Читать книгу Einer von vier - Helen David - Страница 13

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Kapitel 5

Ich drang in den Wald vor; mit jedem Schritt schlug mein Herz schneller. Ich hatte keine Ahnung, was mich erwarten würde; meine Gedanken gingen von du überlebst keine fünf Minuten bis hin zu vielleicht sitzen wir die nächsten zwanzig Jahre hier zusammen fest. Denn ich hatte keine Ahnung, wie lange die Sache hier gehen würde. Tage, Wochen oder Monate? Vielleicht sogar mehrere Jahre. Mir war mehr als flau im Magen bei dem Gedanken. Aber vielleicht würde auch alles ganz anders kommen, als ich es mir vorstellen konnte; er würde mich nicht töten, das sagte mir mein Gefühl. Nein, das nicht.

Da vorne war der Hain. Ich konnte ihn selbst noch nicht sehen, weil er auf einer Anhöhe lag und ich noch zu weit unten am Weg war, der sich nun steil vor mir wie eine primitive Treppe zu den großen Felsen hinaufwand. Ich blieb kurz unten auf der ersten Stufe stehen und schloss die Augen. Der Ast in meiner Hand sank auf das Laub. Mein heftig klopfendes Herz wollte sich nicht beruhigen. Er kommt nicht herunter, schoss es mir durch den Kopf, als ich einen Blick nach oben riskierte. Er wartet auf mich. Er wird nicht herunterkommen. Immerhin hatte ich uns beide in diese Situation gebracht, nicht er. Also sollte ich mich ihm jetzt gefälligst stellen. Mein Griff um den Ast verstärkte sich und ich schritt schnell und entschlossen die Treppe hinauf.

Seine Augen sind eiskalt und hypnotisch, lass dich nicht dazu hinreißen, ihm zu lang in die Augen zu blicken. Das hatte mir Raphael noch als letzten Rat mitgegeben. Aber es waren nicht nur die Augen, die waren vielleicht bloß der letzte Baustein in mein Verderben. Nein, es reichte schon seine bloße Erscheinung, wenn er dastand; und das obwohl Luzifer ebenso in einen menschlichen Körper gezwungen war. Da war er. Ich hielt den Ast weiter fest und kam langsam auf ihn zu; er stand seitlich zu mir, den Kopf zu den Felsen gewandt, etwa fünf Meter entfernt. Ca. 1,85 m groß, schulterlange, gewellte blonde Haare, ein schwarzes Gewand, das sehr edel aussah. Pass auf! Sei darauf vorbereitet, dass er dich gleich ansieht. Meine Hände krampften sich um den Ast; sollte ich ihn niederschlagen? Das würde ich vermutlich ohnehin niemals schaffen. Ich hatte keine Ahnung, was als Nächstes passieren würde oder könnte. Die Situation war einfach nicht einzuschätzen.

„Falls du darauf wartest, dass ich diesen Stock sinken lasse um dir wehrlos ausgeliefert zu sein, dann wartest du vergeblich!“, platzte es aus mir heraus. Er rührte sich nicht.

„Ich bin sicher, du willst reden!“, sagte ich laut und deutlich und war selbst überrascht, dass meine Stimme nicht zitterte. Er atmete ruhig und regelmäßig weiter; sonst keine Reaktion. Ich hielt den Ast immer noch hoch.

„Ich nehme an, du weißt, dass du das hier mir zu verdanken hast! Wenn du deine Wut also rauslassen willst, dann sag es lieber gleich, aber sei sicher, dass ich nicht hier am Boden vor dir herumkriechen und winseln werde, ich habe keine Angst vor dir!“ Immer noch keine Reaktion. Was musste ich denn noch sagen?

„Komm schon, du willst doch reden? So etwas passt überhaupt nicht zu dir!“, reizte ich ihn. „Einfach nur dazustehen und nichts zu tun, das habe ich jedenfalls gehört!“

Er drehte sich zu mir; ein Ruck ging durch meinen Körper und ich packte den Ast so fest ich konnte; sämtliche Muskeln angespannt und zur Verteidigung bereit stand ich da und starrte ihn an. Seine Augen. Seine Augen! Er wird überall auffallen, überall. Ich kann mich unmöglich mit ihm blicken lassen. Ich wurde davon im ersten Moment so gepackt, dass ich den Ast sinken ließ und meine ganze Körperspannung aufgab. Ich konnte es nicht glauben. Sind das wirklich seine Augen? So, wie er sie auch als Engel hat? Die sind wunderschön. Trotz der Tatsache, dass sie so kalt und lieblos waren.

Ich musste schlucken und gegen meinen Willen empfand ich Ehrfurcht.

Und genau in dem Moment wurde mir bewusst, dass ich mich schäbig verhalten hatte; dass ich mich komplett auf ein dummes menschliches Niveau voll Angst hatte ziehen lassen. Wie konnte ich nur? Ärgerlich packte ich den Stock ein letztes Mal und warf ihn dem Erzengel vor die Füße. Das war also seine Art der Kommunikation. Zumindest war ich nicht weggerannt und hatte mich wie ein ängstliches Kind hinter den Felsen versteckt. Laub wirbelte auf, als ich ihm den Ast vor die Füße warf wie ein weißes Handtuch, um die eigene Niederlage einzugestehen. Die Elfe hatte mich sogar noch gewarnt. So versuchte ich, mir zumindest das bisschen Würde zu bewahren das mir geblieben war und stellte mich gerade hin. Immer noch keine Reaktion von ihm. Ich zuckte die Schultern. „Gut, du hast gewonnen, bist du nun zufrieden?“ Ich setzte mich auf den Boden. Sein starrender Blick folgte mir. Nicht dem Blick ausweichen, schärfte ich mir ein, und so war der nächste Schritt unserer nonverbalen Kommunikation, den anderen schweigend anzusehen. Ich versuchte, etwas aus seinem Blick herauszulesen. Aber so recht gelingen wollte mir das nicht. Da war keine Wut, kein Vorwurf, keine Verwirrung. Aber eins meinte ich zu erkennen; eine Art Verstehen, dass ich ihn in diese Situation gebracht hatte und ein Abwägen über die Konsequenzen seinerseits.

„Gesprächig bist du nicht gerade, oder?“

Dieses erste Treffen mit ihm war komplett anders verlaufen, als ich es erwartet hatte. Luzifer tat nichts. Er stand nur da und starrte die Bäume an. Nach allem, was ich über ihn zu wissen geglaubt hatte, hatte ich mit allem rechnen müssen; von dem Szenario, dass er mich selbst angreifen würde, über das Szenario, dass er bereits Menschen beeinflusst hatte, das zu tun, bis hin zu dem Szenario, dass er gleich dafür gesorgt hätte, dass ich vor die Inquisition kam. Ich hatte mich auf etwas wirklich Riskantes eingelassen. Er war gefährlich und wir alle wussten das. Aber anscheinend hatte ich Luzifer zunächst einmal falsch eingeschätzt. Er unternahm selbst nichts und ließ auch nichts unternehmen. Er war auch nicht zu mir gekommen und hatte mit schmeichelnden Worten versucht, mich von meinem Vorhaben abzubringen. Nichts. Wirklich eigenartig. Er hatte überhaupt noch nicht mit mir gesprochen. Der Erzengel stand einfach nur da, während ich einige Meter entfernt auf einem bemoosten Stein saß, und blickte in den Wald. Eine starke Energie ging von Luzifer aus, das spürte ich, aber es war keine bedrohliche Energie. Ich fühlte keine Angst. Aber dennoch die starke Klarheit darüber, dass ich in Gefahr sein könnte. Das Laub raschelte unter meinen Füßen.

Wann war Luzifer eigentlich aus dem Himmel vertrieben worden?

Keiner der anderen Engel hatte mir diese Frage beantwortet. Vielleicht war es besser, wenn ich das mit der Zeit selbst herausfinden würde.

Vielleicht konnte ich das auch gar nicht verstehen. Wir waren verschieden, auch wenn er im Moment in einem menschlichen Körper steckte, er war und blieb ein Erzengel. In Gedanken wandte ich den Blick ab und versuchte, mich einen Moment auf etwas anderes zu besinnen.

„Luzifer?“ Seine Augen weiteten sich etwas und er drehte sich leicht zu mir zum Zeichen, dass er hörte.

„Hast du diese Elfe eigentlich gesehen? Sie ist mir auf dem Herweg begegnet und meinte…dass du hier bist.“ Erst glaubte ich, er würde mir nicht antworten. Einige Sekunden vergingen. Stille. Ich rechnete schon nicht mehr mit einer Antwort und zupfte stumm an dem Moos am Boden.

„Ruki.“

„Hm?“ Ich blickte auf.

„Die Elfe. Sie heißt Ruki. Wir kennen uns schon lange.“

Eine ganz normale Stimme, ging es mir durch den Kopf. Nichts Kratziges oder Böses; aber was hatte ich denn erwartet? Dass ich dummen, menschlichen Anschauungen glauben durfte? Trotzdem passierte genau das: „Du kannst ja ganz normal sprechen.“ Luzifer schloss kurz die Augen und ein unmerkliches Knurren entfuhr ihm; meine Muskeln spannten sich alle gleichzeitig an.

„Was hast du denn gedacht? Können Raphael und Michael denn nicht ganz normal sprechen?“

Er drehte sich zu mir um und unsere Blicke trafen sich; für einen Moment erstarrte ich innerlich - meine Füße suchten Halt am Boden, während ich mich instinktiv an dem moosigen Felsen festklammerte.

„Doch!“, stieß ich hervor, um dieses schreckliche Schweigen zu unterbrechen. „Aber das ist etwas anderes.“ Auf diese Bemerkung hin ließ er mich stehen; Luzifer schritt an mir vorbei, ehe ich noch etwas anderes sagen konnte, die Stufen hinunter und verschwand zwischen den Bäumen.

Halb bangend und halb hoffend blickte ich in den Wald, während die Sonne langsam unterging. Er kam nicht zurück. Schließlich stand ich auf. „Ist ja ohnehin nicht seine Art“, murmelte ich und klopfte mir den Staub ab. Zunächst einmal musste ich mich um mich kümmern. Feuerholz, ich brauchte Feuerholz. Hier draußen wollte ich ohne Feuer nicht allein die Nacht verbringen. Außerdem war es dazu viel zu kalt. Ich würde mit Erfrierungen rechnen müssen, wenn ich hier kein Feuer machte. Gab es hier in den Wäldern um Florenz Wölfe? Zumindest sollte ich damit rechnen, dachte ich, während ich im Umkreis um den Hain und die Felsen brauchbares Holz zusammensuchte und die stetig sinkende Sonne beobachtete. Plötzlich schoss mir ein erschreckender Gedanke durch den Kopf; was, wenn Luzifer jemanden holte, der mich mitnahm? Hatte ich ihn bereits so verärgert, dass er das tat?

Sie würden ihm sicher glauben, sollte er mich der Hexerei bezichtigen. Hör auf, dir Sorgen zu machen, das bringt dich auch nicht weiter!, schalt ich mich selbst und schlug mit einem geeigneten Stein auf einen zweiten, um Funken zu erzeugen, die einige trockene Blätter zum Glühen und schließlich zum Brennen brachten. Erleichtert setzte ich mich und streckte meine Hände darüber aus. Inzwischen war es fast ganz dunkel geworden. So ist es wirklich schon viel besser, fand ich und legte mich an die Flamme, während ich von jemandem beobachtet wurde, der wusste, dass Feuer zu den verheerendsten Dingen, in diesem Teil der menschlichen Geschichte gehörte.

In dieser Nacht brannten in Florenz wieder die Scheiterhaufen.

Am nächsten Morgen wachte ich recht früh auf; der leichte Rauchgeruch von meiner Feuerstelle und das Zwitschern der Vögel weckten mich schließlich. Noch etwas verschlafen setzte ich mich auf und gähnte. Ich brauchte einen Moment um zu begreifen, wo ich war - erschrocken fuhr ich hoch und blickte mich aufgeregt um - Luzifer? Ich war verwirrt und drehte mich mehrmals um mich selbst, lief zu den Stufen und blickte in den Wald. Niemand. Keiner zu sehen. Weder Luzifer noch jemand anders. Erleichtert seufzte ich auf. Zumindest drohte mir kein weiterer Ärger von Seiten der Menschen hier. Ich setzte mich nach kurzem Überlegen hin und versuchte, ehe ich etwas Weiteres unternahm, mich einmal in Luzifer hineinzuversetzen. Also, was war seine aktuelle Situation? Er war hier auf der Erde in einem menschlichen Körper in Florenz und ich war mir sicher, er wollte weder das eine noch das andere. Wo war er denn normalerweise? Ich versuchte mich an Gabriels Worte zu erinnern. Luzifer hielt sich sonst, und das hieß etwa die letzten achttausend Jahre, in einem von der restlichen Hölle, die sich die Menschen durch ihr schlechtes Handeln selbst geschaffen hatten, getrennten Teil des Jenseits auf. Mehr hatte er mir nicht gesagt und selbst damit konnte ich kaum etwas anfangen. Also war er hingegen der allgemein verbreiteten Meinung nicht direkt in der Hölle und war auch kein Teil der Hölle und schon gar nicht ihr Herrscher. Die Menschen hatten diesen schrecklichen Ort geschaffen, nicht Luzifer. Aber dennoch hatte er etwas Schlimmes getan, sonst wäre er nicht aus dem Himmel ausgestoßen worden, aber was das war, hatte man mir nicht gesagt. Scheinbar etwas, das nicht einfach so wiedergutgemacht oder verziehen werden konnte. Gabriel hatte von einem Speer gesprochen. Es ergab keinen Sinn. Ich dachte angestrengt nach.

Nun war er hier auf der Erde unter den Kreaturen gefangen, die er so verabscheute und daran war nur ich schuld. Wir waren irgendwie aneinandergebunden, für wie lange wussten wir nicht. Was daraus wurde, wussten wir auch nicht, also zumindest ich nicht. Was war denn eigentlich das Denken der Menschen zu dieser Zeit? Die Menschen hier waren der Überzeugung, dass Luzifer der gefallene Engel, der Herr der Hölle war, und nur ein Ziel verfolgte, die Menschen ins Verderben zu stürzen. Sogenannte Hexen, also Frauen, die sich mit ihm verbündet hatten und denen er im Gegenzug übernatürliche Fähigkeiten verlieh, versuchten unter den braven Gläubigen und Kirchentreuen Unruhe und Abfall vom Glauben zu bewirken, um Luzifer diese Seelen dann zuzuführen, was das Verderben der Menschenseelen zur Folge hatte. So oder so ähnlich hatte ich es noch im Kopf. Deswegen mussten die Gläubigen und die Kirche diese Hexen verfolgen und töten. Ich bekam eine Gänsehaut. Das alles hatte doch überhaupt nichts mit der Realität zu tun. Das einzige, was daran stimmte, war die Tatsache, dass Luzifer ein gefallener Engel war, was immer nun auch der Grund dafür sein mochte. Der Rest war kompletter Unfug! Angeblich hatte er sich gegen Gott aufgelehnt und war aus dem Himmel vertrieben worden. Ein gefallener Engel. Aber er war nicht der Herr der Hölle und somit wäre es doch nur logisch, dass ihm eigentlich auch gar nichts an dem Verderben der Menschen liegen konnte. Wenn er die Hölle nicht erschaffen hatte, warum sollte er sie dann wollen? Oder am Bestehen halten wollen? Luzifer war doch immer auch noch ein Engel. Mir fiel ein, was ich damals im Streit zu Gabriel gesagt hatte: Er war doch mal hier, war einer von euch, es ist doch logischer, bei ihm anzufangen! Vielleicht waren Luzifer die Menschen einfach egal. Aber irgendwas musste an dieser ganzen Sache doch dran sein. Die anderen hatten mir nicht mehr sagen wollen.

Ich gelangte wieder zu dem Stadttor, das Florenz von Osten her schützte. Florenz war wirklich eine große Stadt, von den Anhöhen, wenn man aus dem Wald herauskam, hatte man einen tollen Blick über die Größe und die Bauten. Es gab viele Kirchen, den Dom und andere Zeichen des religiösen und kulturellen Lebens. Ich würde mich da unten anfangs niemals zurechtfinden, die Stadt war einfach zu groß und in den vielen engen Gassen, die um den Stadtkern herum waren verirrte man sich viel zu leicht. Überall waren Märkte und Klöster. Mitten durch die Stadt floss der Arno. Ich musste mir erst einmal die grundlegenden Dinge organisieren; wie kam ich an Geld, um Essen und Kleidung zu kaufen und wo sollte ich wohnen? Was gab es denn für Möglichkeiten für mich? Ein Kloster fiel schon mal flach, das wäre der falsche Ansatz. Am besten wäre wohl eine Arbeit in einer Schenke, da konnte ich auf jeden Fall Geld verdienen und vielleicht sogar ein Zimmer bekommen. Und was wurde mit Luzifer? Ihm fiel Geld ja auch nicht vom Himmel her zu. Ich musste beinahe lachen bei dem ironischen Gedanken. Natürlich musste auch er essen. In gewisser Weise hatte ich beinahe ein schlechtes Gewissen, dass ich ihm das zumutete; aber das verging wieder, als ich entschlossen auf das Stadttor zuschritt, vorbei an verschneiten Obst- und Gemüsegärten, die auf mehreren Terrassen um die Stadt herum angeordnet waren. Sie wurden Tag und Nacht von Soldaten geschützt. Aber momentan war es Winter. Und hier gab es weder Heizungen noch Maschinen, die einem das Leben in der kalten Jahreszeit leichter machten.

„Tja, jetzt kann er einmal sehen, wie das Leben als Mensch wirklich so ist…“, meinte ich grimmig und blieb kurz vor dem Tor stehen. Es war geöffnet. Torwächter standen links und rechts, Menschen gingen ein und aus. Händler, Soldaten, Handwerker, Frauen und Männer. Nachts wurde es geschlossen. Ohne Probleme kam ich durch.

Viele Leute drängten sich um mich herum. Bevor ich irgendetwas anderes tat, musste ich eine Arbeit bekommen. Bedienen konnte ja nicht so problematisch sein. Es war vor allem wichtig, keinen Verdacht zu erregen oder gar denunziert zu werden, was hier schnell gehen konnte, das sollte ich noch lernen. Luzifer würde ganz von selbst wieder auftauchen, da war ich mir sicher. Es wunderte mich trotz allem immer noch, wie er sich verhalten hatte. Er musste doch Pläne diesbezüglich haben; er konnte es doch nicht einfach damit gut sein lassen, dass es jetzt eben so war und er hier festsaß.

Die Gassen waren stellenweise sehr eng und es gab eine Menge Leute, die überallhin unterwegs waren. Ich kannte mich nicht aus; ich musste zusehen, dass ich so schnell wie möglich eine Übersicht über die Stadt bekam; ungefähr zu wissen wo ich war und wohin ich gefahrlos gehen konnte, war entscheidend; ebenso, von welchen Teilen der Stadt ich mich besser fernhalten sollte.

Gasthäuser und Kneipen gab es fast an jeder Ecke. Mir blieb nichts übrig, als es einfach zu versuchen und so blieb ich bei der nächsten Gelegenheit stehen. Eine dunkelbraune Holztür versperrte mir den Weg. Ich klopfte entschlossen an und öffnete die Tür; nach zwei, drei Schritten schweifte mein Blick durch den Raum; viel war nicht los. Zwei, drei Leute saßen da und tranken etwas, der Wirt stand hinter der Theke.

„Guten Tag“, sagte ich freundlich. Die Blicke wurden wieder abgewendet, alle bis auf den Wirt schauten weg. Der kam nun auf mich zu und wischte sich die Hände an seiner Schürze ab. „Kann ich Ihnen helfen, Fräulein?“ „Ja, ich hoffe doch, ich suche Arbeit als Bedienung. Gäbe es hier genug zu tun, dass Sie mich einstellen können?“ Die Frage erübrigte sich beinahe. Der Wirt zögerte einen Moment: „Na ja…ich habe zwar genug Kundschaft…“

„Also bräuchten Sie wirklich jemanden? Gerade ist hier ja nicht viel los…“

„Die Hauptgeschäftszeit ist bei uns abends…“

Ich nickte. „Ich verstehe.“ Er schaute mich direkt an. „Ich mache Ihnen einen Vorschlag. Sie arbeiten hier zwei Tage auf Probe, beginnend morgen Abend. Wenn Sie gut sind, können Sie bleiben.“

Die erste Hürde schien ich genommen zu haben; ich hatte hoffentlich Arbeit und war somit unabhängig. Das war schon mal eine Menge wert. Außerdem konnte ich mich hier regelmäßig waschen, wonach ich auch ein dringendes Bedürfnis hatte. „Also morgen Abend um sieben. Ich zeige Ihnen das Zimmer für die nächsten Tage.“ Über eine enge Treppe folgte ich dem Wirt hoch in einen langen Gang, von dem rechts und links Türen abgingen. Am Ende des Ganges gab es ein kleines Fenster, das Licht hereinließ. Wir blieben stehen.

„Hier, die dritte Tür auf der rechten Seite.“ Er steckte den Schlüssel ins Schloss und öffnete sie.

„Danke.“

Was hielt Luzifer wohl von den ganzen Umständen hier? Ekelte es ihn an?

Oder fühlte er etwas anderes? Das Klicken des Schlosses lenkte mich wieder ab und ich konzentrierte mich auf mich.

„Das ist also Ihr Zimmer. Seien Sie morgen pünktlich um sieben unten, es wird ziemlich voll werden.“ Mit den Worten legte er den Schlüssel auf das Bett und schloss die Tür wieder. Ich war alleine. Mein Blick schweifte durch den kleinen Raum; ein Bett, ein Kleiderschrank, ein Spiegel und ein Stuhl. Recht spartanisch, die Einrichtung, aber ich hatte eine Arbeit und einen Platz, wo ich hinkonnte. Vor allem nachts war das wichtig. Ich ging ans Fenster und schaute auf die Straßen; da unten herrschte wirklich reges Treiben. Noch immer hatte ich keine Ahnung, wo ich mich eigentlich befand. Der Wirt wusste das aber auf jeden Fall. Ich bewegte mich vom Fenster weg und hinunter in den Gastraum.

„Kann ich noch etwas für Sie tun?“

„Ja, sagen Sie, könnten Sie mir eine grobe Skizze von Florenz aufzeichnen?

So gut kenne ich mich noch nicht aus und das wäre wichtig für mich.“

„Ja ich verstehe. Warten Sie hier.“ Er verschwand um die Ecke und kam kurz darauf mit einem Stück Papier zurück.

„Nun schauen Sie mal her“, meinte er und ich folgte ihm um die Theke. „Da sind wir.“ Ich betrachtete die Zeichnung, die kurz darauf vor mir lag, im Ganzen. Überall Kirchen und andere Prachtbauten.

„Also wir sind hier, im Ostteil der Stadt - das ist der Südteil - der Nordteil - der Westteil. Aber machen Sie sich keine Sorgen, bald beginnt der Karneval, da werden Sie sich automatisch schneller zurechtfinden müssen, als Sie denken. Es ist dann abends unglaublich viel los.“ Die Worte nahm ich in dem Moment nicht richtig wahr. Ich versuchte stattdessen, mich auf dem Plan etwas zu orientieren. Allein der Osten war riesig.

„Kann ich die Skizze behalten?“

„Natürlich.“

„Das ist eine große Hilfe für mich, vielen Dank.“

Der nächste Morgen war sonnig und beinahe wolkenlos. Der Schnee glitzerte auf den Hängen rund um die Stadt; in Florenz selber war er meist matschig und schmutzig, was bei all dem Durchgangsverkehr auch kein Wunder war. Nach einem kurzen Frühstück ging ich mit der Skizze in der Hand nach draußen. Es war viel los: überall Stände, Händler, Marktbesucher. Ich kam gerade aus einer Gasse. Es war schon etwas seltsam, all die Sitten hier zu sehen, die für diese Zeit völlig normal waren, wie die Nachttöpfe aus den Fenstern zu kippen. Immer, wenn ein Fenster geöffnet wurde, ging ich schnell weiter oder hielt erstmal an. Die Ratten, Schweine und Ziegen überall zwischen den Leuten waren ebenso Teil des Stadtbildes, wie die herrenlosen Hunde und Katzen und die eng aneinandergebauten Häuser, in denen es oft nur ein einziges Zimmer gab, in dem sechs oder mehr Personen hausten. Immer wieder schaute ich neugierig durch die offenen Türen, wenn gerade jemand reinging oder rauskam. Das alles hatte ich zwar in Büchern gelesen, aber es selbst zu sehen war etwas ganz anderes. Das Leben hier war scheinbar wirklich so, wie man es sich immer vorstellte. Eng, laut, direkt aufeinander. Ich war ehrlich froh, mein eigenes Zimmer zu haben, so dass ich zumindest meine Privatsphäre hatte. Ich hatte es tatsächlich gut getroffen, fand ich, als ich so manche Frau frierend durch die Gassen laufen sah.

Teils sogar ohne Schuhe, da sie sich wohl keine leisten konnten. Und das im Winter.

Auf dem nächsten Markt sah ich einen Stand mit schönen Kleidern. Wenn ich mir so etwas auch einmal leisten könnte! Nun, dafür würde ich etwas arbeiten müssen. Manche Kleider waren innen für die jetzige Jahreszeit mit Fell und Wolle gefüttert. Neugierig ging ich um den Stand herum und schaute mir alles an. Ich würde mir auch ein solches Kleid kaufen, beschloss ich. In zwei Monaten könnte ich es mir leisten. Ich sah zwei vornehmer aussehende Damen aus einer Kutsche aussteigen, die nun ebenfalls auf den Stand zukamen.

Wie extrem die Gegensätze hier waren! Ich erinnerte mich, eben die frierende Frau ohne Schuhe gesehen zu haben und nun zwei Damen in einer Kutsche.

Ich blieb nachdenklich neben dem Händler stehen.

Der bediente umgehend die beiden Frauen, die etwas mehr Geld dabeihatten als ich. Zwei an mir vorbeilaufende Männer rissen mich allerdings aus der gesamten Szenerie.

„Warst du heute schon auf der Piazza?“

„Nein, ich komme gerade erst aus dem Haus, was ist denn?“

„Lass uns mal hinschauen, dann wirst du es sehen. Der Rauch hat sich bereits gelichtet.“ Ich schaute ihnen hinterher. Rauch? Piazza? Welche Piazza? Hatte es gebrannt? Ich nahm die Skizze zur Hand. Es gab viele Plätze, zu viele, um auf die Schnelle daraus schlau zu werden und so folgte ich den beiden. Und dann fiel es mir ein - Hexen! Ich blieb abrupt stehen. War es das, wovon sie geredet hatten?

Die Männer redeten aufgeregt miteinander und ich hatte Mühe, sie in dem Trubel nicht zu verlieren. Rauch war nicht zu sehen. Mit jedem Schritt in Richtung Stadtinneres klopfte mein Herz schneller. Ich blieb kurz stehen und versuchte mich zu beruhigen. Ich musste mich zusammenreißen, was blieb mir anderes übrig? Ich ahnte, was ich gleich zu sehen bekommen würde - irgendjemand rumpelte mich im Vorbeigehen unabsichtlich an und ich setzte mich wieder in Bewegung. Ich sah die beiden Männer in einiger Entfernung - wie hypnotisiert ging ich weiter; nach einigen Metern vermischte sich der dreckige Geruch in den Gassen mit einem beißenden Geruch, den ich vorher noch nie wahrgenommen hatte - dem Geruch von verbranntem Fleisch. Die Menschen um mich herum nahm ich kaum noch wahr. Dann kam ich aus einer Gasse auf einen großen Platz und fand bestätigt, was ich befürchtet hatte. Ich blieb stehen, benetzte meine Lippen, schloss meine Augen und öffnete sie wieder. Nichts änderte sich an dem Bild, das ich vor mir sah.

Mitten am Platz war aus Holz ein Scheiterhaufen aufgebaut; viel war nicht mehr zu erkennen, aber es war trotzdem noch deutlich genug zu sehen, dass es zwei Leute gewesen waren; nur noch verkohlte Überreste von Körpern zeugten von dem, was hier letzte Nacht passiert war. Na ja, dachte ich sehr resigniert. Damit hatte ich rechnen müssen. Entmutigt drehte ich mich zu den Leuten um, die links und rechts über den Platz liefen. Was war denn mit denen allen los? War ihnen das etwa egal? Ab und an sah ich eine gewisse Scham, Anteilnahme, Trauer oder was immer es sein mochte in ihren Augen. Manche senkten die Köpfe, wenn sie an dem aufgeschichteten Holz vorbeiliefen, manche wurden schneller. Aber vielen schien es auch völlig gleichgültig zu sein; sie kamen und gingen. Ich stand einige Meter neben dem Scheiterhaufen; manche Leute blieben sogar stehen und schienen das Ganze interessant zu finden; angeregt diskutierten sie, wie, wann, warum. Ein Teil von mir wollte schreien, aber ich riss mich zusammen, so aufgewühlt ich auch war. Hier auffällig zu werden brachte mir gar nichts außer der Gefahr, dass diese florentinischen Hexenjäger auch noch auf mich aufmerksam wurden. So warf ich einen letzten Blick zurück und verließ dann die Piazza.

Einer von vier

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