Читать книгу Einer von vier - Helen David - Страница 12

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Kapitel 4

Gestank war das erste, das ich wahrnahm. Ich musste ohnmächtig gewesen sein und richtete mich mühsam im Sitzen auf. Fühlte sich das im ersten Moment alles fremd an. Ich war so schwer. Weder wusste ich, wie lange ich schon hier war, noch hatte ich eine Ahnung, wo ich überhaupt war. Mein Kopf tat weh. Es dauerte einen Moment, ehe ich die Umgebung um mich herum deutlich wahrnahm. Ich saß auf einem nach vorne gekippten Karren; mit der rechten Hand spürte ich Stroh um mich herum, mit der linken fühlte ich Holzplanken - zumindest war ich noch nicht so lange von hier weg gewesen, dass ich damit nichts mehr anfangen konnte, so fremd kam es mir nun doch nicht vor.

Just, als ich mir einen Spieß einzog, schreckte ich endgültig hoch. „Auah!“ Mein erster Blick galt dem dummen Holzspieß in meiner Hand; ich hatte tatsächlich wieder einen richtigen Körper; fasziniert strich ich mir über meine Arme. Und mir fiel auf, dass ich alles hatte, was ein Körper mit sich brachte, als ich den kalten Wind spürte. Wo war ich hier? Mein zweiter Blick galt meiner Umgebung. Zwar war ich darauf vorbereitet gewesen, in welcher Zeit ich landen würde, aber trotzdem blieb ein Schock nicht aus. Es roch eklig. Es war feucht und zugig - und wie die Leute aussahen! Genauso, wie man es in der Schule gehört hatte. Die Frauen trugen lange Kleider und Hauben, die Männer Kappen oder flache, breite Hüte, teilweise Strumpfhosen. Freilaufende Ziegen, Schweine, Hühner und Hunde sah ich durch die Gasse streunen. Ich schlug mir leicht gegen die Wange. Nein, ich war wirklich wach. Es war ein Gedränge, Geschiebe und Lärm um mich herum. Ich war tatsächlich im Mittelalter. Aber wann genau? Und wo? Weder das eine noch das andere konnte ich sagen, als ich auf dem Strohhaufen in dem nach vorne gekippten Karren saß und meine Hand begutachtete -

„Vorsicht da unten!“ Mit den Sitten und Bräuchen dieser Zeit nicht vertraut, registrierte ich überhaupt nicht, dass in dem Moment ich gemeint gewesen war; ich blieb stattdessen sitzen und versuchte, den blöden Spieß aus meiner Hand zu kriegen, ehe ich mich dem Kulturschock, der in der lauten, dreckigen Gasse, die mich da vorne erwartete, aussetzen musste. Im nächsten Moment platschte eine stinkende Brühe neben mir auf das Stroh; entsetzt sprang ich auf und wich zur Seite - „Igitt!“ Exkremente! schoss es mir durch den Kopf. Das ist ja widerlich! Mein Blick schoss nach oben und ich versuchte, das Haus und das Fenster auszumachen, aus dem der Nachttopf entleert worden war. Vorsichtshalber trat ich drei, vier Schritte von dem Karren weg, um nicht noch mal in so eine Situation zu geraten; was ich, wenn ich es nicht getan hätte, auch sofort bereut hätte, denn es folgte eine Ladung Küchenabfälle - es stank und ich musste würgen. Das waren keine Gemüsereste - das waren Tierinnereien. Oh Gott. Was hatte ich mir da angetan? Mein erster Impuls war, erneut zu würgen und mir durch die Haare zu fahren - aber ich ließ es bleiben, nachdem ich die hygienische Lage endgültig erfasste. Gegen meinen Willen ließ ich meine Arme fallen und schüttelte sie aus. Ich brauchte erst einmal Wasser, um meine Hände zu waschen.

Als ich in die Gasse kam, bemerkte ich zwei Dinge gleichzeitig - erstens, dass der Gestank nicht nur von den Dingen kam, die die Leute hier aus den Fenstern kippten, sondern, dass er überall in der Luft hing. Ich ließ meinen Blick umherschweifen und es war kein großes Rätsel, warum; Küchenabfälle und Tierexkremente überall in den Gassen, natürlich keine Toiletten; die Menschen selber rochen ziemlich streng - kein Wunder, dass es hier stank. Das zweite, das mir auffiel war, dass die ganze Umgebung, die ich nun wahrnahm, mein ganzes Umfeld, tatsächlich genauso aussah, wie ich es mir immer vorgestellt und in Büchern gelesen hatte: enge Gassen, Tiere, Menschen, Ratten, die überall hin und her huschten, streunende Hunde, Katzen, Abfälle, Schreiner, Gerber, Händler, Handwerker bei der Arbeit, Geschrei, Gespräche und das alles auf engstem Raum - der endgültige Beweis, dass ich mich im mittelalterlichen Europa irgendeiner größeren Stadt befand. Der Himmel war bleigrau und voller Wolken. Ich konnte mir anhand der Sprache schon denken, wo ich wohl sein musste.

„Verzeihung? Welche Stadt ist das hier?“, wandte ich mich an einen an mir vorbei durch die enge Gasse kommenden Händler. Er schaute mich einen Moment sehr seltsam an, als hätte ich eine furchtbar dumme Frage gestellt. „Entschuldigen Sie, ich bin nicht von hier.“, setzte ich nach.

„Signorina - Sie sind in Florenz. Einer der bedeutendsten Städte Italiens und Europas.“

„Florenz?“ Ich war tatsächlich wieder in Italien. Das war vielleicht gar nicht so schlecht. Damit konnte ich schon einiges anfangen; aber ich war ja scheinbar nicht gerade im Nobelviertel gelandet. Als ich mich ebenfalls umdrehen und weitergehen wollte, hielt der Mann mich zurück; er kam auf mich zu, seinen leeren Wagen hatte er ein paar Meter entfernt stehen lassen. „Signorina -“

„Ja?“ Ich drehte mich um. Er schaute mich erneut an und schüttelte den Kopf. „Sie sollten hier nicht alleine bleiben.“ Mein Blick musste ganz schön begriffsstutzig sein, denn er setzte nach: „Zu viel Gesindel treibt sich hier herum - Männer, die nur auf Frauen warten, die alleine unterwegs sind; ganz besonders nachts. Sehen Sie zu, dass Sie nicht alleine herumlaufen. Suchen Sie sich einen männlichen Begleiter!“ Er schaute sich um. „Haben Sie eine Möglichkeit dazu? Bekannte hier in der Gegend?“

Luzifer! Den hatte ich völlig vergessen! Er ist oben im Wald, schoss es mir durch den Kopf -

„Einen Mann - ja sicher, ich habe da jemanden, ich muss ihn nur wiederfinden, er ist hier irgendwo. Vielen Dank für die Hilfe.“

Ich hatte es jetzt eilig - wer wusste schon, wie der Engel sich verhielt, ob er dort oben bleiben und auf mich warten oder ob er hier in die Stadt kommen würde; ich hoffte, dass er noch dort war, ich musste da schleunigst hin.

„Und passen Sie auf!“, warnte er mich noch, als ich mich schon entschlossen auf den Weg machen wollte, um zum Stadttor zu gelangen; erneut drehte ich mich um. „Warum, was ist denn?“ Der Mann winkte mich zu sich zurück, wobei er sich unsicher umschaute; seine Nervosität färbte auf mich ab, als ich zu ihm zurückging. „Was ist denn noch?“

„Passen Sie auf sich auf - Sie passen in das Jagdschema der florentinischen Hexenjäger! Kein Wort über Katzen oder Kräuter hier unten in den Gassen!“ Ich wollte etwas sagen, aber der Mann ließ mich gar nicht zu Wort kommen: „Verhalten Sie sich völlig unauffällig, nicht ein Wort über das ganze Gerede, das hier kursiert, es gibt schon genug Verdächtigungen und Anschuldigungen, vielem wird nachgegangen von Seiten der Kirche -“ Langsam bekam ich eine ungefähre Ahnung davon, in welcher Gefahr ich hier eigentlich schwebte; zwei Frauen, die an uns vorbeigingen und mir Blicke zuwarfen, machten es nicht besser.

„Am besten, Sie meiden diesen Teil von Florenz. Es gibt wirklich wesentlich ungefährlichere Ecken.“

„Ich muss in den Wald. Wie komme ich da am schnellsten hin? Ich meine, wie komme ich am schnellsten aus der Stadt?“

„Nicht einfach zu erklären, wenn Sie sich hier nicht auskennen. Am schnellsten sind Sie beim Osttor. Aber das dauert von hier aus eine gute halbe Stunde bis dahin. Sehen Sie die große Kirche, den Turm da hinten?“ Er deutete mit der Hand. Ich folgte seinem Finger. „Den Turm, ja.“ Wie weit mochte der weg sein?

„Gehen Sie in die Richtung, dann kommen Sie am schnellsten zum Osttor.“ Der Händler nahm seinen Karren wieder auf und machte sich auf den Weg durch die Gasse.

Auf dem Weg zum Stadttor bot sich fast überall der gleiche Anblick: Händler, Handwerker, Tiere; die Häuser waren dicht an dicht gebaut und ständig ging mein Blick nach oben, um nicht wieder etwas fast auf den Kopf zu bekommen. Die Ratten waren überall, genau wie die streunenden Hunde und Katzen. Immer wieder fielen mir unterm Laufen undurchsichtige Gestalten auf, Bettler und Kranke, die am Rand der Straßen hockten und um etwas zu Essen baten; wer wusste schon, wie viele Diebe sich hier herumtrieben. Ich schien wirklich die schlechteste Ecke erwischt zu haben.

Diese Stadt war riesig. Seit fast einer Stunde irrte ich nun umher durch die Gassen. Eine halbe Stunde, das war leicht gesagt, wenn man sich auskannte. Ich war extrem angespannt, denn ich stand unter Druck. Ausgerechnet jetzt hatte ich keine Zeit zu verlieren, ich musste Luzifer schnell finden, sicher würde er da oben nicht ewig warten. Wenn Luzifer den Wald erst verließ, würde ich ihn vielleicht gar nicht mehr kriegen, zumindest nicht so leicht. Wie weit war es denn noch bis zum Tor? Ich traute mich nicht recht, die Leute anzusprechen, dann wäre ich sicher um einiges schneller gewesen, aber wenn ich an jemand falschen geriet, bekam ich vielleicht Probleme. Ich hatte mich zwar die ganze Zeit über an dem Turm der Kathedrale orientiert, aber es gab so viele Gassen und Abzweigungen, dass ich zwangsläufig irgendwo falsch abgebogen war. Mehr als einmal hatte ich umdrehen und noch einmal zurückgehen müssen, weil ich den Turm aus den Augen verloren hatte. Immer wieder wurde ich geschubst und gestoßen. Ich kam aus einer weiteren langen Gasse auf einen größeren Platz, von dem aus ich auch endlich den Turm wieder sah. Nun war er schon deutlich näher als vorher. Die Kathedrale musste gleich da drüben sein. Ich hatte mich doch nicht verirrt und bewegte mich in die richtige Richtung. Da vorne war das Osttor. Ich war so erleichtert, aus der engen, stickigen Gasse raus zu sein, dass ich nicht auf meine Umgebung achtete und im nächsten Moment stolperte ich über jemanden, der auf der Straße lag.

„Entschuldigen Sie bitte, ich -“ Verwirrt blickte ich auf die Person; sie gab keine Antwort. Langsam richtete ich mich wieder auf. Brühwarm fiel es mir ein. Ich erinnerte mich an den Anblick. Ein Pockenkranker. Das sah zumindest sehr nach Pocken aus. Die ältere Frau neben ihm war tot. Krankheiten. Das hatte ich komplett vergessen. Und sie waren nicht die einzigen, auf dem kleinen Platz lagen etliche Männer und Frauen. Es war schwer zu schätzen, wie viele von ihnen noch am Leben waren. Ich blieb kurz stehen und sah mich um. Die Leute gingen hin und her, niemand schien sich daran zu stören, hier scheinbar ein ganz normaler Anblick. Nur einige Angehörige saßen bei den Kranken und versuchten sie zu pflegen.

Endlich stand ich vor dem Tor. Sobald ich Luzifer gefunden hatte, war ich in Gefahr. Ich wusste nicht, wie er reagierte; das war meine letzte Chance, das Ganze abzubrechen. Aber das konnte ich nicht machen. Ich hätte keine Ruhe mehr. Ich hatte es ja so haben wollen, jetzt musste mich dem stellen. Der Wald war gleich hinter den verschneiten Olivenhainen, die sich um die Stadt herum die Hügel hinaufzogen. Eine halbe Stunde Fußmarsch, vielleicht etwas mehr. Ich drehte mich zum T or zurück. Soldaten standen rechts und links daneben und sorgten dafür, dass es ruhig zuging. Bei den vielen Menschen, die aus der Stadt oder in die Stadt wollten war das nur vernünftig. Ich hatte keine Ahnung, was ich tun sollte, wenn ich auf den Erzengel traf.

Es ging durch die ersten verschneiten Olivenbäume leicht bergauf. Der Weg war stellenweise rutschig und glatt. Im Sommer war das sicher ein toller Anblick, wenn man hier auf dieser Anhöhe stand und über die Stadt blicken konnte. Ich schaute hoch zum Wald und fragte mich, wie lange es dauern würde, Luzifer zu finden.

Während ich bedächtig immer weiter dem Weg folgte, der zum Wald hochführte, versuchte ich, nicht an die möglichen Szenarien zu denken, die in den nächsten Stunden und Tagen folgen könnten. Ich würde Luzifer viel zu früh finden, dessen war ich mir sicher. Das hier war meine Schuld. Und er war mit absoluter Sicherheit wütend auf mich. War Engelswut genauso wie menschliche Wut? Konnte ich ungefähr ahnen, was auf mich zukam? Würde es so ähnlich wie bei Gabriel sein? Hatte er sich im Griff? Wenn ich an die Ansagen Gabriels dachte…mir wurde flau im Magen. Ich blieb kurz stehen und schaute nach vorne. Der Wald lag direkt vor mir. Vielleicht sollte ich mir irgendeine Art Waffe besorgen - ein stabiler Stock, das wäre immerhin etwas als Verteidigung, sollte er mich angreifen. Aber das tat er nicht - es passte nicht zu ihm. Unsicher stand ich zwischen den ersten Bäumen. Ich hörte in der Entfernung Hirsche röhren. Niemand war zu sehen. Das war schon mal gut, keine Menschen bedeutete kein Ärger. Ich konnte nur hoffen, dass ich bei unserem ersten Treffen das unweigerlich bevorstand, allein mit ihm bleiben würde.

In einiger Entfernung lagen neben einer abgeholzten Pinie mehrere Äste; das sah doch gut aus, einen davon könnte ich brauchen. Ohne lange zu zögern ging ich zu der Stelle und besah sie mir kurz, bevor ich den am stabilsten aussehenden Ast aufhob und meine Chancen abwog. Er war gut 1,20 Meter lang; ich brach alle störenden Zweige und Blätter ab und hatte so einen Stock, mit dem ich im Notfall zuschlagen konnte. Zunächst machte ich ein paar Probehiebe in die Luft und auf den Waldboden, um mein Können zu testen. Das tat ich zwar nur äußerst ungern, aber wenn Luzifer mich angreifen sollte, hatte ich keine andere Wahl. Er steckte in einem menschlichen Körper und das bedeutet, er war genauso verwundbar wie jeder andere. „Was tust du da?“ Eine helle Stimme ließ mich innehalten; nachdem ich mehrmals auf den Baumstumpf eingeschlagen hatte, blieb ich stehen; das war mit Sicherheit nicht seine Stimme. Es klang weiblich - ehe ich mich noch selbst umdrehen konnte, kam mein Besucher zu mir; ich blinzelte und ließ den Stock sinken.

War das eine Elfe? Das kleine, geflügelte Wesen sah jedenfalls genauso aus. Ich erinnerte mich, da oben ab und zu welche gesehen zu haben. Aber hier auf eine zu treffen, das war das letzte, womit ich gerechnet hatte. Mir fehlten erstmal die Worte und ich kam mir bereits im nächsten Augenblick ziemlich dumm vor.

„Willst du Luzifer damit schlagen?“

„Äh nein - ich…das…das ist nur - falls er sich mir gegenüber aggressiv verhält.“ Bei diesen Worten nahm ich meinen Ast wieder auf und packte ihn fester; die Elfe blickte mich nur wortlos an. Ich schaute grimmig zurück. „Erzähl mir nicht, dass er das nicht fertigbringen würde!“

„Du als Mensch kannst sein Verhalten doch gar nicht richtig einschätzen.

Ich kenne Luzifer noch von früher sehr gut. Er schlägt keine Menschen.“

„Stimmt, er lässt schlagen.“

„Er ist inzwischen viel zu emotionslos, um so etwas zu tun.“

„Wer bist du überhaupt? Hat er dich geschickt? Sollst du mich zu ihm bringen?“ Die Elfe schüttelte den Kopf. „Nein, ich nehme nur Befehle vom Licht entgegen; da Luzifer nicht mehr dazugehört, hat er mir nichts zu sagen. Ich habe nur deine Aura gespürt, die verrät deine Gefühle und Gedanken, deswegen bin ich hergekommen. Ich muss jetzt wieder los. Luzifer ist hier in der Nähe. Du musst noch eine Meile in diese Richtung laufen.“

Sie deutete auf einen Pfad, der sich zwischen den Bäumen hindurchwand. „Dort ist eine Art Hain mit mehreren großen Felsen, wo du direkt auf ihn triffst. Er wartet schon auf dich.“

„Hat er das etwa gesagt?“, wollte ich aufgeregt wissen. Meine Muskeln spannten sich an. „Hat er sonst noch etwas gesagt?! Weiß er, wer ich bin?“

„Nein, er hat nichts weiter gesagt. Ich habe mich auch nicht länger bei ihm aufgehalten. Wie gesagt, er gehört nicht mehr zu uns.“

Mit diesen Worten verschwand die Elfe wieder. Ich stand einen Moment einfach nur da und war irgendwie fassungslos. Da trifft eine Elfe auf einen Engel und die beiden haben sich nichts zu sagen. Kopfschüttelnd bückte ich mich und nahm den Ast wieder auf.

Einer von vier

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