Читать книгу Einer von vier - Helen David - Страница 11

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Kapitel 3

Erst jetzt wurde mir wirklich bewusst, in was für Schwierigkeiten ich mich gebracht hatte. Alle hatten versucht, mich abzuhalten aber ich wusste es ja besser, musste es ja besser wissen. Deprimiert saß ich unter demselben Baum, bei dem Raphael versucht hatte, mich aufzumuntern. Diesmal brauchte ich keine weiteren aufmunternden Worte, denn die hätten eh nichts genützt. Ich hatte von den anderen in den letzten Tagen niemanden gesehen und ich wollte niemanden sehen. Mir war selbst nicht klar, warum ich so reagierte. Aber jetzt, wo mir bewusst war, dass ich wirklich Zeit mit Luzifer verbringen konnte, es aber in einer dermaßen von Aberglauben, Angst vor der Hölle und dem Teufel und Gewalt geprägten Atmosphäre tun musste, wurde mir ganz anders. Ich hatte mir vorgestellt, dumm wie ich war, dass wir vielleicht irgendwo auf einer Farm wären, dass er einmal das Leben von uns Menschen kennenlernen konnte, weit weg von Gewalt, Hunger und Elend und ich ihn irgendwie überzeugen könnte. Es ging darum, dass er sein Prinzip nicht mehr aussendete, damit stand und fiel alles.

Vielleicht hätte er dort irgendwie versuchen können, all die dunkle Zeit hinter sich zu lassen, aber mitten in dieser dunklen Zeit? Das konnte nicht klappen, und ich würde mich vor allem wirklich in Gefahr begeben. Er könnte mich jederzeit denunzieren - ein falsches Wort würde genügen, wenn nur irgendwer dahinter kommen würde…wie viele tausende Frauen waren gefoltert und hingerichtet worden, weil irgendjemand sie der Hexerei bezichtige? Ich würde auf dem Scheiterhaufen enden. Verbrannt für eine Überzeugung, die niemand teilte. Vor allem musste ich auch damit rechnen, und das wäre noch der harmlosere Fall, selbst Zeuge solcher Brutalitäten zu werden. Und die ganze Zeit sein ausdrucksloses Gesicht dabei - nein! Ich würde das nicht machen, das war schierer Wahnsinn!

Energisch stand ich auf; ich würde allen sagen, dass ich zur Vernunft gekommen und auf keinen Fall bereit war, diese Sache anzugehen, weil es einfach zu gefährlich für mich war. Ich hatte weiß Gott kein Bedürfnis, auf einer Folterbank zu enden und er würde mir nicht helfen, darüber brauchte ich mir keine Illusionen zu machen. Es wäre ihm mit Sicherheit recht, dann wäre er schnell wieder raus aus dieser ganzen Sache. Wenn das die Bedingungen waren, dann war ich dagegen. Niemand wäre sauer auf mich, es hatten ohnehin alle versucht, mich abzuhalten. Eventuell hatten sie ähnliches schon geahnt. Auf jeden Fall hatten sie Probleme gesehen, die ich nicht wahrgenommen hatte. Ich war gerade auf halbem Weg aus dem Garten und lief in Richtung des Palastes, als ich in einiger Entfernung Gabriel stehen sah. Er war alleine und sah ziemlich nachdenklich aus. Aber anders als in den letzten Tagen schien er eher in der Vergangenheit zu schwelgen. Dachte er über Luzifer nach? Ich blieb stehen und blickte zu ihm hinüber. Eigenartig, ich war doch eben noch so entschlossen gewesen. Fast gegen meinen Willen ging ich langsam zu ihm; er bemerkte mich nicht einmal, bis ich wirklich neben ihm stand und mich dann langsam im Gras niederließ.

„Hallo.“ Ein schweres Schlucken mit kurz geschlossenen Augen; ein sicheres Zeichen, dass er niedergeschlagen war. Das passte so gar nicht zu ihm; passte nicht zu dem Erzengel, den ich die letzten beiden Jahre mitbekommen hatte und vor allem passte es nicht zu den letzten Wochen.

„Hallo.“

„Was ist mit dir?“

„Ich weiß es nicht…“, gab er zu. „Ich war bisher so wütend, so aufgebracht…über dich und deinen unsinnigen Vorschlag - ich habe an gar nichts anderes mehr gedacht…“ Ich nahm ihm die Bemerkung nicht übel. „Und jetzt, wo du nicht mehr wütend sein kannst, kommen die Sorgen wieder, richtig?“

„Ja.“ Kurz sagte keiner von uns etwas.

„Also um mich brauchst du dir jedenfalls keine mehr zu machen, ich werde es nicht tun.“

Er drehte den Kopf und schaute mich kurz verwirrt an. „Wieso?“

„Na, weil es schierer Wahnsinn wäre. Unter diesen Bedingungen ist es mir zu gefährlich. Ich meine, er würde die erste Gelegenheit nutzen, mich zu verraten und du weißt, was… das bedeutet.“ Gabriel seufzte tief: „Ja, ich weiß. Wir haben es oft genug mit angesehen. Und ich will nicht darüber nachdenken, dass dir so etwas zustößt. Wir haben nicht viele von euch, wir wollen nicht auch noch dich verlieren…“ Verlieren? Mir lief ein kalter Schauer über den Rücken. Ich war mir nicht sicher ob ich wusste, was er meinte. Ausgerechnet die Zeit, in der die Gefahr mit am größten war…warum nur waren das die Bedingungen?

„Ich habe gehört, dass Luzifer die ihm von Gott gegebene Macht missbraucht hat um die Versuchung der Menschen einzuführen… eigentlich hätte er etwas ganz anderes tun sollen ursprünglich. Stimmt das?“ Gabriel sah mich scharf an. „Woher weißt du das?!“ Ich seufzte in Erwartung des gleich wieder beginnenden Ärgers. „Ich habe euch darüber reden hören. Dich und Michael.“

„So, so. Und wann?“ Ich blickte ihn sehr genau an. „Du weißt schon, wann.“

„Gut, dann hast du uns also belauscht?“

„Das war mehr zufällig. Du hast dich ziemlich über mich aufgeregt und das konnte ich nicht ignorieren und einfach weitergehen.“

Er sagte erst einmal nichts.

Ich war nicht sicher, ob ich noch bleiben oder wieder gehen und ihn lieber in Ruhe lassen sollte. Ich entschloss mich zu letzterem. Gerade, als ich mich umgedreht hatte, sprach er mich doch noch einmal an: „Die Gefahr besteht nicht nur darin, was dir als Mensch dort unten zustoßen könnte. Die Gefahr ist ja noch viel größer. Wer garantiert denn dafür, dass du wieder hierher zurückkommst? Du kannst auch wieder zurückfallen, ist dir das denn überhaupt bewusst?“

Nein, das war mir bisher überhaupt nicht in den Sinn gekommen. Ich starrte Gabriel an. „Du meinst, ich könnte…es nicht mehr hierher zurückschaffen? Ich könnte hängenbleiben?“

„Es ist jedenfalls nicht so unwahrscheinlich, das kommt auch darauf an, wie stark Luzifers Einfluss dich da unten trifft und was mit euch beiden wird. Das kann niemand mit Sicherheit sagen. Es wird an dir liegen. Das Problem ist nur…wenn du hängenbleibst…wirst du nicht mehr genug Zeit haben zurückzukommen.“

Ich stand auf der Marmorterrasse des großen Schlosses; die Sonne war fast untergegangen; von hier hatte man einen herrlichen Blick über den gesamten, riesigen Garten; die Felsen, Wasserfälle, die vielen Bäume und Blumen, es war wunderbar hier. Es war so friedlich. Ganz anders als auf der Erde. Ich lehnte meine Arme an das Geländer und atmete tief durch. Morgen musste ich mich entscheiden; eigentlich hatte ich mich bereits entschieden, aber nach dem Gespräch mit Gabriel gestern war ich wieder unsicher geworden. Trotz seiner Warnung an mich glaubte ich, noch etwas anderes bemerkt zu haben. Er hatte so niedergeschlagen ausgesehen. In die Zeit, in die wir gehen müssten, war das Denken geprägt von extremer Angst vor der Hölle und dem Teufel. Niemand machte sich die Mühe, es wirklich zu verstehen. Dass Luzifer auch immer noch ein Erzengel war, schien niemanden zu kümmern oder die Menschen wussten es schlicht nicht. Er war der Teufel, er war das Böse. Wegen ihm wurden Menschen umgebracht. Fühlte er sich dafür verantwortlich? Zumindest ein wenig? Die seltsamsten Gedanken schossen mir durch den Kopf, während ich dastand und nachdachte. Mir wurde immer bewusster, dass ich würde gehen müssen. Egal was passierte, egal wie die Sache ausging, ich musste es einfach versuchen. Ich würde eben vorsichtig sein müssen. Aber eins wusste ich: ich würde nicht mehr zur Ruhe kommen, was immer die Zukunft auch brachte, wenn ich jetzt einen Rückzieher machte. Nach ein, zwei weiteren Minuten drehte ich mich zum Schloss um und schritt über die Terrasse den breiten Weg entlang auf den Eingang zu.

Gabriel stand direkt neben mir und reichte mir seine Hand. Die Hand, mit der er mich geschlagen hatte. Ich verwarf den Gedanken und nahm sie. Er würde meine Hilfe brauchen, damit seine Kraft überhaupt bis zu Luzifer vordringen und ihn somit aus seinem Teil des Jenseits herausziehen konnte, damit auch er in einen menschlichen Körper auf die Erde gelangte. Das war nur deshalb möglich, weil ich ein Mensch war, und, wie ich anfangs schon erwähnt hatte, meine Energie somit näher an Luzifer herankonnte als die eines Engels, und, weil ich ihm ehrlich helfen wollte. Natürlich passierte es gegen Luzifers Willen. Das Ganze war enorm gegen seinen Willen, aber darauf konnte und wollte ich keine Rücksicht nehmen. Ich packte Gabriels Hand. Ein letztes Mal schaute ich mich um. Diesen Garten würde ich so schnell nicht wiedersehen; ich konnte von Glück sagen, wenn ich wieder zurückkam.

„Ich hoffe, du bist fertig.“ Zum Nicken kam ich nicht mehr. Es fühlte sich an, als würde mir sprichwörtlich der Boden unter den Füßen weggezogen. Wir fielen. Fielen aus dem Paradies in tiefere Bereiche der jenseitigen Welt; ich wurde so schnell müde. Gerade noch hatte ich Gabriels Flügel gesehen. Mein Bewusstsein schwand ebenso rasch und ich kam mir vor wie im Traum, als die verschiedensten Bilder an mir vorbeizogen. Ich sah es nur in Gedanken, meine Augen waren geschlossen.

Alles, was ich noch schwach wahrnahm war, dass ich irgendwie einen Teil von mir hier zurückließ - meinen Körper, den ich hier oben gehabt hatte - und dafür einen anderen, neuen Teil bekam - einen menschlichen Körper, der wieder anfällig und schwach war. Jetzt war ich allein. Noch immer fiel ich und hatte das Gefühl, schwerer zu werden, und schwerer - ich glaubte, Kleidung um mich zu spüren - Gabriel war nicht mehr bei mir. Ich sank nach unten. Das fühlte sich so ungewohnt an; ich war, seitdem ich da oben war, so leicht gewesen, so frei. Nun bestand mein Körper wieder aus Knochen, Sehnen, Muskeln und Haut. Dann war mir, als fiele ich auf einen festen Untergrund.

„Was will sie?“ Seine Stimme klang zunächst leise, hatte aber bereits eine schneidende Tonlage, als er fragte. Der Helfer wich erschrocken zurück wobei er darauf achtete, nicht aus seiner gebeugten Haltung zu kommen. Luzifers Finger verkrampften sich und wurden fast weiß, die Knöchel traten vor. Er hatte ihm den Rücken zugedreht und schien zu überlegen. Er hasste es, auch nur einen Gedanken daran zu verschwenden aber die Umstände zwangen ihn dazu.

„Sie würde überhaupt keine Erlaubnis bekommen, so etwas zu tun, und wer ist sie überhaupt?!“ Seine eisigen blauen Augen blitzten wütend, als Luzifer sich abrupt umdrehte und an seinem Diener vorbeischritt.

Für den hatte er zunächst nicht mehr als ein abfälliges „Lächerlich“ übrig.

„Sie ist ein fertiger Mensch, der anscheinend von sich aus versucht -“

„Seit wann?“, schnitt Luzifer ihm das Wort ab.

„Seit ein oder zwei Jahren erst.“ Ein zynisches Lachen, halb ausgelassen, halb ungläubig: „Ach was. Ist das alles, was ihnen noch einfällt? Was für ein erbärmliches Zeichen von Schwäche, sich an irgendeinen der wenigen fertigen Menschen zu klammern…sie wird sie nur enttäuschen. Dafür sorge ich schon…hast du in Erfahrung bringen können, in welche Zeit sie gehen wird?“

„Die Zeit wird Euch in die Hände spielen…“

„Was denn? Sag nur…etwa in die Zeit der Hexenverfolgung?“ Sein Diener warf Luzifer einen trotz dessen offenkundig wieder guten Laune unsicheren Blick zu.

„Wie praktisch. Ein falsches Wort von ihr und sie wird auf dem Scheiterhaufen landen. Das dürfte ja nicht lange dauern.“ Luzifer wollte sich gerade entfernen, um wieder seine Ruhe zu haben, als ein Geräusch wie Peitschenhiebe die Stille durchschnitt. Der Erzengel reagierte sofort. In diesem Teil des Dunkels wo er sich normalerweise aufhielt, weg von den Schreien, dem Elend und den Qualen der so tief gesunkenen Menschenseelen war es meist still; keine Schreie, Kampfgetöse oder Höllenlärm drangen in diesen Bereich vor. Sein Helfer wurde zur Seite geschleudert, als sich zwei Schlingen um Luzifers Unterarme legten und ihn augenblicklich festhielten. Der aufgebrachte Erzengel versuchte, eine der Schlingen zu lösen, die scheinbar aus dem Nichts gekommen waren; er wusste schon, wem er das zu verdanken hatte - „Gabriel…“, knurrte er; normalerweise würde er nicht mal dessen Namen erwähnen und keinen Gedanken an ihn verschwenden, aber hier schien mehr vorzugehen, als sein Helfer ihm hatte mitteilen können - ein Sog tat sich am Ende des Raumes auf, der rasch anwuchs.

„Jetzt verstehe ich…ich soll bei diesem kleinen Spielchen nun also mitspielen und auch auf die Erde gehen - das könnt ihr vergessen!“ Mit aller Macht zog und zerrte Luzifer an den beiden Schlingen, aber es tat sich nichts, sie blieben fest um seine Arme gewickelt und er spürte, wie sie damit begonnen, ihn aus diesem Bereich, in dem er die letzten Jahrhunderte und sogar Jahrtausende verbracht hatte, gewaltsam wegzuziehen. Er sollte tatsächlich auf die Erde? In einem menschlichen Körper?! Erneut zerrte er mit aller Kraft - nichts. Luzifer schaffte es nicht die Schlingen abzulegen; die Situation schien ernster als gedacht. Wäre Gabriel dazu vorher im Stande gewesen, hätte er das schon längst getan. Aber er konnte nie bis hierher vordringen, um ihn zu erreichen. Warum also jetzt plötzlich? Irgendwas musste sich geändert haben; etwas, das er zunächst offenbar unterschätzt hatte. Luzifer zog ein letztes Mal mit aller Kraft und versuchte gleichzeitig, sich gegen den Sog, dem er sich immer mehr näherte, zu stemmen.

Einer von vier

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