinderzeit lenken. Das aber konnte nur bedeuten, dass er seinen Erinnerungsfilm, den er eigent­lich bei seinen frühen Liebeserlebnissen anhalten wollte, noch weiter zurückspulen musste, dass er ihn bis in die früheste Zeit seiner Jugend zurückspulen musste, wo es mit der Pfadfinderei einmal angefangen hatte. Er meinte, es müsste irgendwann in sei­nem 14. oder 15. Lebensjahr gewesen sein, und also fing er an weiter und weiter zurückzuspulen, immer weiter spulte er den Film zurück, so lange, bis er die Stelle erreicht hatte, wo er zum ersten Mal mit der Pfadfindersippe ’Paul Gerhard’ in Be­rührung gekommen war.

Schon sieht er sich mit gleichaltrigen Freun­den auf einer Schotterstraße in Waldstäd­ten Fußball spielen, dort, wo seine Familie früher einmal gewohnt hatte, bevor sie sich in Enkdorf niederließ, und wo es ihn immer wieder geradezu magisch hinzog. Etwa sieben Jungen rackerten sich da ab, rannten, sprangen und tobten wie verrückt hinter dem Ball her. Während des Spiels merkte Elmar, wie Karl-Heinz Gerber, einer seiner Spielkamera­den, mehrmals zur Seite ging und scharf nach der Kirchturmuhr spähte. Plötzlich sagte Karl-Heinz, er könne nicht weiter mitspielen; es sei höch­ste Zeit für ihn, zur Pfadfindersitzung zu gehen, die oben auf dem Kirchturm im Tür­merzimmer stattfinde. Elmar machte offenbar in die­sem Augenblick ein interessier­tes Gesicht, denn Karl Heinz lud ihn ein, mitzugehen, sich einmal eine solche „Rast“, wie er die Pfad­finderveranstaltung nannte, anzusehen, und da Elmar keine Lust mehr spürte, auf hartem, stei­nigen Boden Fußball zu spielen, sagte er spontan zu, wohl aus Neugierde, aber auch, weil er seine Heimatstadt gerne wieder ein­mal aus luftiger Höhe betrachten wollte; denn der Kirchturm war immerhin 50 m hoch. Und so gingen die beiden los, Richtung Walpurgiskirche. Dort, am Fuße des Johan­nisturmes, stiegen sie eine steile, überdachte Außentreppe hinauf, bis sie vor einer stark brüchigen Holztür standen. Kurz darauf umgab sie das Halbdunkel des Turmin­neren; nur zwei länglich schmale Bogenfenster im oberen Teil des Turmgebäudes so­wie einige Mauerritzen sorgten dafür, dass sie nicht in völliger Finsternis umhertapp­ten.

„Wenn es draußen dunkel wird“, sagte Karl-Heinz, indem er auf einen Lichtschalter deu­tete, „kann man hier das Licht anknipsen; aber jetzt ist es noch nicht nötig, es ist noch hell genug!“

Nach einem mühevollen Aufstieg auf schmalen, knarrenden Holzstiegen, die, getreu dem quadratischen Aufbau des Turmes, rechtwinklig um die Turmachse führten, er­reichten sie, das gewaltige Gehäuse der Turmuhr passierend, eine zweite Tür; durch sie traten sie wieder ins Freie und gelangten auf einen breiten, ebenfalls quadratisch angelegten Rundgang. An dessen halb hoher, balustradenförmiger Mau­er vorsichtig entlangtastend, denn von ihr aus ging es jäh abwärts in eine schwindeler­regende Tie­fe, genossen sie nach allen Seiten den überwältigenden Blick auf die Stadt. Mit ihren Häusern, Straßenschluchten, Plätzen und Grünanlagen lag sie weit unter ihnen aus­gebreitet, was von oben, aus ungewohntem Blickwinkel, recht merkwürdig und fremdartig, fast wie zusammengeschrumpft wirkte, als läge da zu ihren Füßen gar nicht Waldstädten in leibhaftiger Gestalt, sondern nur ein Mo­dell von ihr, das irgend­ein Bastler in mühse­liger, fleißiger Arbeit naturgetreu nachgebaut hätte. Elmar blieb in einem Winkel der Mauer ste­hen, lehnte sich gegen eine pfeilerartige Verdickung und blickte unentwegt hinunter, beobachtete die an- und abfahrenden, winzig ausse­henden Autos auf dem Marktplatz, die noch kleiner wirkenden Menschen, wie sie ameisenhaft geschäftig hin- und herliefen, wie sie, zu lächerlich schmalen, kurzen Strichen geschrumpft, auf den weiter entfernt liegenden Alleen und Parkwegen bum­melten oder an Teichen, die wie große Pfützen aussahen, auf Parkbänken saßen.

Karl-Heinz, der hinzugetreten war, schaute eben­falls auf das liliputanerhafte Treiben tief unter ihnen hinab.

„Wenn man so von hier oben auf die Stadt guckt“, sagte er, „......es ist wie in unse­rem Pfadfinderlied..., da heißt es: ‚....der raue Weg führt dich auf steile Höh’...“

Karl-Heinz dachte einen Moment nach, dann fuhr er fort:

„Ein Wildbach stürzet unterm Steg, tief unten hallt ein Weh, ist es der Wind, der brausend weht, durch Wipfel dicht und breit, sind’s Menschen, denen’ s wirr ergeht, vor Hass und Bitterkeit?“

„Aber von einem Wildbach hört man nichts“, gab Elmar zu bedenken.

„Na ja, nicht alles stimmt überein, aber man­ches doch. - Übrigens, ich geb’ dir am besten mal den Text unseres Liedes hier, damit du nachher mitsingen kannst. Da, siehst du, hier steht die Strophe!“

Karl-Heinz hatte einen zerknüllten Zettel aus seiner Jackentasche gezogen und ihn Elmar in die Hand gedrückt. Dieser überflog ihn und las noch einmal die Strophe, die Karl-Heinz gerade zi­tiert hatte; dann noch eine andere mit folgenden Versen:

‚Allzeit bereit zur guten Tat,

Vollbringe sie für Gott,

Auf such’ den schmalen, rauen Pfad,

Acht’ nicht auf Hohn und Spott.

Hoch halt’ die Wahrheit, hoch das Recht,

Verzage nie im Leid,

Denn Gott wird helfen seinem Knecht,

Allzeit ist er bereit’.

Die Verse gefielen ihm nicht sonderlich, wohl aber das, was sie aussagten: das mit den guten Taten, mit der Wahrheit und Gerechtigkeit und dass Gott einem dabei hel­fen werde. Ist es nicht etwas Schönes, Edles - dachte er, während er die Strophe noch einmal langsam durchlas - für die Wahrheit und die Gerechtigkeit mit ganzer Person einzustehen, für Ziele, die man nur als groß, bedeutend, menschenwürdig einschät­zen kann? Und was heißt ’ein­stehen’ anderes, als für solche erhabenen Ziele zu kämpfen, zu leiden, not­falls sogar, und dies unterstellte er einfach in einer plötzli­chen Gefühlsauf­wallung, obwohl darüber in der Lied­strophe gar nichts stand, not­falls sogar zu ster­ben? Dass man dabei selbst - folgerte er - nur ein guter, gerechtig­keitsliebender Mensch werden könnte, machte ihm die Sache vollends sym­pathisch!

Während er weiter über den Sinn der Liedstrophe nachdachte und dabei in einem fort auf die unter ihm brausende Kleinstadt schaute, fühlte er sich plötzlich von Kar­l-Heinz Gerber unsanft am Arm ge­packt.

„Los!“, rief er ungeduldig, „wir müssen uns beeilen, die Rast hat schon längst begon­nen.“

Sie gingen jetzt zu einer anderen Tür, welche den Einstieg in den oberen, runden Teil des Johannisturmes markierte, der wie eine Haube auf dem quadratischen Mittel­stück aufsaß, und auf einer dies­mal spiralförmig nach oben führenden Stein­treppe er­reichten sie einen bogenförmigen, überdachten und nur von einer funzeligen Glüh­birne dürftig erhellten Gang und standen bald wieder vor einer Tür, vermutlich dem Eingang zum ehemaligen Türmerzimmer. Karl-Heinz postierte sich davor und nahm eine lauschende Haltung ein. Deutlich vernahm Elmar die Stimme eines Jungen, der offenbar eine An­sprache an eine Versammlung hielt. Ohne anzuklopfen traten beide in einen niedrigen, ca. 15 qm großen Raum ein. In dessen Mitte stand ein langgezo­gener, vierkantiger Holztisch, und im dämmrigen Licht einer Deckenlampe, welche mit langer, kordelartiger Schnur und tellerähnlichem Schirm tief herunterhing, er­kannte Elmar ungefähr 12 jungenhafte Gestalten, die auf rustikalen Hockern um den Tisch saßen und einem älteren Jungen von stattlicher Größe im Alter von etwa 18 bis 19 Jahren gebannt zuhörten. Der Ältere stand, den Eintretenden zugewandt, am Kopfende des Tisches, in der Kluft der Pfadfinder, mit grünem Hemd, gelbbrau­nem, schlips­artig gebundenem Halstuch sowie einer weißen um das Halstuch gewi­ckelten Schnur. Durch das verspätetes Eintreffen der beiden gestört, unterbrach er seinen Vortrag - alle Anwesenden wandten kurz die Köpfe zu ihnen hin, um aber so­gleich wieder nach vorne, zu Wal­ter Harms, zu schauen - so hieß der Ältere, wie El­mar später erfuhr - und Walter begrüßte sie, dabei besonders erwäh­nend, dass O.K.H (gemeint war Karl-Heinz Gerber) ei­nen Gast zu ihnen auf den Turm heraufge­schleppt habe, worüber er seine unverhohlene Freude äu­ßerte.

O.K.H - Was wohl diese Abkürzung bedeutete? Er wollte Karl-Heinz Gerber gleich fragen, auch danach, warum die meisten Jungen statt des gelbbraunen ein blaues Halstuch auf der Pfadfinderkluft trugen. Nachdem sie sich zu den übrigen Jungen ge­setzt hatten, fuhr Walter Harms mit sei­nem Vortrag fort.

„Was bedeuten diese Halstücher alle?“, fragte Elmar seinen Spielkameraden Kar­l-Heinz im Flüsterton. Der hatte sich inzwischen auch ein Halstuch umgebunden, ein gelbbraunes mit grüner Kordel.

„Blau, das sind die Knappen“, flüsterte Karl-Heinz zurück, „braun mit grün-weißer Kordel: die provisorischen Unterführer, grüne Kordel: die Unterführer, weißes Kor­del: Sippenführer!“

„Aha! - Und was heißt O.K.H.?

„Oberhessen-Karl-Heinz“! Es gibt noch einen „K. H.“ in Frankfurt. Um mich von dem zu unterscheiden, nennt mich der E.F. immer O.K.H.“

E.F.? Aha! Was das nun wieder heißt, wollte er den Oberhessen-Karl-Heinz nicht auch noch fragen, denn Walter Harms, offenbar gestört durch ihr Flüstergespräch, hatte schon einmal, die Stirn runzelnd, zu ihnen herübergesehen. Also stellte Elmar seine Neugierde zurück und versuchte sich auf den Vortrag des Sippenführers zu konzentrieren. Doch Walters Worte rauschten zunächst an seinem Ohr vorbei. Ver­wirrt durch die auf ihn einstürzenden, neuartigen Eindrücke, durch die seltsame Um­gebung, die buntfarbig geklei­deten Gestalten zu seiner Seite und gegenüber von ihm, brauchte er einige Minuten, um sich an das Kuriose und doch zugleich Anziehen­de dieser Runde zu gewöhnen, und er brauchte auch Zeit, um den Ausführungen des Redners folgen zu können, die von ihm unbe­kannten Dingen handelten, von Zusam­menhängen, welche er zunächst noch nicht begriff. Nach weni­gen Minuten je­doch hatte er sich gefangen, achtete jetzt konzentrierter auf das, was Sippen­führer Harms gerade in knappen Ausführungen umschrieb: den Werdegang eines Pfadfin­ders, die Prüfungen, die er abzulegen habe auf seinem Weg hin zum Unterführer, Prüfungen allerdings, wie Walter versicherte, die nicht allzu schwer seien. Dann war die Rede von einem Ausbildungslager; jeder Knappe müsse eines besuchen, und nachdem er mit Erfolg die Prüfungen bestanden habe, werde er an ei­nem bestimmten Tag - Elmar glaubte, es war der Himmelsfahrtstag - in einer grandiosen Zeremonie zusammen mit allen Knappen der übrigen Sippen zum Pfadfinder ernannt.

Walter Harms kam nun auf die Zeltlager und Ferienfreizeiten zu sprechen, und hier wurde seine Rede ausführlicher und ausdrucksstärker, denn er konnte jetzt Erlebnisse an den Mann bringen, die ihn selbst ergriffen hatten. Walter schilderte sie in einer Weise lebendig, eindringlich, dass man meinen könnte, der Erzähler sei in Wahrheit ein talentierter Maler, einer mit ganz seltenen Fähigkeiten, der statt mit Pinsel und Palette mittels seiner Sprach­kraft ganze Serien suggestiver Bilder vor das geistige Auge seiner Zuhörer zauberte, und je länger Elmar zuhörte, desto mehr wurde er von diesen er­zählten Bildern gefangengenommen. Es war, als öffnete sich vor ihm lang­sam eine Tür oder ein Vorhang werde hochgezogen und vor ihm erscheine eine neu­artige, glänzend helle Welt, vergleichbar einer wunderschönen Kulisse auf einer Theaterbühne, welche dem Auge des Zuschauers die erlesensten Landschaften bietet: stille Fluren und goldgelb wogende Felder, hinter ihnen hohe oder halbhohe Waldhü­gel und noch weiter hinten ge­waltig und steil aufragende, mitunter wild zerklüftete Gebirge, und auf verwegenen Felspfaden marschierte eine buntgekleidete Schar von Pfadfindern hohen, unbekannten Zielen entgegen. Zwischen den Hügeln und Bergen dann tief einge­schnittene Täler, die wie Fenster Ausblicke in noch fernere, vielgestal­tigere Landschaften gewährten, alles Bilder von praller Leuchtkraft - Elmar kam es vor, als strahlten sie derart in den abgedunkelten Zuschauerraum, das heißt also in das kleine, spärlich erhellte Turmzimmer, dass sie den Raum mit ihrem Licht voll­kommen durchfluteten, vielleicht auch strahlten sie nur auf ihn, der, Walters Erzäh­lungen hingebungsvoll lauschend, von all diesen freundlichen Vorstellungen erfüllt war.

Was waren das nun für Bilder im Einzelnen, die Walter Harms mit dieser seltenen Ausdruckskraft in Elmars Vorstellung erstehen ließ? Buntfarbige Bilder waren das vom spannenden Leben der Pfadfinder, von einer Welt der Abenteuer, der Mut­proben und der verlässlichen Kameradschaft, daneben auch des streng geregelten und doch zugleich ausgelassenen Treibens der Ferien­freizeiten. Vom abwechslungsreichen Verlauf der Zeltlagerzeit erzählte Walter oder vom Ernst der pfadfinderischen Aus­bildungslehrgänge, auch vom Ernst der täglichen Bibelarbeit - in einer Weise stellte er das lebendig und begeistert dar, dass die eigene Ergriffenheit, die er zusätzlich durch emotionale Gesten ausdrückte, sich unweigerlich auf die Jungen im Türmer­zimmer, zumindest auf Elmar übertrug. Als dieser noch von tollen Wald- und Gelän­despielen hörte, von abenteuerlichen Nachtmärschen, leidenschaftlichen Speerkämp­fen, seltsamen Kampfspielen, die Walter ’Flussgefechte’ nannte, oder von Fahrten in die heimat­liche Bergwelt oder zu den Seen und Burgen im Lande, beschloss er, die­ser Pfadfinder­truppe, koste es, was es wolle, sofort, das heißt am Ende der heutigen Sitzung, beizu­treten.

Ganz besonders schwärmte Walter von einem Ferien­lager, das er offenbar unzählige Male besucht hatte und dem seine ganze Zuneigung galt. Man konnte das wieder an seiner mitreißenden Vortragsweise erkennen, an den kraftvollen Worten und beson­ders phantasiereichen Schilderungen, mit denen er dieses Lager, das ’Haus Stern­bald’ genannt werde, porträtierte.

„Warum ’Haus Sternbald’? - werdet ihr sicher fragen!“ Walter blickte nacheinander einige der vorne sitzenden Pfadfinder an. Da keiner der Jungen eine Antwort wusste, gab er die Antwort gleich selbst: „Nun, unser Erstführer hat dem Lager diesen Na­men gegeben. Er ist Lehrer und schwärmt für einen Roman mit dem Titel „Franz Sternbalds Wanderungen“; geschrieben hat ihn ein Schriftsteller der Romantik. Franz Sternbald strebt nach den hohen Zielen der Kunst, sein Herz begeistert sich für das Edle und Schöne, und er verabscheut jeden Ehrgeiz, der sich nur auf das Materielle bezieht, auf Geld, Reichtum, Ehre, Ruhm. Genauso geht es auch uns Pfadfindern. Materieller Wohlstand als einziges Lebensziel ist uns ein Gräuel. Wir streben nach dem rauen Pfad, der zu Gott führt. Dabei leuchtet uns der Stern Jesu Christi voran. Dass dieser Stern nun immer kräftiger in die dunkle Welt hineinleuchte, dafür setzen wir uns ein; und dass Jesus selbst ’bald’ wieder auf diese Welt zurückkomme ...“ - Walter betonte dieses ’bald’ mit besonderem Nachdruck - „...danach sehnen wir uns. Deshalb also der Name ’Stern - bald’! Stern komme bald! Eigentlich gehört unsere Sippe ’Paul Gerhard’ ja zu dem großen ’Pfadfinderbund Albert Schweitzer’, aber oft werden wir auch einfach die ’Sternbaldpfadfinder’ genannt, eben weil unser erstes und wichtigstes Ausbildungs­lager, das alle Pfadfinder im ’Bund Albert Schweitzer’ mindestens einmal besuchen müssen, ’Haus Sternbald’ heißt.“

Haus ’Sternbald’! Elmar wurde von diesem seltsamen Namen eigenartig be­rührt. Er erschien ihm fremdartig, geradezu entrückt, ’sternen-entrückt! Je­denfalls ergab die Zusammensetzung keinen realen Sinn, sie zeugte eher vom Stammeln eines Klein­kindes, das vielleicht ’Stern, komme bald!’ sagen will, jedoch nur ein ’Stern.... bald!’ herausbringt. Auch der Ort, die Umge­bung des Lagers, alles schien ihm, bedingt durch die phantasievolle Er­zählweise des Sippenführers, mit der Aura des Mystischen be­haftet, als wäre man dort nicht in einem nor­malen Jugendlager zu Gast, sondern in einem aus der Alltäglichkeit ausgegrenzten Bezirk eines Ordens.

Haus ’Sternbald’ liege mitten im Wald auf einer ausgedehnten Lichtung, fuhr Walter Harms mit seiner Schilderung fort; es bestehe aus einem Zentralge­bäude und einigen Nebengebäuden sowie mehreren großen Hauszelten. Daran schließe sich eine gewal­tige Wiese mit einem breiten Graben an, auf welcher Fußball oder Handball gespielt und pfadfinderische Übungen, wie Zeltbau, Feuer machen, Kartenlesen und Pflan­zenbestimmung, abgehalten werden. Vor allem aber werde dort der Einzel- und der Massenspeerkampf, ein in Haus Sternbald erfundenes Speerspiel, ausgetragen. Nach der einen Seite des Lagers sei der Wald nicht so dicht; die Bäume stünden hier aufge­lockerter, der Himmel und freies Feld schimmerten kräftiger und heller vom Wald­rand her durch, der keine 300 Meter entfernt liege. An dieser Seite führe ein breiter Weg am Lager­gelände vorbei. Von ihm könne man aber nicht ins In­nere blicken, denn ein hoher, dicht be­wachsener Zaun schließe das Lager hermetisch ab. Immer wenn er auf diesen undurchdringlichen Zaun blicke, sagte Walter, habe er das eigen­artige Ge­fühl, vor einer anderen Welt zu ste­hen.

„Und in der Tat, es ist eine andere Welt!“ rief er aus, seine Worte gefühlvoll, fast pa­thetisch betonend, „es ist eine Welt, frei von dem ganzen Alltagsfrust, frei von Spieß­bürgerei und engherzigem Denken, frei auch von all dem Philister­gehabe derjenigen, die nur hinter dem Geld herjagen und sich allein von materiellen Erfolgen beeindru­cken lassen, frei also von allem, was uns täglich auf die Nerven geht! Es ist eine fröhliche Welt - die aber auch den Ernst der Bibelandachten und der Bi­belarbeit kennt; kurz: eine Welt, in der nur noch die Gesetze unseres Pfadfinderbundes gelten, und - last not least - warten auf euch ganz tolle Wald- und Geländespiele. Die Wälder der Umgebung rufen! Rings um das Lager deh­nen sie sich gewaltig aus, laden ein zum Umherstreifen, zum Schleichen durch die Büsche, zum Auflauern, Nachstellen und Verfolgt werden!“

Walter legte eine kurze Pause ein; offenbar wollte er erst einmal prüfen, wie seine Worte bei den Jungen ankamen, dann fuhr er fort: „Die Abschließung am Zaun ist nicht über­all gleich dicht. Man erwischt schon mal einen Durchblick dort, wo die Zweige der Buchenhecke eine kleine Lücke frei lassen. Vorne, am Ein­gang, ist so eine Stelle, für Eingeweihte leicht zu finden. Wenn man hindurchspäht, kann man sich einen ersten Eindruck vom farbenfrohen Bild des Lagers verschaffen: In der Ferne ragen die spitzen Giebel der Hauszelte in den Himmel, die gezackten Wimpel der Rundzelte flattern um die Wette, die Zeltplanen leuchten in allen Farben, in weiß, grau, blau, grün, und alles schaut keck und lustig hinter den sauber geschnit­tenen Li­gusterhecken hervor, die den Appellplatz umhegen. Links schiebt sich der obere Teil des Zentralgebäudes ins Blick­feld. Es sieht aus wie eine herrschaftliche Villa aus al­ter Zeit, mit seinen von dichten, dunkelgrünen Weinranken fast vollständig überzo­genen Wänden. Rechts von den Ligusterhecken, die das Lager in zwei Hälften teilen, breitet sich die große Wiese aus, man sieht deutlich den Graben in der Mitte, der oft als Grenze für die Flussgefechte dient. Am Rande des riesigen Ge­ländes ballt sich dichtes Buschwerk zusammen, es markiert den Übergang zu den Wäldern der Umge­bung, die wie eine dunkle Wand im Hintergrund auf­ragen, drohend aufragen, möchte man beinah sa­gen, als wäre dort ein unsicherer, gefähr­licher Ort und das Lager wäre ein Bollwerk inmitten einer Umgebung voll Tücke und Feindschaft! Aber natürlich ist das Gegenteil der Fall! Diese Wälder mit ihren Hügeln, Tälern und Schluchten, ihrem verzweig­ten Wegenetz und ihren geheimen Pfaden sind in Wahrheit ein Para­dies, ideal geschaffen für uns, damit sich unsere Spielleidenschaft nach allen Rich­tungen aus­toben kann.“

Es hatte natürlich einen Sinn, dass Walter die­ses „Eldorado der Spielleidenschaft“ zum zwei­ten Male hervorhob. Denn die Waldspiele - das wusste er genau - waren für die Jungen bei weitem das Reizvollste, weil Abenteuerlichste an dem Ferienlager, und der Sippenführer stand so­gar nicht an, sie kurz darauf noch ein drittes Mal in den Mittelpunkt seiner Erzählungen zu stellen, seiner Erinnerungen an erlebte Lagertage, und zwar, wie sich zeigen wird, so eingehend und detailliert, dass er die Jungenher­zen, auf jeden Fall das Elmars, in Aufregung versetzte.

Inzwischen blätterte Walter in seinem Ma­nuskript, das er sich für seinen Vortrag zu­rechtgelegt hatte, besann sich einige Augenblicke und setzte seinen Vortrag fort:

„Ich stand also“, sagte er, „bei unserer Ankunft im Lager unmittelbar vor dem Zaun - es war im Juli letz­ten Jahres. Ich stand da, spähte ins Lager hinein, betrachtete die Zelte und das ganze Gelände, die freie Stelle machte es ja möglich. Nachdem ich al­les wahrgenommen hatte, was ich schon kannte, was mich aber immer wieder von neuem reizte, mir von dieser Stelle aus diesen ersten Eindruck zu verschaffen, ging ich zurück zu den anderen, die bereits vor dem Lagertor ungeduldig warteten. Hinter dem Torgitter sieht man einen breiten, von Berberitzenhecken eingefassten Gang, der am äußeren Ende eine scharfe Linkskurve beschreibt und sich unseren Augen dann entzieht. Noch einmal wurde ge­schellt, und bald kam jemand um die Ecke, eiligen Schrittes: es war Heinz Wagenbach, ein älterer Pfadfinderführer, gleichzeitig der für unseren Stamm VI zuständige Stammesführer. Er ist gewissermaßen die rechte Hand vom Chef. Ihn müsst ihr euch merken, denn er ist für die Sippe Paul Gerhard zustän­dig. Er trägt das schwarze Halstuch des Stammesführers und ist an seiner hohen, stattlichen Gestalt, an dem schwarzen, straff nach hinten gekämmten Haar und einer energischen Sprechweise zu erkennen.“

„Übrigens“, Walter hielt kurz inne, und indem er sich durch die Haare fuhr, machte er ein nach­denkliches Gesicht; dann sprach er, etwas stockend, weiter:

„Auch Frau Wagenbach werdet ihr wahrscheinlich im Lager antreffen. Sie ist - lei­der, muss ich sagen - auch sofort zu erken­nen, und zwar an einem - äh, wie soll ich sa­gen - an einem äußeren Makel, einer Missbildung: Sie hat ein entstelltes Gesicht, schiefen Mund... und so.. - Nun, ich sage euch das, damit ihr nicht so hinglotzt oder dumme Sprüche macht, wenn ihr sie mal trefft, und das wird wahrscheinlich ziem­lich oft der Fall sein.“

Ein Junge, vorne am Tischende neben dem Sippen­führer sitzend, nutzte eine Kunst­pause des Red­ners und richtete leise einige Worte an ihn. Elmar konnte allerdings ziemlich deutlich hören, wie der Junge, der Frau Wagenbach offenbar bereits kennen gelernt hatte, Näheres über deren unglückliche Entstellung erfahren wollte, ob ein Verkehrsunfall oder irgendein anderes Ver­hängnis, eine verheerende Krankheit viel­leicht, die Ursache wäre.

Walter Harms beugte sich, um den Jungen besser zu verstehen, zu ihm herunter; et­was unwillig runzelte er die Stirn und sagte dann, ebenfalls mit leiser, aber barsch klingender Stimme: „Meines Wissens hat sie das von Geburt an. Genaueres weiß ich nicht, spielt für uns auch keine Rolle!“

Darauf sich wieder aufrichtend und einige Momente zerfahren nach Wor­ten suchend, fuhr er mit seiner Erzählung fort:

„Herr Wagenbach öffnete also das Tor und. be­grüßte uns mit seiner energischen Stimme, lachte herzlich, und wir traten in das Lager ein. Der E.F. sei noch nicht da; erst beim Abend­appell, sagte Herr Wagenbach, werde er zur Be­grüßung erscheinen. Nachdem man uns unsere Schlafstellen in einem der Zelte zugewiesen hatte, hieß es: „Antreten zum Appell!“ Sämtliche Jungen traten nun im Karree auf dem Appellplatz an, und bald erschien auch der E.F., das heißt unser Erstführer, Paul Bildner, in sei­ner gewohnten Kluft: weiße Jacke, Reithosen und Stiefel; er ist bereits etwas korpu­lent, hat einen kleinen Bauch, die Haare sind schon gelichtet, aber die gei­stige Ver­fassung zeugt von ewiger Jugend. Er hat Witz und Humor, er trifft immer den richtig­en Ton, um uns Jungen zu begeistern.“

Walter machte wieder eine kleine Pause, räusperte sich, dann fuhr er fort:

„Nun folgte die von allen erwartete humorige Begrüßungsansprache des EF. Na ja, ich kann sie hier schlecht wiedergeben. Dafür fehlt mir die Rednergabe und auch der Witz des Erstführers. Aber so eine Ansprache wird euch ja auf alle Fälle nicht entge­hen. Ihr werdet sie garantiert noch erleben, wenn ihr erst einmal nach ’Haus Stern­bald’ kommt.“

Der Sippenführer unterbrach erneut seinen Vor­trag, schaute auf die Uhr, sagte dann, er müs­se gleich die Runde hier verlassen, da ihn andere Pflichten zur Zeit in An­spruch nähmen, welche, ließ er zunächst offen. Sein Stellvertreter Gerhard Nebel werde die „Rast“ weiter führen, fügte er noch hinzu. Walter deutete dabei auf einen Jungen, der zu seiner Rechten saß, offensichtlich ein Unterführer, denn er trug eine grüne Kordel um sein braunes Halstuch. Dieser, indem er angesprochen wurde, setz­te sogleich eine übertrieben wich­tige Miene auf, verzog seinen Mund zu einem dün­nen Strich, klappte die Augenlider mehrmals auf und nieder und ließ sodann blitz­schnell die Augen im Kreise kullern, was wohl heißen sollte, dass er die Ehre der übertragenen Auf­gabe zu schätzen wusste.

Zuvor aber - Walter hatte sich wieder den Jungen zu­gewandt - wolle er noch kurz den Ablauf eines Lagertages schildern, vor allem wolle er von einem Waldspiel er­zählen, das ihm noch frisch in Erinnerung sei; auch davon, wie es organisiert werde, welche Regeln, Tricks und Schliche man kennen müsse und was bei den Speerkämp­fen oder Flussgefechten zu beachten sei, die jeweils den Höhe- und Schlusspunkt der Spiele bildeten.

„Was sind eigentlich Flussgefechte?“ fragte plötzlich einer, der offenbar zu den Neu­en, noch nicht Eingeweihten zählte, ein Knappe mit blauem Halstuch, und Sippen­führer Walter blieb die Antwort nicht schuldig:

„Flussgefechte sind Speerspiele in Gruppen, sie werden zu beiden Seiten eines Fluss­grabens ausgetragen. Ideal hierfür ist die große Wiese des Lagers. Der breite Graben stellt den ’Fluss’ dar, die kämpfenden Parteien stehen dann diesseits und jenseits des ’Flusses’. Aber auch während des Geländespiels, wenn die beiden Parteien aufeinan­derprallen, werden oft Flussgefechte ausgetragen. Jeder Spielteilnehmer bekommt zu Beginn des Spiels einen Speer, der vorne gepolstert ist, und man versucht, sobald der Kampf beginnt, den Gegner unterhalb des Knies zu tref­fen. Die Schiedsrichter beob­achten die Kämpfe und entscheiden, wer ausscheiden muss. Das Ganze macht natür­lich Riesenspaß und ist völlig unge­fährlich. Ein zu hoch angesetzter Wurf kann we­gen der Polsterung des Speers keine Verletzungen hervorrufen.“

„Und wenn der Speer ins Gesicht trifft?“, wollte der Knappe noch wissen.

„Das ist noch nie passiert! Die Schiedsrichter achten scharf darauf, dass die Speere immer von oben nach unten geworfen werden. Genauso werden auch alle vorher in­struiert: ja nicht waagrecht zielen oder gar nach oben, Richtung Kopf! Die Jungen halten sich daran; bei uns Pfadfindern will ja keiner den anderen verletzen! Wer trotzdem den Speer zu hoch ansetzt, scheidet sofort aus. Ein schriller Pfiff des Schiedsrichters, und der Junge muss sich in die Büsche schlagen.“

Der Fragesteller, ungefähr 15 Jahre alt, mit Pausbacken und Sommersprossen, nickte zufrieden, und Walter konnte seinen Vor­trag fortsetzen. Zunächst informierte er seine Zuhörer, wie angekündigt, über den Ablauf eines La­gertages, und zwar minuziös, von der Frühfanfare, die, von einem Jungen um sechs Uhr geblasen, das Lagerleben in Gang setze, über den morgendlichen Appell mit gleichzeitiger Verkündung der Ta­geslosung, über Frühstück, Bibel­stunde, Spielstunde bis zum Mittagessen, sodann folgt die Stille Freizeit, dann das Vesper mit anschließendem Wan­dern oder Spielen am Nachmittag, gefolgt vom Abendessen, schließlich die Vorlese- oder Erzähl­stunde, wo jeder talentierte Erzähler eine vorbereitete Geschichte mit möglichst viel Span­nung vortra­gen dürfe, gefolgt schließlich von der Abend­andacht bis hin zum Spätap­pell, der mit klassischer Musik, meistens mit Grieg- oder Händelmusik den Lagertag beschließe, während die Spätfanfare um 22 Uhr die beginnende Nachtruhe ankündi­ge.

„Es ist jedes Mal ein unvergessliches Erlebnis, sage ich euch“, fuhr Walter mit seiner Schilderung fort, „wenn man am späten Abend mitten zwischen den anderen Pfadfin­dern im Karree steht und die Abendmusik erklingt. Vor den angetretenen Pfadfindern stehen zwei Unterführer, jeder trägt eine Fa­ckel in der Hand und leuchtet in die Dun­kelheit hinein. Eine Fanfare ertönt, dann stellt der EF einen Plattenspieler an und der wunderbare Marsch aus Edward Griegs Sigurd Jorsalfar rauscht mächtig aus den Lautsprechern her­vor, ergreift jedes Pfadfinderherz und schwingt in die Nacht hin­aus, wo die Musik schließlich, nach vielen Fanfaren, Trommelwirbeln und Pauken­schlägen, allmählich verklingt. Ihr werdet es dann selbst spüren, wenn ihr In Haus Sternbald abends im Fackelschein diesem Ausklang eines Lagertages bei­wohnt, ihr werdet dieses Gefühl einer verschworenen Gemeinschaft spüren, das da aufkommt, das einem durch den gewaltigen Sigurd-Josalfar-Marsch und überhaupt durch die ganze feierliche Inszenierung vermittelt wird, ein Gefühl der nie endenden Kamerad­schaft und der Ergebenheit gegenüber Gott; vorausgesetzt natürlich, man ist mit Leib und Seele Sternbald-Pfadfin­der, man hat sich ein für allemal mit seinem ganzen Her­zen der Pfadfinder­sache verschrieben!“

Nach dieser gefühlvollen Einlage ließ Walter Harms eine Pause folgen, in der er ver­mutlich seiner eigene Ergriffenheit erst einmal Herr werden wollte, vielleicht aber auch hatte er ganz anderes im Sinne, denn seine Augen schienen aufmerksam in die Runde seiner Zuhörer zu blicken, als wollte er dort, bei den Jungen, die Wirkung sei­ner schwärmerischen Schilderungen beobachten. Dann wandte er sich wieder seinem Zettel zu, in dem er die Abläufe der Lagertage aufgeschrieben hatte: Geländespiele, sagte er, jetzt wieder im sachlichen Ton an seine Beschreibungen anknüpfend, fänden ungefähr alle vier Tage statt, meistens am frühen Nachmittag, seltener am Vor­mittag; der werde mehr zu kleineren Spielen auf der großen Wiese, auch zu Ballspie­len oder Einzelspeerkämpfen genutzt. Natürlich fänden am Vormittag auch die Pfad­finderübungen und die Bibelarbeit statt. Der Nachmittag stehe, wenn es regne oder zu kalt sei oder wenn sich allgemeine Müdigkeit einstelle, auch zur freien Verfü­gung, manchmal würden hier auch gemein­same Wanderungen in die Umgebung des Ferienlagers unternommen.

Walter hatte diesen eher trockenen Teil seines Vortrages mehr im Stile der Aufzäh­lung und nüch­ternen, spröden Tones referiert. Danach ging er, wie schon bei der Schilderung des gefühlvollen, mit Griegmusik untermalten Lagerausklangs, erneut zu der von ihm gewohnten packenden Er­zählweise über, die Elmar zuvor so gewaltig er­griffen hatte. Kein Wunder, war er doch zu ei­nem ergiebigeren Thema überge­wechselt, zu den Geländespielen, und hier gab es für ihn keine Notwendigkeit mehr, Punkt für Punkt trockene Fakten aufzuzählen, die Ereignisse abstrakt darzustellen, wie sie sich üblicherweise in einem Lager zutragen; hier konnte er den Jungen jetzt das rauschhafte Gefühl des selbsterlebten Waldspiels vermitteln, und das tat er wieder in der ihm eigenen Art, das Spiel in all seinen dramatischen Verläufen wie ein farbiges Gemälde vor den Pfadfindern hinzuzaubern.

Es sei das letzte Geländespiel gewesen, das er in Haus Sternbald miterlebt habe - so begann er, die Stimme auf den bereits bekannten helleren Be­geisterungston he­bend, mit temperamentvollerer Gestik, ausdruckstärkerer Mimik, erneut einsetzendem Au­genleuchten und Augenrollen, womit er die innere Anteilnahme verriet, die be­glückende Erinnerung an etwas, was sich ihm unauslöschlich eingeprägt hatte. Ein Waldspiel sei das gewesen, eine sogenannte Signaljagd. Das Ganze habe so begon­nen: Eine Gruppe von 30 Jungen, die Räubergruppe, sei etwa 10-15 Minuten vor der zweiten, der Verfolgergruppe oder auch Gen­darmen, gestartet, ausgerüstet mit einer Trompete, auf der ungefähr nach 8 Minuten und danach alle weitere fünf Mi­nuten ein Signal ge­blasen werden musste. Er, Walter, sei der An­führer der Gendarmen ge­wesen, einer Meute von gleichfalls 30 Jungen, und sie hätten sich nach Ablauf der Viertelstunde mit Eifer den Räubern an die Fersen ge­heftet, zunächst auf geraden Wegen, dann durch Gebüsch und Fichtenscho­nungen streifend, immer dem alle 5 Minuten ertönenden Trompetensignal nach. Doch dieses, obwohl fröhlich über den nahen und fernen Waldhügeln schwe­bend, habe auch zu mancher Verwirrung bei ih­nen geführt, da seine Echos den Schall nicht selten von mehreren Seiten herantrugen und die Räuber, dies zu ihrem Vorteil nutzend, gleich meh­rere Trompetenstöße hin­tereinander abgaben, so dass man das Echo kaum noch vom ur­sprünglichen Schall unterscheiden konnte. Mitunter sei das Signal nur schwach von ferne zu hören gewe­sen, so schwach, dass sie befürchten mussten, in die falsche Richtung zu laufen. Doch dann sei es wieder näher gekommen, näher und näher habe es herangeschallt, und sie wären schon freudig auf die schrill tö­nende Geräuschquelle zugestürzt, voller Erwar­tung, der frechen Räuber­gruppe sogleich ansich­tig zu werden und sie zum Kampfe zu stellen. Doch leider sei das ein Irrtum gewesen; denn wieder habe sie das Echo ge­narrt, während der originale Trompetenstoß aus einer ganz anderen Richtung he­rangetragen wurde.

Walter hielt mit seiner Erzählung inne, blickte triumphierend in die Runde, was an­gesichts des denkbaren Misserfolges der von ihm geführten Truppe etwas seltsam anmutete, dann fuhr er mit erhobener Stimme fort: Man müsse aufpassen, dass man bei solch einem Spiel nicht den Anschluss verliere; außerdem könne man sich in den Wäldern des Ferienlagers ganz schön „verfranzen“ und irgendwo in Posemuckel her­auskommen, meilenweit vom Lager ent­fernt. Deshalb habe er, um das Malheur abzuwen­den, in die Trickkiste gegriffen: Sie seien ge­rade auf einem größeren Wald­hügel angelangt, der auf der einen Seite, von Bäumen teilweise entblößt, prächtige Ausblicke auf die nahen und fernen Waldrücken bot, auf teils flache, teils tief einge­schnittene Täler, auf Fluren, Dörfer und Meiereien in der Ferne. Da habe er aus sei­ner Umhängetasche ein Fernglas hervorgezaubert und, was eigentlich nach den Spielregeln nicht erlaubt sei, über die Wälder, durch die Lücken der Bäume, nach freiliegenden Waldwegen, nach einer Waldwiese oder einem Waldsaum gespäht, um auf diese Weise die Jagd in die richtige Richtung zu leiten und seiner Truppe schließ­lich doch noch die Blamage des Scheiterns zu ersparen. Doch nirgends sei ein Pulk von Jungen aufgetaucht, nirgends ein dahin schleichender Vortrupp oder die Nachhut ins Blickfeld geraten, sei es an einem Waldrand oder auf irgendeinem kahlgeschlage­nen Hang oder einem freilie­genden Stück eines Waldweges. Nichts weiter als Wald habe er gesehen, Wald und noch einmal Wald, teilweise flach ausgedehnt, teilweise hügelig ansteigend. Nur in der Ferne, wo riesige Felder und Wiesen an den Wald grenzten, wo am Horizont die Silhouette der Großstadt im Nachmittagsdunst schat­tenhaft aufstieg und zahlreiche Straßen und Wege durch die Ebene liefen, habe er et­was Merkwürdiges entdeckt, und zwar auf einem Gelände nahe einer Hauptstraße, vielleicht einen halben Kilometer vom Waldrand entfernt. Das sei auch eine Art Pulk gewesen, aber von anderer Art: Fahrzeuge nämlich, Panzer seien dort; kreuz und quer durch das Gelände gerollt, hätten die Geschütztürme nach allen Seiten drohend geschwenkt und dicke braune Spurrillen hinter sich hergezogen. Er, Walter, habe sich dem fernen Kampfgeschehen, das natürlich nur simuliert war, nicht entziehen kön­nen und einige Augenblicke das Fernglas d­raufgehalten. Eine Gruppe der Fahrzeuge habe sich plötzlich in der Nähe der Hauptstraße ge­sammelt, um kurz darauf im Gän­semarsch auf ihr entlang zu fahren, und da die Straße eine Biegung machte, habe es bald ausgesehen, als wäre die furchterregende Streitmacht auf den Wald zugekom­men, als hätten die Kolosse sie, die hoch oben auf dem Waldhügel gewissermaßen auf Beobachtungsposten standen, ins Visier genommen und würden bald, aus allen Rohren schießend, mit Getöse und schrillem Kettengerassel in den Wald hinein- und zu ihnen herauf­tanken. Doch von der Straße sei eine kleine, von Bäumen umsäumte Allee abgezweigt, in welche die fernen Ungetüme, eines nach dem anderen, abbo­gen, um kurz darauf, parallel zum Wald und schwerfällig sich fortbewegend, dahin­zufahren, wobei es alle Augenblicke zwischen den Allee­bäumen aufblitzte, als hätten die rollenden Ungeheuer tatsächlich das Feuer eröffnet, als signalisiere aufzuckendes Mündungsfeuer den Beginn einer Panzerschlacht. In Wahrheit aber spiegelte sich nur die Sonne an der blanken Außenwand der Fahrzeuge. Diese hätten schließlich auf eine kleine Siedlung zugehalten, deren Häuser und Villen, teilweise in den Wald hineingebaut, zwischen den Stämmen oder hinter großen Büschen hervorlugten. Seltsam und eigentlich faszinierend sei dieser Anblick ge­wesen, sagte Walter, nachdem er das Manöver amerikanischer Panzer kurz, aber eindringlich geschildert hatte; so ungefähr müsse es ausgesehen haben, wenn eine Panzerdivision im Krieg sich sammelte und in die Angriffspositionen rollte. Doch alles sei weit, weit entfernt gewesen, so weit, dass man kaum die Geräusche der Fahrzeuge hörte, nur ein leises, fast säuselndes Rauschen habe man vernommen.

„Tja, warum ich euch das erzähle, werdet ihr sicher fragen!?“

Walter sah sich in der Runde um, als erwarte er eine Meldung eines Pfadfinders, der ihm seine Frage beantworten könnte. Vielleicht wusste er selbst nicht, wie die Ant­wort lauten könnte, oder die Erinnerung an diesen faszinierenden Anblick der Pan­zerkolonne, wie sie da auf der weit entfernten Allee blitzend im Sonnenlicht fuhr, hatte ihn einfach überwältigt!? Nach einer kurzen Pause folgte jedoch eine Antwort, die Elmar nicht erwartete hatte, weil sie eine ganz andere Einstellung Walters zu die­sem Panzermanöver aufzeigte:

„Nun, der Grund meines Exkurses ist: Ich wollte euch noch einmal ganz klar meine Ansicht über den Sinn von Haus ’Sternbald’ erläutern, dass dieses Lager so uner­messlich weit entfernt ist von den Praktiken der Welt da draußen, wo Krieg herrscht. Zwar schweigen zur Zeit die Waffen, und die Panzer fahren da nur herum. ’Doch die Werke der Welt sind böse’, sagt Jesus im Johannesevangelium. Bald wird sich, fürchte ich, der Unfriede der Welt wieder zu einem neuen heißen Krieg steigern. Die Tatsache, dass da Panzer herumfahren, deutet darauf hin. Nur bei uns, in Haus Stern­bald, hat die heillose, böse Welt ihre Macht verloren, bei uns werden nur die Prakti­ken des Friedens und der Kameradschaft und Freundschaft gepflegt. Zwar wird auch bei uns Sternbaldpfadfindern gekämpft, aber, wie ihr schon wisst, kämpfen wir mit völlig anderen Waffen; mit Waffen, die keine Wunden reißen; und die Kämpfe, die wir austragen, nehmen auch kein furchtbares Ende, sondern sie schweißen unsere Truppe erst zu einer richtigen Kameradschaft zusammen, manchmal sogar wird aus der Kameradschaft eine Freundschaft, die ein ganzes Leben anhält! Auch die harten Gesetze der Gesellschaft gelten bei uns nicht. Rivalisieren und Konkurrieren oder der Zwang, Leistung zu erbringen, sind uns fremd, jedenfalls so lange wir in Haus Sternbald weilen. Konkurrenz ist für uns kein verbissener Kampf um Ansehen und Ehre, sondern Konkurrenz gilt uns nur als Spiel!’ -

So also erklärte Walter Harms plausibel den Sinn seiner Abschweifung. Die meisten Jungen schauten während dessen etwas verlegen drein, denn wohl keiner von ihnen hatte sich schon tiefere Gedanken über das Kriegerische der bösen Welt oder über die harten Bedingungen der Gesellschaft gemacht, doch sie nahmen Walter seine edle Denkart ab, jedenfalls Elmar tat es, und so wandte sich der Sippenführer erneut dem Verlauf des Geländespiels zu, das ganz in den Hintergrund getreten war. Das für sie maßgebende Trompetensignal - erläuterte er - sei wieder deutlicher zu hören ge­wesen, und nachdem er noch einmal angestrengt die grüne Masse der auf- und ab­steigenden Waldhügel abgesucht, natürlich in der Richtung, aus welcher das Signal zu ihnen herüberschallte, habe er sie doch noch entdeckt, die Räuber, weit weg vom Aufmarsch der Panzer: eine kleine Truppe, vielleicht erschöpfte Nachzügler, sei aus einer Waldschneise auf einen Weg heraus­getreten und habe vorsichtig nach allen Sei­ten gespäht. Gleich habe er den Befehl zum Angriff gegeben, und sofort eilten seine Jäger, die Speere trotzig unter den Arm geklemmt, in die angegebene Richtung einen riesigen kahlgeschlagenen Hang hinunter. Durch Unterholz und Gestrüpp bahnten sie sich ihren Weg, wobei mancher mit seinem Speer in den Zweigen hängen blieb, aber alle seien nach kurzer Zeit wohlbehalten auf jenem Weg angekommen, an dessen un­terem Ende sich die Räuber versammelt hätten. Diese, gerade dabei, sich eine Ruhe­pause zu gönnen, wären entsetzt hochgefahren und davon gestoben, doch es hätte ih­nen nichts genützt; sie waren halt entdeckt und mussten sich dem Kampf stellen.

Herr Wagenbach als Schiedsrichter - schilderte Walter Harms weiter die Schlusspha­se des Waldspiels - hielt sich ständig in der Nähe der Räubergruppe auf, und mit energischer Stimme, unterstützt von seiner Trillerpfeife, gab er Anwei­sungen, wie die Schlachtreihe sich formieren, wo die Linie verlaufen sollte, die von keiner Partei übertreten werden durfte. Dann habe der Kampf begonnen: Die beiden ersten Schlachtreihen seien einander gegenübergetreten, das Startzeichen wurde gegeben, und schon flogen, begleitet vom Johlen und Hurra-Geschrei der Kämpfenden, die Speere hin und her, während die Triller des Schiedsrichters Treffer und Tod, das heißt den Abgang der „Ge­fallenen“ zu einem “Toten-Sammellager“ signalisierten. Er, Walter, habe fünf Räuber erledigt, bis auch ihn das Schicksal ereilte, das Polster eines gegnerischen Speeres traf sein rechtes Knie mit har­tem Schlag, aber ohne ir­gendwie weh zu tun, und die Trillerpfeife habe „gesungen“. Erhobenen Hauptes zog er darauf ab in die ’ewigen Jagdgründe’. Zuletzt blieben zwei Kontrahenten üb­rig: O.K.H von der Sippe Paul Gerhard, ein Gendarm, und Thomas Lattemann, der Anführer der Räuber, ein Pfadfinder-Unterführer von der Sippe „Mar­tin Luther“ aus G***. Es habe jetzt ein echter .Einzelspeerkampf begonnen. Sippenführer Walter, der sich förmlich in Begeisterung hin­einredete, was sich sofort wieder auf die Anwes­enden übertrug, schilderte diesen Zweikampf jetzt so: „Herr Wagenbach steckte ein Feld ab, mitten in der Menge der zuschauenden Pfadfinder, denn die ge­fallenen „Räuber“ und „Gendarmen“ waren in­zwi­schen aus ihrem Sammellager wie­der herbei­geeilt und bildeten eine dichte Kulisse. Die beiden Kämpfer legten je fünf Speere neben sich auf den Bo­den, schüttelten sich noch einmal kameradschaftlich die Hand, dann, auf ein Kommando, ging der Kampf los: Thomas zielte auf OKH’ s Füße, warf mit hartem Stoß den ersten Speer schräg von oben nach unten, doch mit blitz­schnellem Grätschsprung wich OKH aus, um sogleich, noch im Fluge, seine Waffe Richtung Knie des Gegners “abzufeuern“. Thomas, ebenfalls flink und reaktio­nsschnell, warf sich zur Seite, so dass der nicht allzu hart gestoßene Speer ins Leere flog. Jetzt tänzelten, dribbelten, hopsten beide auf ihren Feldern hin und her, belauerten sich gegenseitig, spähten nach einer Chance, spitzten auf eine momenta­ne Nachlässigkeit, auf eine Unkonzentriertheit des anderen. Plötzlich: wieder ein Stoß, wieder ein Sprung, und pfeil­artig glitt der Speer, von OKH geschleudert, über den Waldweg ins Leere. Der Kampf wurde härter. Beide standen sich in einiger Ent­fernung von der Mittellinie nahezu regungslos gegenüber, jeder beobachtete den an­deren noch schärfer als zuvor, nur der keuchende Atem ver­riet die Erregung, die An­strengung. Thomas hatte drei Speere aufgenommen, hielt zwei in der Rech­ten, einen in der Linken, OKH begnügte sich mit zweien. Mit einem Male haute Thomas eine ganze Serie von Würfen OKH vor die Füße, doch der, nicht faul, ließ seine Füße samt den angewin­kelten Unterschenkeln emporschnellen und schoss, wieder im Sprung, gleichfalls kurz hinterein­ander, seine beiden Speere ab, die aber Thomas, ebenso gekonnt, mit seinem letzten Speer ab­blockte. Die Kämpfer hatten jetzt jeder noch einen Speer, den sie sogleich vom Boden auf­nahmen. Da, plötzlich, Thomas strauchelt, viel­leicht vor Erschöpfung, fällt hin, hat für ei­nen kurzen Augenblick sei­ne Beine nicht unter Kontrolle; für OKH ein Kinderspiel, seinen letzten Speer in die richtige Richtung zischen zu lassen. Mit einem kurzen, trockenen „Blopp“ prallt der Speer gegen Thomas Lattemanns Schienbein, ein schril­ler Pfiff markiert das Aus, und ab ging Thomas ’zur großen Armee’!“

Walter hatte geendet. Die Augen der Anwesenden, die schon während der letzten Er­zählpassagen dann und wann OKH kurz und ehrfürchtig gestreift hatten, richteten sich jetzt voll auf diesen. Karl-Heinz hatte ein glattes, hübsches Gesicht, blaue Au­gen und blondgelockte Haare, die ihm seitlich in die Stirn fielen und die er oft durch ein Schnicken ganz zur Seite beförderte. Zur Zeit schaute er ziemlich gelangweilt drein, so als wäre ihm die Herausstellung seiner Person lä­stig, doch ein kaum merkli­ches Glänzen seiner blauen Augen verriet, dass er insgeheim die bewundernden Bli­cke der Pfadfinder genoss. Auch die Gratulation derjenigen, die an dem Lager nicht teilgenommen, schien er nicht ungern, wenn auch widerstrebend, über sich ergehen zu lassen, eine Gratulation in Form einer trommelnden Akklamation, die auch Elmar mit seiner Faust auf dem Holztisch des Türmerzimmers ausführte. Der große Sieger des Waldspiels, das er für die Gendarmen und zur Ehre der Sippe Paul Gerhard ent­schieden hatte, nahm diese Anerkennung verdientermaßen entgegen, aber nach wie vor gleichmütig, beinah uninteressiert dreinschauend, als gehe ihn das alles gar nichts an.

Walter Harms klappte sein Manuskript zu und ließ es samt einigen Schreibutensilien in einer Tasche verschwinden. Sein ganzes Verhalten ließ darauf schließen, dass er im Aufbruch begriffen war. So geschah es auch. Er müsse sich jetzt verabschieden, erklärte er, einen feierlichen Ton anschlagend. Dies sei seine letzte „Rast“ gewesen. Seine aktive Zeit als Sippenführer sei endgültig vor­bei. Schulische Pflichten riefen ihn, er stehe kurz vor dem Abitur, und dann komme die Zeit, wo er sich abnabeln müsse, wo er, ins Leben hinaustretend, sich einem anderen Kampf als bisher stellen müsse. Der Kampf seiner Jugend um den rechten Pfad zu Gott sei vorläufig beendet, aber er werde ihn in einer anderen Form weiterfüh­ren. Sein berufliches Ziel stehe fest, er werde Theologie studieren und später einmal seinen Dienst in der Nachfolge Jesu bei einer Kirchengemeinde antreten. Auch wenn dann die aufreibende Seelsor­ger- und Gemeindearbeit, vielleicht sogar, was er nicht hoffe, ein möglicher berufli­cher Wettbewerb mit anderen Pfarrern, Wettbewerb um die besonders interessanten Pfarrerstellen, viel Anspannung und Nervenkraft bedeuten könnten, gelte für ihn auch in Zukunft, in jeder Phase seines Lebens, die Parole des Pfadfinderliedes: ’All­zeit bereit’!

Nach diesen Worten wandte sich Walter Harms zum Gehen; doch Gerhard Nebel, der Unterführer, bedeutete ihm durch Gesten, er solle noch einige Augenblick warten. Gerhard begab sich, eine Tasche unter dem Arm, zum Kopfende des Tisches, stellte sich neben Walter und begann die folgende Rede zu halten:

„Lieber Walter! Wir alle, die Pfadfinder der Sippe Paul Gerhard, möchten dir für dei­ne als Sippenführer geleistete Arbeit von Herzen danken. Wir haben unter deiner Führung so viele herrliche Zeiten erlebt, so viele Abenteuer auf unseren Fahrten und Wanderungen - ich erinnere nur an unsere letzte Osterfahrt zum Rhein oder an die vorletzte in die Rhön; sie werden uns unvergesslich bleiben! Auch die Sippenge­meinschaften während der Pfadfinderlager in Haus ’Sternbald’ oder Haslachmühle oder auf den Pfingsttreffen der Stämme in Obermais sind mir noch stark in Erinne­rung; dann die Nachtwanderungen zum F.- Berg, auch einmal durch den Homberg, wo wir in der Dunkelheit beinah nicht mehr den Ausgang fanden und beinah im To­penbühl gelandet wären...., wie viel Abenteuerliches haben wir in deiner Zeit erlebt. Dafür danken wir dir. Für die jetzt bevorstehenden Abiturprüfungen wünschen wir dir alles Gute; erst recht für deinen weiteren Lebensweg und deinen Weg durch ein schwieriges Studium. Wir sind überzeugt, Gott wird seine Hand weiter über dir hal­ten, denn Gott ist – wie unser Lied es sagt – unser starker Hort; er wird seine Pfad­finder, die den steilen, schwierigen Pfad zu ihm suchen und finden wollen, niemals im Stich lassen. In diesem Sinne rufe ich dir unsere Pfadfinderparole zu: ’Allzeit be­reit zur guten Tat’!“

Gerhard gab Walter die Hand.

„Und hier, lieber Walter, möchte ich dir im Namen der Sippe Paul Gerhard zur Erin­nerung ein Buch übergeben....“

Gerhard zog nun ein als Geschenk eingepacktes Buch hervor, das er in seiner Tasche aufbewahrt hatte, und reichte es Walter.

„Es ist ein Buch, das du dir gewünscht hast: der Pfadfinderroman von Herbert Riebe­ling. Möge er dir in deiner freien Zeit viel Freude und Kurzweil bereiten!“

Walter Harms, dessen Augen vor Freude strahlten, indessen sein Mund sich zu einem verlegenen Lächeln verzog, bedankte sich vielmals für die Worte seines Stellvertre­ters und für das Geschenk. Dann verabschiedete er sich der Reihe nach von den an­wesenden Knappen und Pfadfindern, die sich alle erhoben; er gab jedem die Hand, zuletzt auch Elmar, und dieser bekam einen Augenblick Ge­legenheit, sich dessen Ge­sicht genauer anzusehen: Es war ziemlich rund und von natürlicher brauner Farbe. Die erwähnten vollen Backen wirkten jetzt etwas schlaff, hingen leicht durch, wes­halb sein Gesicht einen Zug von Anspannung und Mü­digkeit erhielt. Der Mund war breit, die Lippen etwas wulstig. Während die Nase stark vorsprang, wirkten die blauen Augen zurückliegend und klein, aber sie strahlten immer noch jenes Leuchten aus, welches Elmar eben wieder, als dem Sippenführer das Buchgeschenk überreicht wurde, aber auch vorhin während seiner Er­zählungen aufgefallen war. Fast hatte es den Anschein, möglicherweise wegen der zuletzt von Gerhard Nebel gesprochenen gefühlvollen Worte, als wären Walters Augen feucht, als hätte ihn dieser endgültige Abschied von seiner Zeit als Pfadfinder, die er - nach eigenen Worten - auch als Abschied von seiner Jugend empfand, stark ergriffen und übermannt, dass er nur mit Mühe die Tränen zurückhalten könnte. Während er Elmar kurz in die Augen blickte, zog er seine schmalen, fast strichartigen Augenbrauen hoch, auf seiner normal hohen, leicht vorspringenden Stirn erschienen zwei angedeutete Querfalten, und von dem braunen, schwach gewellten Haar, das er locker nach hinten gekämmt trug, löste sich plötzlich eine Strähne und fiel ihm seit­lich in die Stirn. Alles in allem kein beson­deres, kein bedeutendes Gesicht, dachte Elmar, nichts außer diesem seltsamen Augenleuchten deutete auf das Außergewöhnliche an diesem Jungen hin, auf diese fast suggestive Erzählbegabung, welche in Elmar die Begeisterung für das Pfadfindertum fast schlagartig geweckt hatte, dass er spontan beschloss, der Sippe Paul Gerhard beizutreten.

Noch heute sieht er Walters hohe Gestalt vor sich, wie sie sich ruckartig abwandte und, einen riesigen, flackernden Schatten an die Wand des Turmzimmers werfend, auf die Tür zuging, begleitet vom donnernden Akklamationsgetrommel der Zurück­gebliebenen. Noch einmal sich umwendend und alle Pfadfinder mit erhobener Hand grüßend, verließ er das Zimmer und schloss die Tür. Draußen hörte man noch eine Weile seine schweren Tritte auf der Holztreppe, bis sie, allmählich leiser werdend, in der Tiefe ver­hallten.

Gerhard Nebel, designierter Sippenführer, Noch-Unterführer und seit Jahren auf dem Sprung in das von ihm begehrte Amt, begann nun zu ’regie­ren’, zunächst, indem er die Pfadfinderrast, vorne auf Walters Stuhl Platz nehmend, fortsetzte. Er war es nun, der den Ton angab, und zwar den Ton im wirklich­en Sinne des Wortes, denn er sagte eben gerade ein Lied an und begann es sogleich zu singen, während die anderen, den Text von einem Liederbuch ablesend, einfielen:

„Kameraden, wir marschieren,

wollen fremde Welt durchspüren,

wollen fremde Sterne sehn.

Kameraden, wir marschieren,

lasst die bunten Fahnen wehen.

Kameraden, unsre Speere

schleudern wir von Heer zu Heere,

fechten wolln wir nur zum Schein.

Kameraden unsre Speere

sollen stumpf und arglos sein.

Kameraden, fremde Sterne,

silbern blinken sie von ferne,

künden von des Ewigen Macht.

Kameraden, fremde Sterne

leuchten uns in schwarzer Nacht.

Kameraden fremder Welten

wachen nachts bei unsren Zelten,

wenn die Feuer tief gebrannt.

Kameraden fremder Welten

singen leis’ von ihrem Land.“ -

Gerhard Nebel ging nach diesem Gesang sogleich zum zweiten Teil der Pfadfinder­sitzung über: Es wurden Knoten geübt. Die Unterführer und provisorischen Unter­führer zeigten den anderen zu­nächst einige Abbildungen der Knoten, die heu­te ge­bunden werden sollten: Das waren der ein­fache und der gekreuzte Weberknoten, der Trompeten­stich, der Mastwurf und der Fischerknoten. Sodann führten die Pfadfin­derführer sie den einzelnen Gruppen, die rasch gebildet wurden, vor, bis sie meinten, jeder könnte schlecht und recht einen knüpfen. An­schließend folgte ein kleiner Wett­bewerb, bei dem die Gruppen in einem spielerischen Kampf die verschiedenen Kno­ten so schnell wie möglich binden mussten, wobei jedes Gruppenmitglied einen be­stimmten Knoten zu knüpfen über­nahm. Nach dem Startzeichen begannen die ’Kom­battanten’, angefeuert von ihren Mitkämpfern, wie wild an den vor ihnen liegenden Seilen he­rumzufingern, drehten, wanden, wirbelten, schlangen und schlugen deren Teile umeinander, durcheinander, aneinander, in der Hoffnung, das Knotengebilde schnellstmöglich herzustellen. Elmar nahm sich den Trompetenstich vor. Als er an die Reihe kam, stürzte er sich in den Kampf, ergriff mit Feuereifer das Seil und wer­kelte daran herum, verhedderte sich aber bald und brachte vor Aufregung nur ein un­förmiges Gewinde zuwege; es hatte nur entfernt Ähnlichkeit mit dem Trompeten­stich und fand infolgedessen keine Gnade vor dem prüfenden Auge des Sippenführ­ers. Seine Gruppe wurde durch seine Schuld letzte, aber das verdross ihn überhaupt nicht, denn seine Mitstreiter zeigten keine Spur von Häme, sondern redeten ihm im Gegenteil freundlich zu, er solle sich nichts da­raus machen.

Nachdem sie das Knotenspiel beendet und die Siegermannschaft ausgerufen war, folgte der Vorleseteil. Ein Unterführer, Hans Eckart mit Namen, galt als Vorleser vom Dienst, denn wie selbstverständlich schob Gerhard ihm ein Buch hin und wie selbstverständlich begann Hans sogleich mit seinem Lesevortrag. Er las aus einer Abenteuergeschichte vor, fließend, mit heller, klarer Stimme, die Tonhöhe angenehm wechselnd, aber nicht so, dass es manieriert klang, und man hörte ihm deshalb gerne zu. Die Helden der Geschichte waren drei Pfadfinder aus einer Sippe namens „Parsi­fal“. Die Drei be­kamen von ihrem Sippenführer den Auftrag, zu einem behinderten, an den Rollstuhl gefessel­ten und in ärmlichen Verhältnissen lebenden Jun­gen zu fah­ren, der irgendwo in einem Vorort von F*** wohnte. Sie sollten ihm eine Einladung zu einem einwöchigen kostenlosen Aufenthalt im Pfadfinderlager „Haus Sternbald“ überbringen. Die drei Pfadfinder radelten also los und suchten nach der Adresse des freudlos dahinlebenden, unglücklichen Jungen; dabei gerieten sie in die unübersicht­lichen Gänge eines noch unfertigen Hochhauses. In einem der unteren Stockwerke sollte der Junge bei seinen Eltern wohnen. Als sie in eine nichtabgeschlossene Woh­nung eindrangen und sich dort umsahen, merkten sie zu spät, dass dies nicht nur die falsche, sondern obendrein eine gefährliche Adresse war. Nachdem sie sich einige Minuten still verhalten und leisen Stimmen, die aus einem Zimmer drangen, ge­lauscht hatten, mussten sie erschrocken feststellen, dass da eine Gangsterbespre­chung im Gange war; Krimi­nelle berieten über Raub und Einbruch in eine Fabrik, ein Nachtwächter sollte überfallen und nötigenfalls abgeknallt werden. Pläne dazu wurden geschmiedet, wieder abgeändert, wieder verworfen und neu konzipiert. Man hörte teils heisere, teils Ruhe gebietende, oft erregt klingende Stimmen. Einer der Jungen stieß ungeschickter Weise gegen eine Tür, was ein Geräusch verursachte. Ehe sie fliehen konnten, wurden sie von den Gangstern, die aus dem Zimmer stürzten, entdeckt und gefangengesetzt. Sie befanden sich jetzt in höchster Lebensgefahr, sie galten ja gewissenlosen Verbrechern als Zeugen des Raubplanes. Gefesselt an Beinen und Armen sperrten die Gangster sie in einen Raum, wo sie von einem der Kriminel­len bewacht wurden, indessen seine Komplizen den Raub ausführten. Der Bewacher nun benahm sich derart sadistisch den Pfadfindern gegenüber, dass er die drei wehr­losen Jungen in noch größere Angst versetzte. An dieser Stelle, wo es gerade am spannendsten war, stoppte Ger­hard Nebel den Lesevortrag und befand, die Fortset­zung solle in der nächsten „Rast“, am kommenden Mittwoch, gelesen werde.

Ein leises Protestgemurmel lief rasch durch die Reihen der Jungen; auch Elmar hätte gerne Näheres über das Schicksal der Pfadfinder erfahren, und zwar jetzt, in diesem Augen­blick. Wie die anderen auch konnte er seine Ent­täuschung nur mit Mühe ver­bergen. Doch Gerhard, voll Genugtuung über diesen gelunge­nen taktischen Zug, blickte grinsend in die Runde; die Jungen, begierig auf die Fortsetzung der Abenteu­ergeschichte, würden die nächste Sit­zung auf keinen Fall versäumen wollen. Dann erging das Kommando „Liederbuch Seite 35 aufschlagen!“, und folgendes Lied wur­de gesungen:

Früh morgens zieh’n wir durch Wald und Flur

Lassen lustige Lieder erklingen,

Wir erkunden Gottes schöne Natur,

Die verschlafene Welt hört uns fröhlich singen.

Lasst gute Stimmung walten, Brüder!

So ruft uns der Fähnleinführer zu,

Schon klingen von neuem unsere Lieder

Gleich erwachen die Vöglein aus ihrer Ruh.

Ein Buchfink trällert erste Lieder,

Herüber tönt der Amsel Schlag,

Ein schläfriger Waldkauz putzt sein Gefieder

Eine Lerche freut sich am jungen Tag

Ein Rehbock äugt vom Waldrand herüber

Ein Rehkitz trinkt am Gesäuge der Geiß,

Im Wasser tummeln sich junge Biber

Und schwimmen und raufen und hetzen im Kreis.

Wie weit wir auch wandern durch die Auen

Nicht das Lob der Welt ist unser Ziel,

Sondern Gottes Nähe, auf die wir vertrauen,

Und Ehrgeiz und Kampf sind bei uns nur ein Spiel.

Am Abend ruh’n wir am Lagerfeuer,

Wir sitzen im Kreis, Gott zugewandt,

Wir denken an all unsere Abenteuer

Und singen und beten und spür’n seine Hand.

Gleich wie ein Zauber erfasst Er die Herzen,

Gleich wie die Sonne durchdringt Er die Welt,

Und wir entzünden voll Andacht die Kerzen

Für den, der wohnt überm Himmelszelt.

Wegen seines halb­reli­giösen Inhalts stellte das Lied eine treffliche Überleitung zu der Andacht her, welche die Pfadfindersitzung abschließen sollte. Diese folgte an­schließend, von Sippenführer Gerhard Nebel gesprochen.

Gerhard setzte sich darin mit einigen Kernsätzen des Pfadfinderliedes „Allzeit bereit“ auseinander. Da er lange nicht so ein Erzähl- und Formulierungskünstler wie Walter Harms war, geriet ihm sein Vortrag etwas bieder-einfach und im Ton trocken, fast übertrieben sachlich, obwohl der Inhalt des Vorgetragenen eigentlich das Interes­se der Pfadfinder wecken müsste. Diese aber, enttäuscht über die obendrein abgele­sene Andacht, wurden unruhig - einige vermissten offenbar Walter Harms mitreißen­de Vortragskunst.

Gerhard, der dies mit verlegenem und gleichzeitig unwirschem Gesichtsausdruck feststellte, beeilte sich, seinen Vortrag rasch zu beenden. Seine Aus­führungen können ungefähr so zusammengefasst werden: Wir, die Pfadinder, ste­hen alle im Eigentum Gottes, ihm haben wir unsere Seele geweiht, seine Forderun­gen müssen wir erfüllen! Was dies bedeutet?, fragte Gerhard, mit lauter Stimme ge­gen die Unruhe im Zimmer anredend: Die Wahr­heit und die Gerechtigkeit müssten als Fundamente des Göttlichen zur Anerken­nung gebracht werden, zumindest müss­ten wir um diese Anerkennung kämpfen! Es genüge aber nicht, diese Fundamente nur im kleinen Kreis der Pfadfindersippe oder im größeren des Pfadfinderlagers zur Geltung zu bringen. Wir, die Pfadfinder, müssten durch unser vorbildhaftes Verhalten auch für die üb­rige Welt ein Beispiel geben, das Eindruck auf die Menschen macht. Dort, wo in der Finsternis die satanischen Kräfte der Zwietracht, des Krieges und der Selbst­sucht herrschten, müsste die göttliche Gabe der Harmonie und der Liebe wie eine Fackel zum Leuchten gebracht werden. So wie es in dem eben gesungenen Lied heiße: ’Wir entzünden voll Andacht die Kerzen für den, der wohnt überm Himmels­zelt’ seien auch wir Pfadinder aufgerufen, die Kerzen der Nächstenliebe anzuzünden und zum Leuchten zu bringen.

Ein durchaus eindrucksvoller Inhalt, dachte Elmar, aber der Text wurde zu schnell vom Blatt, obendrein mit eintöniger Stimme abgelesen, so verpuffte seine Wirkung, die Gedanken des Vortrages erreichten nicht die Herzen der Zuhörer. Alle waren froh, als Gerhard Nebel seine Andacht beendete. Gerhard selbst, der untalentierte Redner, war sicher am allermeisten froh. Er schaute verlegen unter sich. Vielleicht dachte er gerade mit Schrecken an die vielen Andachten, die er noch in Zukunft hier im Türmerzimmer halten müsste.

Doch zunächst musste erst noch ein Gebet folgen. Gerhard, wieder auf einen Spick­zettel schielend, rief Gott an, er möge immer wieder junge Menschen zu sich heran­führen, die seine Gebote der Liebe, der Wahrheit und der Gerechtigkeit befolgen. Auch möge er ihnen Mut geben, auf dass sie diese Gebote den satanischen Mächten furchtlos entgegenhalten, die nur Hass und Zwietracht predigen, und Ungerechtigkeit und Feindschaft aussäen. - Nachdem Gerhard das ’Amen’ gesprochen hatte, hob er den rechten Arm angewin­kelt in die Höhe; die anderen Jungen taten das Gleiche. Jeder streckte die drei mittleren Finger nach oben, legte den Daumen über den kleinen Finger. Das war der Gruß der Sternbald-Pfadfinder. Bei Elmar, dem Neuling, dauerte es natürlich einige Sekunden länger, bis er sich, vor­sichtig nach rechts und links lugend, diese merkwürdige Gebärde eingeprägt und nachgeahmt hatte. Inzwischen sangen die an­deren schon „Unser Lied“:

Allzeit bereit, den kurzen Spruch

Als Losung ich erkor

Ihn schreib ich in mein Lebensbuch

Ihn halt ich stets mir vor!

Das gibt dem Leben Sinn und Ziel

Schenkt Freude, Stetigkeit

Im harten Kampf, im heiteren Spiel,

Allzeit bereift

Allzeit bereit zur guten Tat,

Vollbringe sie für Gott!

Auf such’ den steilen, rauen Pfad,

Acht nicht auf Hohn und Spott!

Hoch halt die Wahrheit, hoch das Recht,

Verzage nie im Leid,

Denn Gott wird helfen seinem Knecht,

Allzeit ist er bereit!

Allzeit bereit, der raue Weg

Führt dich auf steile Höhe’,

Ein Wildbach stürzet unterm Steg

Tief unten hallt ein Weh.

Ist es der Wind, der brausend weht

Durch Wipfel dicht und breit?

Sind’s Menschen, denen’ s wirr ergeht

Vor Hass und Bitterkeit?

Allzeit bereit, dem zu entfliehn

Was dir die Seel’ befleckt;

Nichts Böses soll dich abwärtsziehn,

Hoch sei dein Ziel gesteckt!

Gott zum lebend’gen Eigentum

Sei Leib und Ehr’ geweiht.

In seines Namen Ehr’ und Ruhm,

Allzeit bereit!

Allzeit bereit, wahr sei mein Mund

Unwandelbar die Treu!

Rein sei mein Herz, fest sei der Mund,

Der Wandel ohne Scheu!

Hilf mir, o Gott, du starker Hort,

dass ich kann jeder Zeit

Erfüllen treu das Losungswort:

Allzeit bereit!

Ulrike D.

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