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Der Runenweiher

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„Steinfirstsee“ – der Name ließ sich nicht so gut aussprechen; besser schon geht ei­nem das Wort ‚Runenweiher’ über die Lippen; so heißt der See näm­lich im Volks­mund. Richtiger müsste er ‚Rundhofweiher’ heißen, denn an­geblich stand vor un­denklich langer Zeit an seiner Stelle - so berichtet es eine alte Sage - eine kleine Stadt mit Namen Rundhof. Auch ‚Rundhofweiher’ war nicht gut auszusprechen, und so hatte man daraus bald einen ‚Runen­weiher’ gemacht; vielleicht auch deshalb, weil so viele Sagen über den Steinfirstsee und die geheimnisvolle Stadt „geraunt“ wur­den, uralte Sagen voller dunkler Begebenheiten. Viele Male - erinnerte sich Elmar - wurden sie ihnen als Kinder dargeboten, sei es von seiner Großmutter oder von ih­rem Dorfschullehrer, die beide spannend erzählen konnten, und ihre Kinderher­zen gerieten dann immer in furchtbare Aufregung.

Eine dieser Sagen, die Elmar niemals vergessen wird, weil sie ihm damals einen ge­waltigen Schrecken eingejagt, handelte von den rei­chen Leuten von Rundhof, ihrem frevelhaften Ehrgeiz, ihrem Hochmut, ihrem lasterhaften Le­ben. Selbstsucht, Hart­herzigkeit und protzende Angeberei hätten sie mit zü­gellosem, die niedrigsten Sinne aufreizenden Genussleben verbunden. Keine Ausschweifung, keine Verdorbenheit sei ihnen fremd gewesen, sprach Elmars Großmutter einst mit schauer­lich verfrem­deter Stimme; keine Schlechtigkeit bis hin zum Verbrechen, zum Mord blieb bei ih­nen ausge­spart, und als das Maß ihrer Sünden endlich voll war, als selbst der Him­mel, an viele Schandtaten der Menschheit durch die Jahrtausen­de hindurch ge­wöhnt, nicht mehr gleichmütig zuschauen konnte, schick­te er seine Strafen­gel herab, die ein furchtbares Strafge­richt über die Rundhofer abhielten, in Gestalt eines gewaltigen Erdbebens, durch das die Stadt Rundhof samt ih­ren Einwohnern auf immer ausgetilgt wurde. Alle ihre Häuser stürzten in ei­nen gigantischen Kra­ter, der sich während des Bebens öffnete, und ver­schwanden in seiner unermesslichen Tiefe, ohne eine Spur zu hinterlas­sen. Mit Schaudern dachte Elmar noch daran, wie seine Großmut­ter das Aufbre­chen des Kraters mit einem fürchterlichen Gäh­nen verglich, zu welchem die Erde angesetzt; ungeheuer weit habe sie ihren Schlund aufsperrt und ihn anschließend nicht mehr zubekommen, weil ein Krampf in der Muskulatur des Schlundes zu einer Art ewiger Maulsperre führte, und aus dem Abgrund des Riesenloches sei allmählich, durch Sickerwasser und Zuflüsse kleiner Bäche Jahrhunderte lang gespeist, der klare Spiegel eines Sees emporge­stiegen und hätte das Kraterbecken bald vollständig ausgefüllt. So also sei der Runenweiher entstan­den. Staunend hatte Elmar als kleiner Junge da­mals dieser unheimlichen Schil­derung gelauscht, und immer, wenn er als Kind an den ein­samen Ufern des Sees entlangging und sich vorstellte, unter seiner regungslosen, grauen Fläche, tief unten auf zerklüf­tetem Grunde, lä­gen die Trümmer der untergegangenen Stadt samt den Überresten ihrer bö­sen Bewohner, so liefen ihm kal­te Schauer über den Rücken, zumal wenn er an Großmutters erhobenen Zeigefinger dachte, mit dem sie ihre Warnung un­terstrich, die bösen Geister der Toten stiegen zuweilen aus der Tiefe her­auf, trieben dann über dem Wasser ihr Unwesen und kämen auch hin und wieder durch die Lüfte herangesaust, um das eine oder andere Menschen­kind, weil es sich zu sehr dem Bösen geöffnet, zu quälen und zu piesacken. Ja, wenn es gar zu verstockt sei, wenn es kein Bitten um Verzeihen oder sonst ein liebes Wort mehr über die Lippen bringe, packten sie es und - hui!! - schleppten es mit sich durch die Lüfte und tauchten - platsch! - mitsamt dem verstockten, unverbesserlichen Kind hinab in das Reich der bösen Geister, wo es dann auf Nimmerwiedersehen verschwindet!

Es war schon ’starker Tobak’, was seine Großmutter ihnen da hin und wieder an den Kopf warf, an schrecklichen Warnungen und beängstigenden Dro­hungen! Und war eine solche Erzählstunde erst einmal richtig in Gang ge­kommen, so konnte die alte Frau, angespornt durch weit aufgerissene Kin­deraugen, die nach immer neuen, noch unglaublicheren Geschichten ver­langten, ihren Erzähldrang und ihre Phantasie nicht mehr zügeln; dabei scheute sie auch nicht davor zurück, verschiedene Sagenkreise, die über­haupt nichts miteinander zu tun hatten, zu vermischen. So reicherte sie eines Tages die finsteren mittelalterlichen Gestalten der Rundhofsage mit den be­kannten Helden aus der Antike an, ließ Julius Caesar bis zur Steinfirstge­gend vorpreschen und den angeblich auch im antiken Rom hochberühmten Rundhofweiher nicht nur besichtigen, sondern auch schwimmend durchque­ren. Die Varusschlacht verlagerte Großmutter in den Steinfirstwald, unweit vom Runenweiher, und sie behauptete in entschiedenem Ton, Varus habe sich in seiner Verzweiflung nicht ins Schwert, son­dern mitsamt seinen Prä­fekten und Tribunen in den See gestürzt, die Konsequenzen aus seiner Nie­derlage ziehend, die ihm nicht nur Arminius, sondern auch die Rache­götter des Himmels ob seines Hochmuts und seiner Bosheit bereitet hätten. Schließ­lich ließ die Großmutter noch einen dritten antiken Helden sich auf die Wanderschaft zum Runenweiher begeben: Orpheus, den begnadeten Sänger, der um Eurydike trau­erte und nach der Verblichenen lechzte. Ihm sei angeblich zu Ohren gekommen, nicht der Berg Tainaros, sondern der Runenweiher sei einer der wenigen Eingangs­pforten zur Unterwelt, einer der wichtigsten und bequemsten. Also machte sich Or­pheus von Thrakien aus auf den Weg und begab sich, von Sehnsucht nach seiner im Schattenreich weilenden Eurydike getrieben, auf eine lange Wanderschaft, bis er schließ­lich hierher, zum Runeweiher, kam, begleitet von Hermes, dem Götterbo­ten, und er sei in den See hinabgetaucht und dadurch zur Geisterwelt vorgedrun­gen.

Diesmal allerdings, bei Orpheus, hatte sich Elmars Großmutter mit ihren phantas­tisch kombinierten Sagengeschichten verrechnet, das heißt, sie hatte nicht damit ge­rechnet, dass die Knaben, welche eine Erzählrunde um sie bildeten, in der Schule schon im ersten Schuljahr von Orpheus und der Nymphe Eurydike gehört hatten, und zwar aus den Erzählungen ihrer Lehre­rin, die gleichfalls fesselnd Geschichten zum besten geben konnte und eine eben­so reiche, aber doch mehr an den Tatsachen orien­tierte Phantasie be­saß.

„Großmutter“, rief Elmar als Knabe aufgeregt und schaute sie mit ernsten, skepti­schen Blicken an; „das ist gar nicht möglich, dass Orpheus hier war. Der Runenwei­her ist doch erst im Mittelalter entstanden! Orpheus aber lebte viel früher, er war im Mittelalter schon lange tot.“

Die Großmutter stutzte und schaute einige Sekunden verblüfft drein. Ihr Ge­sicht, oh­nehin schon vom Erzählen der schrecklichen Rundhofgeschichte ernst und grimmig verzogen, wurde noch um einige Grade grimmi­ger, was wohl von der steilen Senk­rechtfalte herrührte, die wie hingezaubert auf ihrer Stirn lag und diese in zwei Ab­schnitte unterteilte. Der Knabe Elmar wusste, das war immer ein Zeichen, dass sie angestrengt nachdachte. Einige Se­kunden saß sie so da und schien nachzugrübeln. Dann plötzlich verschwand die steile Falte, die Stirn wurde wieder einheitlich und das bitter ernste Ge­sicht heiterte sich auf.

„Du hast recht, Elmar“, sagte sie mit fester, keine Spur von Unsicherheit ver­ratender Stimme, „der Runenweiher kann ja gar nicht im Mittelalter entstan­den sein, wenn Orpheus hier war. Aber, habe ich euch das nicht erzählt? Der See stammt doch aus der Atlantiszeit. Rundhof war eine Siedlung der At­lanter, die viele Jahrhunderte vor den Griechen bis hierhin zur Stein­first vor­gedrungen waren!“

Ja, das schien plausibel und logisch, zumindest war der är­gerliche Wider­spruch be­seitigt, dass der wandernde antike Sänger einen im Mittelalter ent­standenen See als Einlasspforte zur Unterwelt benutzt hätte.

„Der Runenweiher also war ein in Griechenland bekann­ter Einstieg in die Schatten­welt“, behauptete die Großmutter weiter, ohne dass ein unsicheres Tremolo ihre Stimme verfremdete; „Orpheus musste erst mit einem Boot den Unterweltfluss Styx entlang fahren; der mündete direkt im Runenweiher. Dann also - riet ihm Charon, der Fährmann des Styx, der ihn ruderte - müsse er sich an einer bestimmten Stelle, die er ihm zeigen werde, die Nase zuhalten und rückwärts in den See fallen lassen. Kei­ne drei, vier Meter unter der Oberfläche sehe er dann das Eingangstor zur Unterwelt. Das könne er gar nicht verfehlen, denn es schimmere ihm mit vielen flackernden, rötlichen Lichtern entgegen. Er brauche dann nur noch das Tor zu öffnen, schon sei er im Trockenen, könnte dann auch wieder atmen.“ - Dass wegen des Wasser­druckes das Tor gar nicht geöffnet werden konnte, verschwieg die Groß­mutter, und Klein-El­mar und seine Mitschüler waren in ihren physikalischen Kenntnissen halt noch nicht so weit fortgeschritten, dass sie auch hier sofort Protest hätten einlegen können. Und immer weiter sollte Orpheus dann - fuhr die Oma mit ihrer Erzählung fort - einen Gang hinuntergehen, so habe man ihm gesagt, bis er im Reich der unseligen und der seligen Geister an­gekommen sei. Und das habe Orpheus auch getan. Ohne auch nur einen Augenblick zu zögern, habe er sich vom Boot des Charon ins Wasser plumpsen lassen, vier Meter unter der Wasseroberfläche dann das rot leuchtende Tor zu Unter­welt geöffnet und sei von dort hinabgestiegen.

Da Elmar damals den Rest der Orpheusgeschichte schon kannte, stellte er keine wei­teren Fragen mehr. Die dreiste Lügengeschichte der Großmutter durchschaute er als Knabe zunächst noch nicht; seine Gedanken waren al­lein auf diese unerhörte Ver­lagerung der Orpheussage in die Gegend um den Runenweiher gerichtet, und allein das hatte ihn in helle Aufregung ver­setzt. -

Einsam war es zumeist an den Ufern des Steinfirstsees; man konnte früher dort stun­denlang verweilen, ohne eine Menschenseele zu Gesicht zu be­kommen. Das hing nicht zuletzt mit der Aura des Mystischen zusammen, welche den See, vor allem ein angrenzendes, hügelartig ansteigendes Waldstück, genannt der Topenbühl, umgab. Dieser hieß im Volksmund auch ’Totenbühl’, weil es dort nachts angeblich spuken soll. So war es nicht ver­wunderlich, dass diese Orte als unheim­lich und dämonisch verschrieen wa­ren und von Wanderern und Ausflüglern gerne gemieden wurden.

Elmar dagegen hatte als Heranwachsender jedem Aberglauben abgeschwo­ren, auch eingedenk der phantastischen Erzählungen seiner Großmutter, die er schließlich als Knabe doch bald durchschaute. Fortan kümmerten ihn die zahlreichen Schauerges­chichten nicht weiter, welche um den Runeweiher und den „Totenbühl“ gesponnen wurden. Er hielt sie allesamt für Hirnge­spinste. Der See verlor für ihn nicht nur die Aura des Schreckens, er avan­cierte sogar zu einem bevorzugten Ziel sei­ner Wande­rungen und Radaus­flüge, ja es gab schließlich keinen Ort, den er zusammen mit sei­nen Freun­den lieber aufgesucht hätte, um entweder mit ihnen auf die silbrige Was­serfläche hinauszuschwimmen oder - alleine in einem Ruderboot treibend - mitten im einsam ruhenden und wie verzaubert daliegenden See vor sich hinzuträu­men.

Auch sein Vater hielt nichts von dem abergläu­bischen Geraune, welches man immer wieder in den Dörfern diesseits und jenseits des Stein­firstsees vernehmen konnte. Alle diese Schauer­märchen hielten ihn nicht davon ab, ein klei­nes, direkt am Seeufer gelegenes Grundstück vom Gemeindefiskus zu pachten in der Absicht, dort, in der Stille des Runenwaldes, ein Blockhaus mit kleinem Garten zu errichten. Es sollte sei­ner Familie als Wochenendhaus dienen, damit sie an langen, heißer Sommerwochen­enden sich erholen und einen kurzer Badeurlaub bequemer genießen könnte. Dieses Häuschen wurde denn auch innerhalb kur­zer Zeit errichtet, und zwar im Selbstbau­verfahren - nur das Fundament mit einem Kriech­keller für Gartengeräte ließ El­mars Vater von einem professionellen Maurer aus Backsteinen anlegen.

Im übrigen übernahm er selbst die Aufgaben des planenden Architekten, während die übrige Familie, allen voran Elmar und sein Freund Joachim Schaller, bei der Ausfüh­rung fleißig mit Hand anlegten, ja beide Jungen wa­ren oft die einzigen, die sich auf der Baustelle abrackerten, derweil Elmars Vater, von seinem Beruf stark in Anspruch genommen, oft wochenlang nicht zum See hinausfahren konnte und bei Elmars Mut­ter und seiner Schwester der Anfangselan sich rasch legte; kein Wunder: das Häm­mern und Schrau­ben, Sägen und Hobeln, Messen und Werkeln, alles oft in der pral­len Som­mersonne ausgeführt, war für sie, zumal für zarte Frauen -und Mädchenhänd­e, doch nicht so das Angemessene -

Je länger Elmar nun von der Bushaltestelle aus zur hochragenden Steinfirst aufblick­te, hinter deren Wald­spitzen der Runenweiher in seiner mystischen Einsamkeit ruhte, umso fester schlossen sich alle seine Gedanken zu der einen Frage zusammen: Gibt es ihr Blockhaus eigentlich noch, welches sie einst unter so großen Mühen erbaut hatten? Stand es noch am Ufer des Sees, einsam und einladend zugleich, oder war es nach über zwei Jahr­zehnten den Zeitläuten zum Opfer gefallen? Nun - dachte er - das wird sich gleich herausstellen; also lenkte er sei­ne Schritte zum Ortsende, von wo man auf einem bequemen Waldweg den Steinfirstsee erreichen konnte.

Nach einer knappen Stunde Fußmarsch durch den Hochwald der Steinfirst sowie durch einen angrenzenden Höhenzug, dessen Name ihm entfallen war, lockerten die bislang dichtstehender Buchen und Eichen ganz plötzlich vor ihm auf, und zwischen ihren Stämmen konnte er zunächst ein Stück Himmel und bald darauf in einem weit­läufigen Tal das altvertraute Bild des in der Mittagssonne freund­lich schimmernden Sees erkennen. Der bis dahin gerade verlaufende Waldweg fiel in einer scharfen Bie­gung nach links ab, verwandelte sich in einen Hohlweg und entschwand bald darauf Elmars Bli­cken. In einigen Windungen führte er direkt zum See hinunter, vorbei an zahlreichen, hangartig abfallenden Wiesenstücken, die man ob ihres saftig-grünen Grases sehr gut als Viehweiden benutzen konnte, aber, soweit er sich erinnerte, nie­mals als solche gebrauchte, vielleicht weil die in Frage kommenden Bauernhöfe et­was zu weit entfernt lagen.

Die Sonne verkroch sich eben für kurze Zeit hinter einem dicken Wolkenbal­len, und sofort änderte der See, auf dem Elmars Auge wie gebannt fixiert war, sein Aussehen: seine ziemlich runde, bisher lichtübergossene Fläche verwandelte sich in ein dunkles, tief grü­nes Maar, und da überall an seinen Rändern, wo kurzstämmige Na­delwälder grenzten, nachtschwarze Fichten ihre Wipfel wie spitze Zacken in den Himmel reckten, kam es ihm vor, als läge dort unten im Talkessel ein riesiges, be­wimpertes Insektenauge und starrte boshaft zu ihm herauf. Rasch löste sich sein Blick von der eingebil­deten unheimlichen Erscheinung und eilte in Sekundenschnel­le die Ufer des Runenweihers entlang, bis zu dem Punkt, wo nach seiner Erin­nerung das Wochenendhaus seiner Eltern stehen müsste - vergeblich: der kleine Holzbungal­ow, der ob seiner leuchtend weißen Farbe einem von der Höhe bli­ckenden Wanderer immer sofort ins Auge sprang - er konnte ihn trotz ange­strengten Suchens nicht entdecken, und nach einigen Minuten wurde es ihm zur Gewissheit: das Häuschen war verschwunden, war regelrecht vom Erd­boden ausgetilgt, als hätten unbekannte Kräfte es irgendwann einmal em­porgehoben und anschließend in den See gestoßen.

Keine Viertelstunde brauchte er, um zum See hinunterzukommen und die Stelle zu erreichen - die leere Stelle -, wo einst ihr Wochenend­haus gestan­den hatte.

‚Ja, genau hier muss es gewesen sein’, dachte er und schaute auf ein von Brenneseln und Quecken überzogenes Stück Land. War irgendein Stein oder irgendein Holzbrett erhalten geblieben? Nein! Auch ein Balken war nir­gendwo zu erblicken! Nur Leere starrte ihm entgegen - Leere, gefüllt mit wu­cherndem Unkraut!

Sein Blick glitt über den See, erfasste seine mit dichten, schwarzgrünen Fichtenwäl­dern umsäumten Ufer. Alles sah aus wie vor über 20 Jahren - nur ihr Blockhaus fehl­te, als wäre es aus dieser Land­schaft herausgenommen und der ursprüngliche, ewig unveränderliche Zustand der Natur wiederher­gestellt worden - kam es ihm vor.

Genau gegenüber stiegen immer noch die bewaldeten Hänge des Topen­bühls auf, je­nes bereits genannten Waldhügels. Deutlich war er an dem Wildwuchs des Unterhol­zes und zahlreicher bizarr ge­formter Krüppelkiefer zu erkennen. Zur Kuppe des Hü­gels ragten hochstämmige, teilweise von unten nach oben aufgekahlte Fichten em­por, nur hier und da von den breiten Kronen einzelner Altbuchen unterbrochen, die ob ihrer Herbstfärbung wie gelbrote Brandmale aus dem dunkelgrünen Einerlei her­vorstachen.

Dieser ’Totenbühl’, wie er ja auch genannt wurde, verdankt seine volkstümli­che Be­zeichnung einigen schrecklichen Vorfällen, die sich in seinem einsa­men, wilddurch­wachsenen Gelände ereignet haben sollen. Ein­mal hätte sich dort ein junges Mäd­chen aus Liebeskummer an einer der vielen knorrigen Kiefern erhängt, und man mun­kelte, ihr Geist würde zuweilen noch in dem Waldstück umge­hen, vorwiegend in der Abenddämmerung. Auch könnte man den Geist eines ehemaligen Raubritters an­treffen, dessen Burg im fer­nen Mittelalter auf dem Gipfel des Totenbühls ge­standen haben soll. Von einem zusammengetrommelten Heer, bestehend aus Bürgern der nahe lie­genden Dörfer und Städte, wäre sie irgendwann in der Zeit des Faustrechts „geknackt“ und dem Erdboden gleichgemacht worden. Den Ritter hätten die wutent­brannten Bauern- und Stadtkrieger dabei enthauptet. Man sprach auch von den Ab­stürzen zweier Flugzeuge am Ende des Zweiten Weltkrie­ges: Ein amerikanischer Lancasterbomber sei hier nach einem Luftkampf aufgeprallt; desgleichen - einige Zeit später - ein deutsches Heinkel-Jagd­flugzeug, und von den Besatzungen sei niemand lebend geborgen wor­den, auch die Leichen habe man trotz intensiven Suchens nie gefunden. Diese merkwürdige Häufung von Todesfällen, verbunden mit dem Unheimli­chen, Rätselhaften dieser Vorkommnisse - hier also lag wohl die Ursache der Namensgebung. Sie drückten dem harm­losen, an der Südostecke des Runenweihers gelegenen Waldstück auf immer den Stempel des Unheilvol­len, Schicksalhaften auf, was Elmars kühl und nüchtern veranlagter Familie allerdings nicht hinderte, direkt gegenüber dem angeblichen dü­steren Ort der Heimsuchung jenes hübsche Fe­rienblockhaus zu errichten, unabergläubisch, wie Familie Redlich nun einmal eingestellt war.

Elmar betrachtete nun etwas genauer das kleine Stück Land, auf dem einst ihr Häus­chen gestanden hatte, vor allem den Teil, der einmal ihr Garten war, und sofort trat es ihm lebhaft vor Augen, wie sie ihn damals mit viel Mühe ange­legt, allen voran wie­der sein Freund Joachim und er, denn sein Vater hatte ihnen eine fulminante Beloh­nung versprochen, falls sie sich wieder so mächtig ins Zeug legten wie bei der Er­richtung des Häuschens, ihm also ei­nen Garten bauten, wie er ihn sich vorstellte: mit wohl anzu­schauenden Zierbäumen, edlen Sträuchern, einem kleinen Ra­senstück und viel Blumen­schmuck auf den Beeten und mit einem kleinen Steingarten.

Eine wahre Herkulesarbeit war nötig ge­wesen, um seinen Wünschen nachzukomm­en, um der unerbittli­chen, mit starken Wurzeln im Boden veranker­ten Waldnatur die­ses kleine, künstliche Gartengebilde abzuringen: Zunächst mussten kleine Waldbäu­me gefällt, zahlreiche tiefe Gräben ausgeschachtet und das im Erdreich wirr ver­zweigte Wurzelwerk mit Spitzhacke und Beil ausgemerzt werden; später dann, nach­dem die kleine Gartenoase vollendet war, mussten die beiden Jungen immer aufpas­sen, dass der gnadenlose Wildwuchs des Waldes, mit seiner wurzelhaft wühlender Kraft, nicht von au­ßen herandrän­gte und den empfindlichen Gartenpflanzen die Le­benskraft raubte, womit all das ziemlich schnell zerstört sein würde, was sie mit viel Phantasie und viel Eifer aufgebaut hatten.

Doch bis es soweit war, dass sie sich der Pflege ihres Wer­kes zuwenden konnten, bis die Samen ausgesät, die Jungpflan­zen auf den Beeten und Ra­batten ihre gleichmäßig grünen In­seln bildeten, bis Sträucher und Büsche in verschiedener Dichte und Größe dem Auge das wohlbekannte, abgestufte Pro­fil eines hübschen Ziergartens anzeigten, musste noch hart gearbeitet werden, mussten sie etliche Wochen lang tagaus, tagein zwischen Heimat­dorf und Runenweiher hin- und herpen­deln, zumeist mit einem Lei­terwagen, und auf ihm die Gartenbäume und Sträucher zum See befördern, was eine verdammt anstrengende, vor allem eine zeitraubende, nervtötende Arbeit war: Birken und Ahornbäume, solche von der buntblättrigen Sorte, transpor­tierten sie zum See, außerdem Liguster- und Hartriegelsträucher und na­tür­lich die unvermeidliche, elegante Alpenrose, alle von Elmars Vater in einer Baumschule gekauft. Aber auch der Wald selbst öffnete ihnen seine Schatz­kammern, bot ihnen, während sie tief in seine gewaltigen Gemächer ein­drangen, einige herrlich gewachsene Waldginsterbü­sche an, die sie sogleich ausgruben und ebenfalls auf dem Leiterwagen herankarrten, meist über holpriges Gelände, bestenfalls auf groben, über­wurzelten Pfaden, die oft mitten im Wald endeten, und sie pflanzten sie dann in ihren neu angelegten Ziergar­ten ein, wie die anderen auch, nachdem sie den Boden noch einmal kräftig umgegra­ben und mit Torf ver­bessert hatten. Joachims Eltern, die gute Beziehungen zu einem Gärt­ner hatten, ver­schafften ihnen immer einen günstigen Rabatt, ja, manchmal machten sie es sogar möglich, dass sie die eine oder andere Staude, die bald auf ih­ren Beeten zu einem bunten Blü­tenleben erwachten, von dem Gärtner geschenkt be­kamen. Doch der Mühen war noch kein Ende: Sie sollten ja noch einen das Auge freundlich zum Aus­ruhen einladenden Steingarten anlegen, und zwar seitlich an der Terrasse. Also mussten erst einmal Steine herangeschleppt, guter Mutterboden aus Walderde, Sand und Torf gemischt, außerdem Polsterstau­den in reicher Zahl einge­kauft werden, und nachdem dies geschehen, nachdem alle diese Pflanzenjuwele, zunächst noch unansehnlich grün ausschauend, eingegra­ben waren, dauerte es nicht mehr lange, bis die stolzen Kohorten der Früh­jahrs- und Sommerblüher nacheinan­der ihre Farbteppi­che direkt vor der Ter­rasse prachtvoll und bunt entroll­ten: zuerst das gelbe Steinkraut und das dunkelviolette Blau­kissen, dann der karminrote Riesen­steinbrech und die Küchen­schelle mit ihren zartvioletten Blütenblättern und gelben Kelchen. Ihr folgten bald das weißleuchtende Hornkraut mit seinen silbrigen Blättern und Stängeln sowie die duftend­blauen Glocken der Campanula; schließlich - als krö­nenden Abschluss - entfalteten die rotvioletten und die rosa-weißen Blü­ten der Flam­menblume ihren ganzen feurigen Charme. Auf den Rand­beeten, wo ein Drahtzaun die kleine Kulturlandschaft von dem Wald trennte, prang­ten wie selbst­verständlich in allen denkbaren Farbtönungen die Polianda- und Floribundarosen, und in den beiden Winkeln des hinteren Zaunes streckte ab August, jeweils aus dichten Horsten, der Sonnenhut seine gold­gelb strahlenden Köpfe empor. -

Doch wo war all diese Herrlichkeit geblieben? Vergeblich suchte Elmar ei­nige seiner Gartenlieblinge wiederzufinden. Es war buchstäblich nichts mehr vorhanden; nur von den Birken und Ahornen stand noch je ein Exemplar, aber kläglich dahinküm­mernd, weil fast vollständig zugedeckt von urwüchsig wuchernden Schlehen und Heckenkirschen. Und die Gartenbeete? Der Zaun war selbstverständlich nicht mehr da. Inner­halb des Bereiches, den er einst schützend umhegte, war alles von Brenn­nesseln und Queckenhorsten über­wachsen; dazwischen schossen einige Jungfichten in verschiedener Größe platzgreifend empor; im übrigen war der von ihnen einst un­ter großen Mühen urbar gemachte Boden von bizarr durcheinanderlaufenden Baum­wurzeln zerschnitten und zerschunden. Keine Spur mehr von den prachtvollen Rho­dodendrenbüschen! Der grüngoldene Liguster, die buntblätt­rigen Hartriegel­sträucher - wie vom Erdboden verschluckt! Und der Waldginster, jener stolze Strauch mit sei­nen im Frühsommer goldfunkelnden Blütentrauben? Auch er verschwunden in dem Gewirr von Brennnesseln und buschigem Wollgras!

Elmar bückte sich. Zwischen zwei buckligen Grasbüschen hatte er etwas entdeckt, einen Backstein. Also doch ein Überrest! Aber von Moos überzo­gen. Er gehörte of­fenbar zu den Grundmauern ihres Hauses. Er hob ihn auf, betrachtete kurz das zer­bröckelte, rissige Gebilde und warf es dann in ho­hem Bogen in den See, dorthin, wo nach seiner Vorstellung auch die übrigen Teile des Hauses versunken waren. Viel­leicht hatte ein Sturm das morsch gewordene Holzhaus ir­gendwann zum Einsturz ge­bracht, zahlreiche Balken mochten ins Wasser gefallen und abgetrieben sein; andere waren viel­leicht eines Tages von irgendeinem Bauern samt den Ziegelsteine, die er vielleicht gut gebrauchen konnte, abtransportiert worden. Das Holz hatte er vermut­lich verfeuert, die Ziegelsteine anderweitig verwendet, vielleicht als Grundmau­ern für einen neuen Stall.

In Gedanken verloren, setzte sich Elmar auf einen Baumstumpf, sein Blick wanderte den Weg entlang, den er gerade gekom­men war, hielt bei einer vereinzelt stehenden Pyramidenpappel an, durch welche der Wind wie ra­send hindurchging. Er erinnerte sich, den Baum schon in frühester Jugend so beobachtet zu haben, in gleicher Größe und Gestalt; ja das Bild seiner unbändig im Wind hin und her schwankenden Krone schien ihm plötzlich so ver­traut, als stände dort ein alter Bekannter und grüßte mit heftiger Gebärde zu ihm herüber, um seiner wilden Freude über ihr Wiedersehen Ausdruck zu verleihen. Da dieser Baum für ihn gleichsam das Verbindungsglied zu den früheren Zeiten darstellte, reizte es ihn, die alte Zeit wieder in Erinnerung zu­rückzurufen. Dagegen musste erst einmal ein anderer, warnender Ge­danke niederge­rungen werden, der ihm riet, die alten Geschichten, statt sie zu seinem Miss­vergnügen zu neuem Leben zu erwecken, lieber in den ver­schlossenen Schubfächern seines Gedächtnisses ruhen zu lassen.

Doch das Verlangen, gerade dies zu tun, das heißt die Schubfächer aufzu­schließen und in Augenschein zu nehmen, regte sich bei ihm, es regte sich umso mehr, je stär­ker er den Wunsch verspürte, von seinen künftigen Alp­träumen befreit zu werden, die vielleicht noch belastender, noch qualvoller sein könnten, als die Erinnerung an irgendwelche unguten Ereignisse seiner Vergangenheit. Instinktiv ahnte er, es hätte Vorfälle um Ulrike Düsterwald und um Julia gegeben, an denen er beteiligt gewesen war und die bei ihm ein schlechtes Gewissen, ja ein Schuldgefühl ausgelöst hatten. Welche Vor­fälle das waren, wusste er nicht mehr genau. Er hatte alle Erlebnisse, die mit Julia zusammenhingen, weitestgehend verdrängt. Sein Entschluss damals, sich niemals mehr des Kapitels, das Julia Lambertz hieß, zu erinnern, führte im Laufe der Zeit dazu, dass ihm der ganze Beziehungsknäuel entglitt, dass sich in seinem Ge­dächtnis, was die Erlebnisse mit Julia im Einzelnen betraf, eine große, weiße Fläche herausgebildet hatte. Doch diese Fläche - über­legte er - wenn er auf sie jetzt wieder die Bilder dieser bestimmten, anvisier­ten Phase seines Lebens projizierte - könnte sich das für ihn nicht doch po­sitiv auswirken? Könnte er nicht, indem er den Sperr­riegel seines Verdrän­gungs­mechanismus löste und die genannten Schubfächer, wo seine Erleb­nisse mit Julia Lambertz sozusagen ausgelagert waren, ge­nauer inspizier­te, durch ein solches gezieltes Erinnern den Gang jener Er­eignisse in seiner Folge­richtigkeit erst richtig erkennen und verstehen und sie auch am Ende richtig verarbei­ten? Klar - sagte er sich - das wäre doch immerhin möglich. Den gan­zen verdrängten Erlebniskomplex, der sich in seiner Seele zu dem bekann­ten unseligen Störfaktor ausgewachsen hatte, zum Wohle seines künftigen Nachtschlafes unschädlich zu ma­chen - etwas Besseres könnte ihm doch gar nicht passieren! Heilen durch Erinnern, diesen Spruch hatte er irgendwo einmal gelesen. Er bekam für ihn jetzt eine aktuelle Bedeutung. So sah er in seinem Vorhaben, in die Vergangenheit zurückzukehren, schließ­lich keine Alternative mehr. Jedenfalls die andere Möglichkeit, einfach diesen Ort der Erinnerung wieder zu verlassen und nach Waldstädten zurückzukeh­ren, kam für ihn nicht mehr in Frage. Und also überwand er ziemlich schnell seinen Widerwill­en gegen das Heraufbeschwören früherer Zeiten, er negierte auch die wei­ter in ihm hochtreibenden und heftig wider­sprechenden War­nungen vor solchen Rückblicken, sondern erteilte seinen Gedanken den Befehl, die ge­waltige Distanz, die ihn von jenen Ereignissen trennte, im Nu zu überbrü­cken. Gleichzeitig heftete er seinen Blick unverwandt auf den sich im brau­senden Wind weiter hin- und herbiegenden Baum, als ob er für ihn der Weg­weiser zu den alten Zeiten wäre, als ob er ihn nur lange genug an­starren müsste, schon wären seine zurückeilenden Gedanken in der versun­kenen Welt angekommen. Und in der Tat trat etwas Seltsames ein: die kleine Scholle, auf der er regungslos auf dem Baumstumpf saß, be­gann sich wieder dem Zustand von ehedem anzunähern, auch der See selbst und der Topen­bühl samt den ausgedehnten Steinfirstwäldern veränderten etwas ihr Ausse­hen, aber eigentlich brauchten sie das nicht, sie sahen ohnehin wie früher aus. Die Zeit lief rückwärts und seine Gedanken liefen mit, sie durch­eilten die Jahre und Jahrzehnte, tauchten tief hinab in die Vergangenheit, die wie ein Lichtjahre entfernter, winziger Sternennebel, allmählich größer und größer werdend, auf ihn zukam; immer näher schwebte er heran, der Nebel, und wurde schließlich zu einer Wolke, die sich ständig vergrößerte, und aus ihr schaute bald irgend etwas heraus, zunächst in Umrissen, dann, nachdem die Nebelschleier sich verzogen, trat dieses Etwas in kristallener Schär­fe hervor: es war - ihr Blockhaus von einst! Auf solidem Backsteinfundament gebaut, stand es auf einmal vor ihm, mit gediegenen Holzwänden, von de­nen das Flachdach, an allen Seiten vorspringend und gegen Regenschauer und ste­chende Sonne Schutz bietend, getra­gen wurde. Der wildüberwach­sene Waldboden vor der Terrasse verwandelte sich in einen zauberhaften Garten, freundlich leuchteten ihm die Frühlings- und Frühsommerblüher un­ter den Stauden entgegen, und die ersten Rosen hatten ihre wunderschönen Blüten bereits entfaltet. Verblüfft stellte Elmar fest: Die Zeit hatte sich ver­wandelt, er war wieder in der Jugend. Er stand mit einem Jungen vor dem Häuschen und betrachtete mit ihm ehrfurchtsvoll den Garten, welchen sie kurz zuvor vollendet hatten. Der Junge war Joachim Schaller, sein Jugend­freund.

Ulrike D.

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