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Kapitel 4

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Joshua

Raus.

Joshua atmete die frische Luft tief ein und der Kies knirschte auf dem Pfad unter seinen Füßen, als er sich weiter vom Seiteneingang des Schlosses entfernte. Er wusste, dass er über Darius' Zurückweisung hätte erleichtert sein müssen. Immerhin war er von der Vorstellung, sich selbst so anzubieten, nicht begeistert gewesen. Aber Darius war so angewidert gewesen. Offensichtlich dachte er, dass Joshua vollkommen verachtenswert war.

So sehr er es auch versuchte, Joshua war davon unweigerlich tief verletzt.

War er ein Heuchler? Er wollte nicht anders behandelt werden, weil er hübsch war, aber jetzt war er aufgebracht, weil Darius seinem Aussehen nicht wie so viele andere verfallen war? Warum war es ihm wichtig, was Darius in sexueller Hinsicht von ihm hielt? Wenn Darius nicht mit ihm schlafen wollte, war das eine gute Sache. Denn Joshua wollte sich definitiv nicht dazu überreden, dieses Tier flachzulegen.

Warum war er also so bedrückt deswegen? Und warum erinnerte sich ein kleiner Teil von ihm noch immer an diesen anfänglichen, kurzen Funken der Lust, den er bei der Zeremonie verspürt hatte?

Raus.

Seit diesem schrecklichen Moment waren ein paar Tage vergangen, in denen dieses Wort ununterbrochen in Joshuas Kopf widergehallt war, obwohl er Darius überhaupt nicht gesehen hatte. Jedes Mal, wenn er sich Darius' Ekel vorstellte, überkam ihn Scham. Vielleicht war das nur eine normale menschliche Reaktion darauf, angeschrien zu werden? Niemand mochte das, oder?

Wahrscheinlich war es das Beste, dass sie sich in dieser Zeit nicht über den Weg liefen. Aber es warf die Frage auf, wie Darius reagieren würde, wenn sie sich irgendwann wieder trafen. Würde er noch immer wütend sein, oder es vergessen haben? Da er niemanden hatte, mit dem er seine Gedanken besprechen konnte, verlor Joshua bei all diesen Fragen ein wenig den Verstand.

Denn offensichtlich konnte er nicht mit Darius über diesen Streit sprechen. Aber Victor hatte in seinem Brief sehr deutlich gemacht, dass Darius erwartete, auf eheliche Weise umsorgt zu werden und wenn Joshua sich noch nicht von ihm hatte ficken lassen, sollte er es im Grunde jetzt tun.

Oder die Konsequenzen tragen.

Joshua war nicht mal sicher, was zur Hölle das heißen sollte. Bedrohte Victor noch immer seinen Vater? Stand die Unterstützung für die Familien der Angestellten auf der Kippe? Oder ging es um etwas Intimeres?

Bedrohte er Joshua selbst?

In dieser Sache war er sich nicht sicher. Ihm war alles genommen worden, darunter auch der Zugang zur Außenwelt über das Internet. Was könnte Victor ihm noch antun? Es war, als wäre er im Gefängnis. Woher wollte er überhaupt wissen, ob er und Darius bereits miteinander im Bett gewesen waren? Joshua musste aufhören, sich so viele Gedanken zu machen.

Dieser Brief war seit der Hochzeit Joshuas einziger Kontakt zur Außenwelt gewesen, da Bartholomew, der Butler, ihn darüber informiert hatte, dass sich die Verlegung der Internetkabel als extrem mühselige Aufgabe entpuppte. Joshua hatte schuldbewusst gesagt, dass sie es nicht tun müssten, aber Bartholomew hatte einfach nur den Kopf geneigt und versprochen, dass es erledigt werden würde.

Irgendwann.

Victors Brief hatte ihm definitiv keinen Trost gespendet. Victor hatte sehr deutlich gemacht, dass er hier das Sagen und alle Fäden in der Hand hatte. Wie die unheilvollen grauen Wolken, die gerade über ihm hingen, als er über den Pfad ging, wartete Joshua nur darauf, dass der Sturm in beiderlei Hinsicht losbrach.

Er schob die Hände tiefer in seine Manteltaschen, als er über das kalte und windige Schlossgelände ging. Es wäre zu großzügig, es als Gärten zu bezeichnen, denn soweit Joshua es beurteilen konnte, war alles dem Wildwuchs überlassen worden oder wegen Vernachlässigung eingegangen. Offensichtlich hatte Darius genauso viel Zeit für dieses Haus wie für Joshua.

Er seufzte und sein Atem bildete Wölkchen vor seinem Gesicht. Warum hasste Victor Legrand ihn so sehr? Denn das war weitaus mehr, als eine einfache Geschäftsvereinbarung, um Kosten wieder reinzuholen.

Das war eine Bestrafung.

Warum sollte es Joshua sonst verboten sein, zu arbeiten oder irgendwelchen Spaß im Leben zu haben? Bankräuber bekamen mildere Strafen als das hier. Vielleicht gab es hier jemanden, den Joshua fragen konnte?

Bis jetzt hatte er größtenteils mit Mrs. Weatherby gesprochen, die die Leitung über die Angestellten hatte und die Führung über die Geschehnisse im Haus hatte. Joshua hatte den Eindruck, dass sie mindestens zehn Paar Hände mehr brauchte, als sie gerade hatte, aber sie war immer fröhlich, wenn er sie sah. Allerdings war sie immer damit beschäftigt, hin und her zu eilen, entweder mit den Armen voller Wäsche, die gewaschen, oder Socken, die gestopft werden mussten. Es machte nicht den Eindruck, als hätte sie viel Zeit, um sich für eine Tasse Tee und ein nettes Gespräch hinzusetzen.

Sie war auch nicht hier, um Joshuas Freundin zu sein, also versuchte er, sie nicht zu belästigen. Abgesehen davon hatte er kurz mit Bartholomew, dem Butler, gesprochen, der ein sehr korrekter Herr mit einem geschwungenen, grau melierten Schnurrbart war. Von Camille, der cholerischen französischen Köchin, die viel in ihrer Muttersprache brüllte und Joshua wahrscheinlich für einen unkultivierten Trottel hielt, weil er die Hälfte der Zeit meistens nur Cornflakes oder Bohnen wollte, hatte er eher gehört, als mit ihr gesprochen.

Und das war es. Das war nun Joshuas ganze Welt. Keine Kunden im Pub oder Kassiererinnen mehr, die er begrüßen konnte, oder auch nur Fremde im Internet, mit denen er sich über Filme oder Politik unterhalten konnte. Er hatte gedacht, dass seine Welt klein gewesen war, bevor er sich absichtlich vom Dating und den sozialen Medien zurückgezogen hatte. Jetzt war sie beinahe leer.

Er machte sich ernsthaft Sorgen, dass ihn die Langeweile umbringen würde.

Es war ein winziger Lichtblick, dass Joshua einen alten Fernseher in einem Raum gefunden hatte, der wie ein Kinderzimmer von vor vielen Jahren aussah. Es gab eine Menge klassische Spielzeuge auf Holzregalen, ein Schaukelpferd und ein Laufgitter. Joshua fragte sich, wem das alles gehört hatte. Ein so trostloser Ort war seiner Meinung nach nicht für Kinder geeignet. Vielleicht hatten sie Darius gehört? Es war seltsam, sich vorzustellen, dass er jemals so klein gewesen war.

Er hatte sich mit dem Videorekorder vertraut machen müssen, um die Kassettensammlung abzuspielen und es hatte ihm seltsamerweise Freude und ein Erfolgsgefühl verschafft. Im Vergleich zu Livestreaming oder auch nur DVDs war die Qualität ziemlich schlecht. Aber er war nicht so einsam, wenn ihn Regale voller Filme aus den Achtzigern und Neunzigern beschäftigten.

Donner grollte über ihm, als er weiterging. Der Regen hatte ein paar Stunden aufgehört und ihm die Möglichkeit gegeben, nach draußen zu gehen und sich eine Weile in der frischen Luft die Beine zu vertreten. Aber hinter den unheilvollen stahlgrauen Wolken, die vom entfernten Horizont her näher kamen, braute sich augenscheinlich das nächste Gewitter zusammen. Joshua glaubte, noch etwas Zeit zu haben. Er konnte den Gedanken noch nicht ertragen, wieder nach drinnen zu gehen, also setzte er sich auf eine alte Holzbank und sah sich um.

Vor langer Zeit musste das hier ein schicker Garten gewesen sein, die Art, die Joshua nur aus dem Fernsehen kannte. Vor Jahren hatten die schmalen, gewundenen Pfade wahrscheinlich zwischen wunderschönen Blumenbeeten und fachmännisch geschnittenen Hecken geführt. Joshua beugte sich vor und musterte einige der tot aussehenden Zweige. Beim Anblick der Dornen fragte er sich, ob sie einmal blühende Rosen gewesen waren.

Ihm kam ein verrückter Gedanke.

Konnte er die Gärten retten?

Er war nicht sicher, warum er das glaubte. Er hatte in seinem Leben noch nie gegärtnert. Alles, was sein Dad und er zu Hause gehabt hatten, waren eine kleine Terrasse und ein paar Topfpflanzen, die robust genug waren, um auch mit wenig Liebe und Pflege zu überleben. Doch dann erinnerte sich Joshua daran, wie er, als er klein war, in der Schule für ein Projekt Kresse angepflanzt hatte. Er war besessen davon gewesen, die kleine Schachtel mit Dreck jeden Tag zu gießen. Dann hatte er eine Weile auch einen kleinen Kräutergarten in der Küche gehabt, obwohl er sich nicht erinnern konnte, dass sein Dad jemals etwas damit gekocht hatte. Er hatte die Aufgabe an sich geliebt, ohne dass die Pflanzen einen Nutzen haben mussten.

Er ging auf die Knie und berührte die matt aussehende Erde, die vom vorherigen Regen ganz nass war.

Wenn er das versuchen wollte, würde er Ressourcen brauchen. Er hoffte verzweifelt, dass Darius sein Versprechen halten und ihm bald einen Internetzugang einrichten würde. Aber vielleicht lagen hier ein paar Gartenbücher herum, die er in der Zwischenzeit lesen konnte.

Verschiedene Gefühle wallten in ihm auf und zum ersten Mal seit Tagen spürte er, wie er lächelte. Hoffnung und Entschlossenheit ließen seinen Magen kribbeln. Obwohl er es zuvor noch nie in Erwägung gezogen hatte, schien das Gärtnern plötzlich die perfekte Aufgabe zu sein, um sich die Zeit zu vertreiben. Joshua konnte sich vorstellen, wie er schwer arbeitete, wirklich etwas schuf und Dinge umsorgte.

Das hörte sich großartig an.

Er klopfte sich die Hände ab und stand auf, als der Donner erneut grollte. Mit zusammengekniffenen Augen sah er nach oben zu den Wolken, die plötzlich sehr viel näher zu sein schienen. Sie hatten eine seltsam lilafarbene Färbung und der Wind frischte heftig auf. In der Ferne konnte er Bäume sehen, die sich im Wind bogen, als würden sie um ihr Leben kämpfen.

Joshua ließ sich von dem unheilvollen Anblick allerdings nicht seinen neu gefundenen Enthusiasmus nehmen. Beschwingt ging er zurück zum Haupteingang des Schlosses. Der schreckliche englische Winter hatte das Schloss immer noch fest im Griff. War das ein schlechter Zeitpunkt zum Pflanzen oder nicht? Würde er all diese tot aussehenden Rosenbüsche herausreißen müssen oder konnte er noch etwas retten?

Es fühlte sich an, als wäre es Wochen her, seit er von so vielen interessanten und aufregenden Gedanken erfüllt gewesen war. Wahrscheinlich sogar noch länger. Monate? Jahre? Wann hatte er sich das letzte Mal gestattet, einem Interesse nachzugehen? Könnte das Gärtnern eine Leidenschaft werden?

Es gab nur einen Weg, das herauszufinden.

Als er die Schlosstüren erreichte, hatten ihn die dunklen Wolken bereits eingeholt und der Wind war zu einem Sturm angewachsen. Allerdings war es nicht der Regen, der Joshua ins Gesicht schlug, als er gegen die Türen drückte, sondern Schnee. Toll. Er war ziemlich sicher, dass Schnee das Gegenteil von dem war, was man wollte, wenn man darüber nachdachte, Blumen anzupflanzen. Er schüttelte den Kopf und trat sich die Füße auf der rauen Matte ab. Es war in Ordnung. Es war nicht so, dass er sofort losrennen und anfangen würde, Rosen zu beschneiden. Er brauchte Zeit, um zu recherchieren und zu planen.

Zum ersten Mal, seit er in Thorncliff angekommen war, stellte er sich einen angenehmen Abend vor dem Kamin vor, umgeben von Büchern und vielleicht mit einer guten Flasche Wein. Vielleicht würde er mutig genug sein, um mit Camille zu sprechen und herauszufinden, ob sie eines seiner Lieblingsessen kochen konnte. Etwas Heißes und Sättigendes, vorzugsweise mit Käse überbacken.

Aber er war nicht sicher, ob er schon bereit war, stehen zu bleiben. Seine Beine fühlten sich gut an, nachdem sie zum ersten Mal in den paar Wochen, seit er hierhergekommen war, ordentlich Auslauf hatten. Also hing er seinen Mantel und Schal auf und ging weiter durch die Tiefen des Schlosses, während er bewusst nach Zimmern Ausschau hielt, die er noch nicht erkundet hatte. Falls er sich verlief, hatte er den ganzen Abend Zeit, um weiterzugehen und den Weg zurück zu seinen Räumlichkeiten zu finden.

Das war aufregend. Er war in einem kleinen Haus aufgewachsen, das weder ein Geheimversteck noch interessante Ecken hatte. Das Abenteuerlichste, was Joshua jemals getan hatte, war, nachts aus dem Badezimmerfenster und die Regenrinne hinunter zu klettern, damit er hinten im Garten die Sterne beobachten konnte. Thorn-cliff hatte so viel mehr verlockende Geheimnisse zu bieten.

Joshua war so von seiner Erkundung eingenommen, dass er vollkommen vergaß, dass es hier Orte gab, an die er nicht gehen durfte.

Er war zu sehr damit beschäftigt festzustellen, dass ein Großteil des Schlosses tatsächlich wunderschön war, wenn man das verdammte Licht einschaltete, was er gerade tat. Vorher war er zu verängstigt gewesen, aber mit seinem neu entdeckten Optimismus fragte er sich, was schon groß passieren sollte? Er konnte es wieder ausschalten.

Da nun das Licht an war, konnte Joshua endlich die umwerfenden Gemälde an den Wänden bewundern, ebenso wie die Keramikvasen, die Rüstungen und Waffen. Es war, als würde er in einem Museum voller Schätze wohnen. Er musste die Augen öffnen und die reiche Geschichte um sich herum mehr genießen. Gehörten all diese Artefakte zu Darius' Familie?

Abgelenkt und desorientiert ging Joshua weiter ziellos durch Türen, schlenderte durch Flure und ging Treppen hinauf. Das war sein Zuhause. Vielleicht hatte es ein paar Wochen gedauert, bis das Gefühl durchgedrungen war, aber er musste den Segen darin erkennen. Ja, er war irgendwie einsam, aber hoffentlich würde das nicht für immer so bleiben. In der Zwischenzeit gab es so viel zu entdecken und zu lernen.

Er öffnete eine weitere Tür.

Und betrat ein neues Zimmer, als Darius es gerade durch eine andere Tür tat. Wenn Joshua raten müsste, kam er wahrscheinlich aus einem Badezimmer, denn er trug nur eine Hose und seine gewellten, dunklen Haare tropften, als er sie mit einem Handtuch abtrocknete.

Es war, als bliebe die Zeit stehen.

Joshua erstarrte, als er Darius' breiten Körper musterte. Ja, er war genauso muskulös, wie Joshua es erwartet hatte und die dichten, dunklen Haare, die normalerweise unter den Manschetten und dem Kragen seiner Hemden hervorblitzten, überzogen seinen gesamtem Körper.

Oder würden es tun.

Die rechte Seite von Darius' Brust war mit gewundenen Narben übersät, die sich über seine Schulter und seinen Arm bis hinab zu seinem Ellbogen erstreckten. Die Haut erinnerte an Baumwurzeln, die entzündet und rot aussahen. Aber Joshuas unmittelbare Reaktion war nicht Abscheu, wie er es gedacht hätte. Es war ein tiefes Mitgefühl, das wie ein Messer durch ihn hindurchschnitt. Was zum Teufel hatte Darius durchgemacht?

Leider würde Joshua es nicht herausfinden. In den ein oder zwei Sekunden, die er gebraucht hatte, um den Anblick eines halb nackten Darius aufzunehmen, hatte Darius den Arm und das Handtuch, mit dem er seine Haare abtrocknete, sinken lassen, als er Joshua entdeckt hatte.

Schuldgefühle brachen über Joshua herein, noch bevor Darius reagieren konnte. Er hatte das Gefühl, in etwas unglaublich Privates eingedrungen zu sein. Seine Vermutung wurde bestätigt, als Darius das Handtuch wegwarf, sodass es klatschend gegen die Wand schlug. Er ballte die Hände zu Fäusten und verzog bösartig das Gesicht.

»Was hast du hier verloren?«, brüllte er und marschierte auf Joshua zu.

»Es tut mir leid!«, stammelte Joshua und stolperte mit erhobenen Händen rückwärts. »Ich wusste nicht, wo ich war. Ich wollte nicht stören!«

Darius hielt in seinen stürmischen Schritten inne, bebte aber noch immer vor Zorn und seine Brust hob und senkte sich, als er heftig durch seine gefletschten und zusammengebissenen Zähne atmete. »Verschwinde verdammt noch mal! Es ist schlimm genug, dass ich es ertragen muss, dass jemand in mein Zuhause eindringt, aber du folgst nicht mal den einfachsten Anweisungen. Diese Räume gehören MIR!«

Er holte mit der Hand aus, sodass ein Bilderrahmen gegen die Wand knallte und das Glas zerbrach. Er schien sich keine Gedanken um seine nackten Füße zu machen, als er erneut auf Joshua zuging.

»Ich wollte das nicht«, bellte er. »Ich habe nicht darum gebeten. Du hast kein Recht!«

Joshua konnte die Tränen nicht aufhalten, als er keuchte und versuchte, aus dem Zimmer zu verschwinden. Aber er stolperte und fiel auf den Hintern, sodass er entsetzt zu Darius aufsah, der riesig und zornig über ihm aufragte.

»Es tut mir leid«, flüsterte Joshua erneut.

Er wünschte mit aller Macht, dass er diese verdammte Tür nicht geöffnet hätte. Obwohl Darius brüllte und sich benahm, als würde er ihn vielleicht schlagen, konnte Joshua nur an die schrecklichen Schuldgefühle denken, weil er in Darius' Privatsphäre eingedrungen war. Es war schmerzhaft offensichtlich, dass er sich für seine Narben schämte und nicht wollte, dass Joshua sie sah.

»Du hast keine Ahnung«, fauchte Darius und tigerte wie ein eingesperrtes Tier auf und ab, während er die Fäuste ballte und wieder lockerte. »Keine. Du dummes Kind. Du Junge!«

Diese Worte drangen schließlich durch Joshuas schlechtes Gewissen und ließen Ärger in ihm aufwallen. Er kämpfte sich wieder auf die Füße, ballte ebenfalls die Fäuste und stellte sich auf die Zehenspitzen, wie ein Chihuahua, der sich einem Tiger entgegenstellte. »Ich hab gesagt, dass es mir leidtut«, fauchte er und blinzelte die Tränen weg. »Aber ich hab nicht darum gebeten! Das ist jetzt auch mein Zuhause!«

Darius schnaubte verächtlich. »Es ist nicht dein verdammtes Zuhause. Wie dämlich bist du? Das ist unser Gefängnis.«

Ja, Joshua dachte sich, dass er dämlich war. Wie hatte er nur glauben können, dass er eine Chance hatte, hier glücklich zu werden? Dass er und Darius sich vielleicht verstehen könnten. Darius war ein Monster, genau wie sein Vater, der ihnen diese Scheinehe aufgezwungen hatte. Aber zumindest hatte Victor ihn nie angeschrien oder ihm das Gefühl gegeben, körperlich bedroht zu werden.

Scheiß auf diesen Mist.

Joshua machte sich nicht die Mühe, diesem Brutalo zu antworten, an den er durch die Ehe gekettet war. Stattdessen drehte er sich um und rannte.

Und rannte.

Er lief blindlings durch Türen und versuchte, durch seine wütenden Tränen hindurch etwas zu erkennen. Wenn Darius wollte, dass er verschwand, würde er ganz genau das tun.

Schließlich wusste er wieder, wo er war und floh zurück zum Haupteingang. Er war sich nicht einmal sicher, was er in den Taschen hatte. Sein Handy war so nutzlos, dass er es nicht mehr einsteckte, aber er war ziemlich sicher, dass er seine Brieftasche hatte.

Als er die Arme in den Mantel schob, entschied er, dass das reichen musste.

Zum Glück hatte er seine Schuhe angelassen, also schnappte er sich nur noch seinen Schal, den er an der Seitentür abgelegt hatte und schob sich wieder nach draußen. Der Gedanke, dass er so glücklich gewesen war, als er das letzte Mal hier durchgekommen war, weil er einfach an etwas so Banales wie einen Rosengarten gedacht hatte. Darius hatte recht. Er war nur ein dummes Kind, das versuchte, seine echten Probleme mit unbedeutendem Zeitvertreib zu verbergen.

Noch immer schluchzend, rannte er die Treppen nach unten in den eiskalten Abend. Die Nacht war hereingebrochen und der Schneesturm hatte sie endgültig erreicht, was bedeutete, dass Joshua bereits durch anderthalb Zentimeter hohen Schnee rannte. Er war nicht sicher, wo genau er hinging, außer, dass er auf die nahe stehenden Bäume zuhielt. Das Dorf lag hinter dem Wald, weg von den Klippen hinter dem Schloss. Wenn er es vielleicht nur zu einem kleinen Stück Zivilisation schaffte, könnte er ein Geschäft finden und sich ein Telefon borgen.

Er wollte verzweifelt die Stimme seines Vaters hören.

Der Wind heulte über seinem Schluchzen und folgte ihm, als er durch die Bäume brach. Anfangs konnte er dem Trampelpfad folgen und er betete, dass er ihn vielleicht zum Dorf führte. Aber sobald er im Wald war, schwand das Licht und er verlor schnell die Orientierung. Dank der Baumkronen fiel der Schnee nicht so heftig, aber der Wind schnitt noch immer unbarmherzig und über ihm tobten Donner und Blitz.

»Geh weiter«, murmelte er sich selbst mit klappernden Zähnen zu, während er den Mantel fester um sich zog. Alles musste besser sein, als wieder an diesen schrecklichen Ort zurückzukehren.

Er würde nicht länger jemandes Gefangener sein.

Er konnte nicht aufhören zu weinen, als er sich durch die immer stärker verwachsenen Bäume kämpfte, deren Äste grausam an seinem Mantel und seiner Jeans zerrten. Er wünschte, er hätte ein Paar Handschuhe mitgenommen. Seine Hände fühlten sich an wie Eiszapfen.

Wütend rieb er sich über sein ebenso kaltes Gesicht und versuchte, die Tränen zu unterdrücken. Dann hasste Darius ihn also, na und? Joshua hasste ihn ebenfalls, weil er ihn so behandelt hatte. Nicht nur, weil er ihn angeschrien hatte, sondern auch, weil er ihn ignoriert und eine unmögliche Situation noch unerträglicher gemacht hatte.

Leider jedoch wusste Joshua tief in sich, dass er einfach nur einen kleinen Hinweis darauf gewollt hatte, dass Darius ihn nicht hasste. Dass sie in dieser Situation, in die sie gezwungen wurden, Verbündete waren. Joshua hatte nicht erwartet, dass sie wirklich Freunde wurden, aber verdammte Scheiße, er hatte auch nicht gewollt, dass sie Feinde wurden.

Jetzt war es zu spät dafür.

Keuchend atmete er die kalte, feuchte Luft ein, als er stehen blieb und versuchte, sich zu orientieren. Der Schnee fiel mittlerweile durch die Äste und erfüllte die dunkle Nacht mit seltsamen Formen. Es war, als wäre er in einer Schneekugel gefangen und Joshua fiel es schwer, überhaupt etwas zu sehen. Ganz zu schweigen von der Tatsache, dass ihm mittlerweile so kalt war, dass es schmerzte. Sein Kopf tat weh, seine Lungen brannten und seine Finger und Zehen wurden taub.

Angst breitete sich in Joshua aus. Das war nicht dasselbe, wie sich im Schloss zu verirren. Er würde nicht irgendwann den Weg zurückfinden, wenn er genug Zeit hatte.

Genug Zeit, um hilflos hier herum zu stolpern, würde in Unterkühlung enden. Er fühlte sich bereits schwach und war müde.

Er rieb sich übers Gesicht und versuchte, sich zu straffen, als er sich den Schal um den Kopf wickelte, um wenigstens etwas Körperwärme zu bewahren. Was sollte er tun? So ungern er auch zurück ins Schloss wollte, es musste näher sein als das Dorf. Aber konnte er überhaupt den Weg dorthin finden?

Ein Schluchzen drang aus seiner Kehle, als ihn seine Füße vorwärts trugen. Zumindest würde ihn die Bewegung etwas wärmer halten, als der Stillstand. Aber seine Gliedmaßen waren so kalt, dass sie taub wurden und innerhalb weniger Sekunden stolperte er über einen Ast. Er konnte seinen Sturz nur abwenden, indem er die Hand ausstreckte und sich am nächsten Baum abstützte. Leider schnitt die Rinde durch seine Haut, sodass er einige brennende Schnitte davontrug, obwohl er kaum noch Gefühl in seiner Hand hatte.

»Fuck!«, brüllte Joshua und drückte sich die Hand an die Brust, während er weiter stolperte. Ging er überhaupt in die richtige Richtung?

Es war, als würde ihm das Universum beweisen, wie falsch er lag, wenn er glaubte, dass er sich nicht einsamer fühlen konnte. Es bestand die reelle Chance, dass er in diesem Sturm sterben könnte und meilenweit keine weitere Seele war. Sicher niemand in der Nähe, dem er etwas bedeutete.

Niemand, den es interessierte, ob er lebte oder starb.

»Es tut mir leid, Dad«, krächzte Joshua, als er an einem weiteren Baum vorbei schlingerte. Er hatte einfach nur seine Stimme durchs Telefon hören wollen. Jetzt würde er sie nie wieder hören.

Plötzlich rutschte Joshuas Fuß unter ihm weg, als sich der Untergrund veränderte. Es fühlte sich beinahe an, als würde er auf Holzplatten stehen. Aber warum würde jemand so etwas mitten in den Wald legen?

Es war so dunkel und der Schneefall so dicht, dass Joshua nicht einmal mehr die Bäume sehen konnte.

Oder das Fehlen der Bäume.

In der einen Sekunde stolperte er und rutschte über die glatten Holzplatten. In der anderen segelte er durch die Luft, als der Boden vollkommen unter ihm wegbrach. Als er in das eiskalte Wasser tauchte, wurde ihm die Luft aus den Lungen getrieben. Joshua glaubte, dass sein Herz in der Kälte aufhören würde zu schlagen. Er konnte nicht sagen, wo oben und unten war, als er um sich schlug und bereits verzweifelt versuchte, nach Luft zu schnappen.

Aber es war hoffnungslos. Wie auch immer es ihm gelungen war, ins Wasser zu fallen, es war an einer Stelle, die so tief war, dass er den Boden nicht spüren konnte, um zumindest zu versuchen, wieder an die Oberfläche zu kommen. Und selbst wenn er es raus schaffte, wäre er so unterkühlt, dass es nicht lange dauern würde, bis er das Bewusstsein verlor.

Er würde sterben.

Joshua und das Biest

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