Читать книгу Einer von vier - Helen David - Страница 10

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Kapitel 2

Der Vorfall hatte sich herumgesprochen. Überall, wo ich in den nächsten Tagen hinkam, mieden die Engel, beziehungsweise die anderen fertigen Menschen mich, sahen mich entweder gar nicht erst an oder blickten schweigend weg, sobald ich mich ihnen näherte. Von Zeit zu Zeit kam es auch vor, dass sie sich von mir entfernten. Ich kam mir vor, als wäre ich leprakrank. Als wäre ich aussätzig. Zumindest wurde ich so ähnlich behandelt. Vielleicht hätte ich mir eine Rassel besorgen sollen, damit ich die anderen gleich vorwarnen konnte, wenn ich in der Nähe war. Von den Erzengeln ließ sich bis dahin gar keiner mehr bei mir blicken. Es war wirklich nicht komisch und mittlerweile wünschte ich mir, einfach den Mund gehalten zu haben. Was musste ich mich da auch einmischen? Alle anderen hielten sich doch auch raus. Ich war ja so dumm. Raphael hatte Recht, ich verstand wirklich nichts davon. Was wohl Luzifer selbst sagen würde, wenn er mich gehört hätte? Das wollte ich mir lieber nicht vorstellen.

Ich seufzte, setzte mich unter einen Magnolienbaum und blickte über den wunderbaren Garten, der um mich herum war. Das sprichwörtliche Paradies. Hier war ich jetzt also und eigentlich hätte ich doch mit mir und der Welt zufrieden sein müssen. Ich hatte es geschafft; bloß warum fühlte ich mich nicht wohl? Warum fühlte ich mich nicht so leicht und unbesorgt, wie ich mich eigentlich fühlen müsste? Da drüben flog ein schöner Vogel von einem Baum zum anderen. Ich streckte die Füße aus und lehnte mich an den Stamm. Ich hörte Schritte hinter mir und blickte hinter mich. Da stand Raphael. Leicht unruhig, in Erwartung einer weiteren Zurechtweisung drehte ich mich weg und schaute auch nicht hoch, als er um den Baum herumkam und sich vor mich stellte.

„Geht es dir gut?“

Ich nickte, schaute aber auf seine Füße. Es stimmte wirklich, Engel waren wunderschön. Auch ihre Füße.

„Gabriel hat sich schon wieder beruhigt“, sprach er mich erneut an und setzte sich dann zu mir. Ich nickte. „Gut.“ Ich spürte seinen Blick.

„Du musst dich deswegen nicht so schlecht fühlen. Es ist nur so, dass wir alle wirklich ziemlich angespannt sind und -“

„Hmhm“, unterbrach ich ihn zustimmend. Irritiert blickte Raphael mich an. „Wieso plötzlich so still?“ Ich zog die Schultern zusammen. „Du musst mir das nicht erklären. Ich versteh es ja. Ich habe dumme Dinge gesagt. Das habe ich als Mensch auch manchmal getan. Das war meine Schuld.

Es wird nicht wieder vorkommen.“ Raphael wollte etwas sagen.

„Nein, wird es nicht“, versicherte ich. „Ich werde mir eine sinnvolle Beschäftigung suchen und Ruhe geben.“ Mit einem Nicken unterstützte ich meine Aussage.

„Ich wollte gar nicht -“

„Doch, genau das werde ich tun. Nur wäre es vielleicht hilfreich, wenn die anderen mich nicht immer so anschauen würden, als wäre ich aussätzig.“ „Du gehst am besten zu den anderen Menschen. Geh zu ihnen und frage einfach, was du machen kannst. Wir haben eine Menge zu tun für euch, da ihr ja…wesentlich weniger seid, als wir ursprünglich gedacht haben…“

„Ja!“, meinte ich zustimmend und stand schwungvoll auf.

„Dann… sehen wir uns.“

„Ja!“ Ich nickte noch einmal, ehe ich mich motiviert durch den Garten auf den Weg machte.

Auch meine neue Stimmung blieb ebenso wenig lange verborgen. Aber ich war entschlossen, keinen Ärger mehr zu machen und mich einfach anzupassen. So vergingen einige Tage und langsam wurden auch die anderen wieder ruhiger und konnten sich in meiner Gegenwart entspannen. Scheinbar waren wir alle auf dem Weg der Besserung. Und ich hätte auch wieder richtig zur Ruhe kommen können, wäre da nicht irgendwo in meinem Unterbewusstsein immer noch dieses seltsame Gefühl, etwas tun zu müssen. Und vor allem hörte dieses nagende Schuldgefühl nicht mehr auf, viel zu lange nichts getan zu haben das ich seit diesem Nachmittag hatte. Sollten wir es wirklich einfach so zu Ende bringen? Dass es zu Ende ging und gehen musste, war allen klar und das war überfällig, aber wirklich so? Wenn Luzifer nun gewaltsam zurückgebracht wurde, und er dann, nach so vielen Jahren wieder hier wäre, wie würde das sein? Er würde zwar eingesperrt und unter ständiger Aufsicht sein, aber was würde das für uns alle bedeuten? Wie würde es uns damit gehen?

„Wie geht es dir?“, holte mich plötzlich eine Stimme aus den Gedanken. Ich blieb stehen und schaute verwundert um mich. Unter einem Baum saß Gabriel. Ich kniff die Lippen kurz zusammen und starrte ihn an. „Gabriel…ich bin gerade auf dem Weg nach -“

„Du hast meine Frage nicht beantwortet.“

„Was hast du denn gefragt?“ Sein Blick ging kurz gegen den Boden. „Ich habe dich gefragt, wie es dir geht“, wiederholte er etwas reserviert.

„Gut. Es geht mir gut. Es ist alles in Ordnung, ich meine, ich bin wieder in Ordnung. Ich lebe mich hier schon ganz gut ein“, meinte ich und setzte mich. „Und bei dir?“ Er schien nicht ganz zu wissen, wie er meine Stimmung interpretieren sollte.

„Alles ist gut, soweit man das sagen kann.“

Ich nickte. Von wegen. Überhaupt nichts war gut. Zwischen uns herrschte immer noch Anspannung.

„Hast du dich inzwischen damit abgefunden?“, fragte er dann nach kurzem Zögern. Ich drehte den Kopf. „Womit denn?“

„Du weißt schon, was ich meine…“ Er hörte sich genervt an.

„Ach das! Oh ja, sicher. Ich sagte doch schon -“

„Und wieso bist du dann ständig so abgelenkt?“

„Bin ich doch gar nicht…“

„Doch, das bist du schon.“ Sein Blick ruhte auf mir und er wartete auf eine klare Antwort. Ich schluckte. „Vielleicht…denke ich ja doch noch ab und zu an das, was da neulich passiert ist…“

„Vergiss es einfach!“, wurde ich sofort zurechtgewiesen. „Wir werden Luzifer so herbringen, wie es ausgemacht wurde und er wird hart bestraft werden und Schluss! Komm du bloß nicht wieder auf dumme Gedanken!“

Ich stand auf. „Ich sagte doch schon, dass es mir egal ist! Macht, was ihr wollt! Es geht mich nichts an. Und ich muss jetzt los, ich habe noch etwas zu erledigen.“ Mit den Worten ließ ich ihn sitzen und machte mich auf den Weg.

Trotz meiner mehrfachen Beteuerung, mich damit abgefunden zu haben, blieb ich in den nächsten Tagen unter Gabriels Beobachtung. Egal, wohin ich ging, egal, was ich dort machte, er war immer auch schon da. Es hatte auch Vorteile, ein Erzengel zu sein, aber langsam ging es mir auf die Nerven. Was sollte ich denn sonst machen? Ich hatte doch schon alles gesagt. Wie lange wollte er das noch durchziehen? Ich atmete genervt aus, als ich einmal mehr seinen prüfenden Blick spürte. Es dauerte keine zwei Sekunden, ehe eben erwähnter Erzengel reagierte und auf mich zugeschritten kam.

„Was ist denn schon wieder?“ Ich schüttelte merklich den Kopf und atmete tief aus. Jetzt reichte es. Ich war kurz davor, zu explodieren. Allein die Tonlage hatte schon ausgereicht, um mich fuchsteufelswild zu machen. Ich atmete einmal tief durch und dann stand er schon neben mir. Die beiden anderen Menschen, die eben noch dagestanden hatten, waren respektvoll ein Stück zurückgewichen.

„Ich versuche lediglich, mich zu entspannen…“

„Du siehst nicht gerade sehr entspannt aus“, kam es von ihm. Ich blickte auf und nickte zustimmend. „Ja, das ist richtig. Und weißt du auch, woran das liegt?“ Seine Augen verengten sich zu Schlitzen. „Ich höre?“

„Das liegt daran, dass du mich wie eine Schwerverbrecherin behandelst und mich keine Sekunde mehr aus den Augen lässt!!“, fauchte ich ihn an. Er schnappte nach Luft –

„Wieso sperrst du mich nicht einfach auch gleich ein, dann kommst du vielleicht endlich wieder zur Ruhe!“ Beinahe hätte es eine zweite Ohrfeige gesetzt, wenn nicht in dem Moment Michael dazwischen gegangen wäre: „Beruhigt euch alle beide mal wieder!“ Sein Blick wanderte von Gabriel zu mir.

„Das brauchst du mir nicht sagen!“, gab der mühsam beherrscht zurück. Ich atmete tief durch und fuhr mir mit der Hand durchs Haar.

„Du wirst es vielleicht nicht verstehen. Aber dieser Engel, wenn man ihn überhaupt noch so nennen kann, ist nicht einen der Gedanken wert, die du dir andauernd seinetwegen machst!“ Ich gab erstmal keine Antwort.

„Und außerdem ist er völlig verbohrt!“, setzte Gabriel nach. Ich musste lachen: „Ihr seid alle verbohrt. Luzifer hat nicht nur Unrecht und ihr habt nicht nur Recht. Wieso reagiert ihr alle so ablehnend auf meinen Vorschlag, wir quälen uns doch nur, warum denn bloß?“

„Gut, in Ordnung! Ich gebe ja zu, dass wir zu lange gewartet haben, aber jetzt interessiert es uns nicht mehr, wie Luzifer zu alledem steht! Er muss endlich wieder dahin zurückgebracht werden, wo er hingehört!“

„Ich bin mir sicher, dass wir uns alle wieder vertragen könnten, wenn wir nur mal miteinander reden würden…“ Ich erntete ein bissiges „Pfff!“. Gabriel drehte sich gereizt weg. Ich drehte ihm ebenfalls den Rücken zu und blickte Michael an.

„Was denkst du eigentlich dazu?“

„Ich halte das auch nicht für eine gute Idee.“

„Aber warum denn nicht? Wir stehen doch eh schon mit dem Rücken zur Wand. Schlimmer als jetzt kann es nicht mehr werden.“

„Ja, das haben wir die letzten zweitausend Jahre auch einige Male gedacht!!“, fuhr Gabriel mich so scharf an, dass ich zusammenzuckte.

„Das war nur leider jedes Mal ein erneuter Irrtum! Aber wenn wir schon beim Thema sind - stell dir mal eine ganz andere Frage: wo genau willst du denn hingehen? Da runter? Am besten wieder nach Italien, direkt zu diesen Kriegstreibern, die mit Deutschland verbündet sind? Vielleicht auf direktem Weg ins Zuchthaus?!“ Unsicher geworden sagte ich erst mal kurz nichts. Gabriel machte sofort weiter: „Siehst du, was auf der Erde gerade los ist?!“

„Ja, sicher.“

„Dann sei doch bitte vernünftig und lass es endlich gut sein.“ Mein Blick wanderte zu Michael; auch er schüttelte den Kopf. „Das kannst du wirklich nicht tun. Es ist viel zu gefährlich und außerdem unverantwortlich. Wir könnten hier oben keineswegs für deine Sicherheit garantieren.“ Plötzlich wurden wir von einer Stimme abgelenkt.

„Er will euch sprechen - alle drei.“ Gabriel drehte sich um. Uriel, ein ebenfalls hochstehender Engel, aber kein Erzengel, stand hinter uns. Würde ich jetzt von höchster Seite Ärger bekommen?

Unmerklich registrierte ich, dass Gabriels Stimme zitterte. „Worüber sprechen?!“

„Über das, worüber ihr gerade streitet. Ihr habt das nicht zu entscheiden und ich genauso wenig“, gab Uriel zurück.

Den ganzen Weg zur Halle zurück hörte ich Gabriel knirschen; er lief energisch neben Uriel her. „Das kann ich nicht glauben! Was gibt es denn da noch zu sagen? Wahrscheinlich will er nur diesen albernen Streit beenden - du -!“ Ich blieb abrupt stehen, als er sich kurz umdrehte und mit dem Finger auf mich deutete. „Wirst deine unsinnige Position klar schildern, dich nicht herausreden und nicht versuchen, irgendwie weiter zu überzeugen, wir haben genug Ärger!“

Auf dem Weg zu der Halle, in der alles vor einigen Tagen begonnen hatte, kamen wir an einigen Menschen vorbei, die respektvoll zur Seite traten, ehe sie ihren Beschäftigungen wieder nachgingen. Sie waren sicher alle froh, dass sie das nichts anging. Ich seufzte leise, als die Tür in die Halle geöffnet wurde.

Drinnen stand Immanuel, der den Erzengeln noch übergeordnet war und als einziger in direkter Verbindung zu Gott stand. Ein klares Zeichen, wie weit das ganze vorgedrungen war. Ich schluckte nervös und blickte automatisch zu Gabriel, der mir einen weiteren, vernichtenden Blick zuwarf von der Sorte: da siehst du, was du angerichtet hast!

Wir traten ein und die Tür wurde geschlossen. Ein kalter Schauer jagte mir über den Rücken. Am liebsten wäre ich augenblicklich aus der Halle geflohen. Michael zeigte sich am professionellsten angesichts der Umstände und kam zu ihm.

„Du wolltest uns sprechen?“

„Ich hatte Raphael zu euch schicken wollen, aber der ist augenblicklich verhindert“, begann Immanuel ernst. „Wir können so etwas nicht einfach ignorieren.“ Gabriel kam direkt zu ihm; allein durch seinen Blick konnte man erkennen, dass er ihm zustimmte. „Natürlich nicht. Auch wenn wir andere Sorgen haben!“ Immanuel kam auf mich zu. „Dir ist nicht ganz klar, was du da sagst“, richtete er nun das Wort an mich und das war keine Frage.

„Es ist mir schon klar, überlegt doch mal -“

„Ich glaube nicht, dass es ihr klar ist!“, kam es scharf von Gabriel und er wandte sich an Immanuel. „Was ist denn deine Meinung dazu? Ist es sehr sinnvoll, sie hinunterzuschicken, angesichts der Umstände und -“

Er pausierte kurz. „und Luzifer zu überzeugen, sich freiwillig zu ergeben? Ich meine, das würde uns eine Menge Arbeit ersparen…“ Die Bemerkung troff vor Hohn. In mir rumorte es gewaltig. Wieso nur war er der einzige, der dermaßen respektlos mir gegenüber war? Alle anderen mochten von dem Vorschlag auch nicht angetan sein, aber sie waren wenigstens nicht so gemein. Immanuel wandte sich erneut zu mir. „Das Ganze funktioniert nicht. Es ist zu gefährlich, es ist viel zu aufwendig…“

„Und vor allem wäre es sinnlos vergeudete Energie und Zeit, die wir nicht mehr haben. Wir müssen eine Entscheidung treffen und zwar jetzt. Luzifer hat sich vor langer Zeit von uns abgewendet; er hat uns mehr als deutlich seine Feindschaft demonstriert und wird auch nie mehr so werden wie früher. Sonst wäre er längst wieder zurückgekommen. Er wird sich nicht freiwillig ergeben, also müssen wir ihn mit Gewalt holen, wenn wir das alles beenden wollen. Die Menschen und die Gewalt auf der Erde werden von ihm immer wieder angefacht“, fasste Michael seine Sicht der Dinge zusammen. „Ich sehe das genauso. Wir bleiben bei unserem geplanten Vorgehen“, kam es von Gabriel. Uriel ging derweilen um den Brunnen herum und setzte sich dann. „Was hatte Gott dazu zu sagen?“, fragte er mit ernstem Gesicht an Immanuel gewandt. Der seufzte kurz und räusperte sich: „Er wird es sich bis morgen überlegen.“ Gabriel war nicht sicher, ob er richtig gehört hatte. „Wie bitte? Soll das heißen, sie bekommt die Erlaubnis eventuell doch?!“ Michael sah ebenso entgeistert aus. Immanuel blickte sie alle an. „Das ist nicht unsere Entscheidung.“

Der nächste Tag war kein guter für Gabriel; ob er für mich gut war, musste sich erst noch herausstellen.

Immanuel war schon da um mich zu informieren ob ja oder ob nein.

Es war schließlich keine leichte Entscheidung und die meisten hier, ob Menschen oder Engel, welchen Standes auch immer, waren klar dagegen. Aber das letzte Wort hatte Gott selbst und niemand sonst. Wenn er ja sagte, konnte ich gehen, wenn nicht, dann nicht. Egal, was sonst jemand dazu meinte. Gabriel warf mir von oben einen angespannten Blick zu, als ich an der langen Treppe die ins Innere des Palastes führte stand. Der Blick war mehr als deutlich.

Ich war so nervös. Raphael, Michael und Immanuel gesellten sich oben zu ihm. Es würde sowieso nicht erlaubt werden, sagte ich mir, während ich die ersten Stufen emporschritt. Denk doch mal nach, Mädchen: Gerade mal einige Wochen? Lächerlich, für hier oben und so eine wichtige Entscheidung viel zu kurz. Und viel zu gefährlich. Immanuel würde mir nur mitteilen, dass ich mich endlich zurück zu den anderen begeben und nicht weiter darin herumwühlen sollte. Niemals würde es mir erlaubt werden. Schon die kurze Beratung sprach dagegen.

Während ich die weißen Stufen immer weiter heraufschritt dachte ich über die letzten beiden Jahre hier nach. Sie waren so schnell vergangen. Ich war überrascht, und gleichermaßen glücklich und erleichtert gewesen, hier zu sein. Keine Krankheiten, kein Leid und kein Hunger mehr. Ich musste nicht mehr arbeiten, um eine Familie zu ernähren, nachdem unsere Mutter plötzlich an Tuberkulose gestorben war. Die Krankheit hatte damals mit zu den häufigsten Todesursachen gezählt. Manchmal hatte das Geld nicht einmal gereicht, um uns allen ein Abendessen zu geben. Fünf Kinder waren wir gewesen. Ich war die älteste und musste damit auch die Verantwortung übernehmen. Ich musste die Schule aufgeben und arbeiten. All das hatte ich nun hinter mir. Die Stufen nach oben wurden immer weniger. Das Herz rutschte mir in die Hose. Komischerweise wusste ich jetzt, wo ich so nah dran war nicht einmal, welche Antwort mir mehr Angst machte. Wenn ich gehen durfte? Oder wenn ich bleiben und es auf sich beruhen lassen musste? Ich war oben. Immanuel hatte kurz gewartet und kam nun auf mich zu. Die verbliebenen drei Erzengel wussten auch noch nicht, wie die Sache nun entschieden worden war. Auch sie hatten hier nicht mehr mitzureden. Ich atmete tief durch und versuchte, mich etwas zu beruhigen, da ich mir gerade mehr als unwürdig vorkam, hier zu sein.

„Du kannst gehen.“

„Was?“

„Du hast die Erlaubnis, erneut hinunter auf die Erde zu gehen und dich um Luzifer zu kümmern.“ Immanuel machte es kurz. Ich schwieg.

„Was ist denn los? Warum plötzlich so still?“

„Ich weiß eigentlich überhaupt nicht, wie ich diese ganze Sache angehen soll…“

„Es war dein Vorschlag und niemand hier zwingt dich. Du kannst noch immer nein sagen.“

„Was genau kommt denn auf mich zu?“

„Du wirst wieder einen menschlichen Körper bekommen, genau wie Luzifer und sollst direkt mit ihm zusammen…“ Er suchte nach dem passenden Ausdruck.

„Zeit verbringen?“, half Gabriel zynisch aus.

„Ja. Wir werden dafür sorgen, dass ihr zusammenkommt. Du wirst, wenn du da unten bist, wissen, wo du ihn findest.“

„Und was passiert dann, solange Luzifer auf der Erde ist mit seinem Prinzip?

Sendet er das weiter aus?“ Raphael schüttelte den Kopf. „In der Zeit wird er das nicht können. Die Sache ist die, es ist so viel negative Energie überall in der Welt, dass diese kurze Zeitspanne, in der er es nicht aussenden kann, keinen Unterschied machen wird. Du kannst also wie jeder andere noch immer von seinem Prinzip getroffen werden. Allerdings solltest du wissen, dass, je länger er in einem menschlichen Körper gefangen ist, auch mit der Zeit wieder mehr und mehr seine wirkliche Person durchstrahlen wird.“

„Du meinst, die Menschen könnten etwas merken?“

„Irgendwann mit Sicherheit.“

„Weiß…er schon davon?“

„Er wird es zumindest mitbekommen haben. Aber was genau passieren wird, weiß er nicht.“

„Mitbekommen haben…“, murmelte ich unsicher. „Und wie soll dieses Zeitverbringen aussehen, da unten herrscht fast überall Krieg, es ist 1944, wie…ich meine wo sollen wir hin?“ Diese Frage klang so dämlich, dass ich mich selber dafür schämte, als Gabriel mit seinem Urteilsblick vor mir stand. „Wir haben die Nacht darüber geredet und es wäre vielleicht besser, wenn ihr gar nicht hier und jetzt beginnt, sondern noch einmal zurückgeht in die Zeit, als alles besonders schlimm geworden ist“, meinte Immanuel ernst zu mir.

„Ist das denn möglich?“, fragte ich fassungslos. Immanuel nickte nur.

„Welche Zeit meinst du?“

„Das 15. Jahrhundert.“

„WAS?!“ Jetzt kam wieder Leben in Gabriel; er war ebenso erschrocken wie ich.

„Das kommt nicht in Frage - ein falsches Wort von ihr und sie wird als Hexe verbrannt! Von der Folter gar nicht erst anzufangen! Damit würden wir ihm ja wohl die perfekte Steilvorlage zu einem schnellen Ende liefern! Das ist der wohl unpassendste Moment menschlicher Geschichte!” Er war extrem aufgebracht.

„Wir haben das erst auch gedacht aber er meinte, dass gerade diese Umstände ein rascheres Umdenken bei Luzifer begünstigen können. Er wird schließlich auch in einem menschlichen Körper sein. Das betrifft ihn also auch.“

„Aber sicher“, kam es zynisch und wütend zugleich und ich musste nicht erwähnen, von wem. „Das möchte ich sehen. Er windet sich da schon raus, aber was ist mit ihr? Die Zeit passt ihm doch perfekt in den Kram“, meinte Gabriel und ich hatte das Gefühl, zum ersten Mal den ganzen Ernst der Situation voll zu erfassen.

Einer von vier

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