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Dienstag, 2. Mai

Gegen eins klingelte das Telefon. PM saß allein beim Frühstück und wollte zunächst gar nicht drangehen, bis ihm einfiel, dass es auch Katharina oder Marika sein konnten, die ihn sprechen wollten. Er legte die Zeitung beiseite, ging in die Diele und hob den Hörer ab.

»Hallo?«

»Hallo, hier ist Roffe. Habe ich dich geweckt?«

PM fühlte sich sonderbar bedrückt und schloss die Augen, ehe er nach langem Schweigen antwortete: »Nein, ich sitze gerade beim Frühstück.«

Roffe klang angespannt. »Der ... äh ... Fall, du weißt schon, ist doch komplizierter, als ich dachte. Du könntest nicht zufällig noch mal in die Stadt kommen?«

PM stützte sich gegen die Wand. Er fühlte sich plötzlich vollkommen kraftlos. Als würde alle Energie durch seine Füße aus ihm abfließen.

»Heute passt es schlecht«, sagte er und hörte selbst, wie seine Stimme nach Festigkeit suchte. »Katharina arbeitet heute. Oder möchtest du, dass ich ein Taxi nehme?«

»Nein, das ist nicht nötig.« Roffe machte eine Pause. »Übernachtet Katharina heute in der Stadt?«

»Ja.«

»Dann komme ich zu dir. Da ist es ruhiger und gemütlicher.«

PM lachte dumpf. »Wollen wir es uns gemütlich machen?«

»Ich weiß nicht«, sagte Roffe mit müder Stimme, »aber wir müssen in Ruhe miteinander reden.«

»In Ordnung, ich lade dich zum Essen ein.«

»Äh, wir sollten vielleicht nicht vergessen, dass du Gegenstand der Ermittlungen bist«, sagte Roffe mit erzwungener Unbeschwertheit. »Sonst könnte man das als Bestechung auslegen. Lass mich lieber das Essen machen, wenn ich komme. Außerdem schmeckt’s dann besser.«

»Keine Einwände. Was brauchst du für Zutaten?«

»Lass mich nachdenken ...«, Roffe ging sein Repertoire an Rezepten durch, »irgendwas, was schnell geht ... und satt macht. Ah, mir fällt was ein! Das meiste habe ich zu Hause. Hast du Zwiebeln und ein paar Eier?«

»Ich glaube schon. Sonst fahre ich mit dem Fahrrad ins Dorf und kaufe welche. Wann kommst du?«

»Ich kann erst in ein paar Stunden aufbrechen. So gegen vier könnte ich bei dir sein.«

»Also bis später.«

Nachdem PM aufgelegt hatte, betrachtete er sich unschlüssig im Spiegel, der in der Diele hing. Er hatte jeden Appetit verloren, und allein der Gedanke, das Atelier aufzusuchen, stieß ihn ab. Er ging in die Küche zurück und deckte den Tisch ab. Das halb gegessene Käsebrot zerkrümelte er in den Futternapf der Katze, den Kaffee goss er in den Ausguss. Er atmete schwer und musste sich eine Weile hinsetzen, um sein Herz zu beruhigen. Verdammt, das Herz hatte ihm doch noch nie Probleme bereitet. Nur in der letzten Zeit hatte es ihm hin und wieder zu schaffen gemacht. Er sollte sich vielleicht etwas mehr bewegen. Er nahm sich seine Pfeife und legte sie nach kurzem innerem Ringen wieder hin. Es war beinahe halb zwei. Was sollte er tun, bis Roffe kam? Unruhig stand er auf, warf einen Blick in den Kühlschrank und stellte fest, dass nur noch zwei Eier von bedenklich hohem Alter darin waren. Er sollte unbedingt frische besorgen. Roffe nahm es mit solchen Dingen sehr genau. Außerdem hatte er ein bisschen frische Luft nötig.

Er holte sein altes Fahrrad aus dem Schuppen, ein stabiles Gefährt aus der Zeit, in der nur Rennräder mit Gangschaltungen ausgestattet waren. Es hatte solide Reifen, die auf fast jedem Untergrund weich und sicher liefen. Das strahlende Frühsommerwetter machte ihn sofort munter. Keine Wolke am Himmel und eine Temperatur, die alle Rekorde schlug. Rasch lief er ins Haus zurück, zog Shorts und Sandalen an.

Als er auf stramm aufgepumpten Reifen den kurvigen Kiesweg hinabrollte und genießerisch die süßlich-herben Düfte der Weiden und des Waldes einsog, gewann er seine alte Zuversicht zurück. Vielleicht war die Katastrophe doch noch abzuwenden, wenn er einen kühlen Kopf bewahrte. Er hatte riesiges Glück, dass Roffe mit den Ermittlungen betraut worden war. Roffe war ein verlässlicher Freund, der wusste, wie wichtig es war, Katharina aus der Sache herauszuhalten. Seinen schlechten Nachrichten sah er gefasst entgegen. Damit hatte er gerechnet. Wenn nur Katharina nichts zu Ohren kam.

Als er auf der Höhe von Knigarp angelangt war, wurde seine Atmung automatisch flacher. Er trat kräftig in die Pedalen, um möglichst schnell die Schweineställe mit ihren penetranten und wenig balsamischen Gerüchen hinter sich zu lassen.

Er benötigte ungefähr eine Viertelstunde, um nach Äsperöd zu radeln. Eine Viertelstunde, die er genoss. Wie merkwürdig, dass er das nicht öfter tat. Merkwürdig überhaupt, dass er nicht öfter das Fahrrad benutzte.

Allerdings suchte er Astrid Enokssons Dorfladen nicht ohne schlechtes Gewissen auf. Er hatte sich seit Monaten dort nicht mehr blicken lassen. Bis vor ein paar Jahren hatten Katharina und er dort regelmäßig eingekauft, durchdrungen von der Überzeugung, wie wichtig es war, einen kleinen, ländlichen Tante-Emma-Laden zu unterstützen. Doch schließlich waren auch sie der Bequemlichkeit erlegen, ihre Besorgungen in der Stadt zu erledigen, wo es eine größere Auswahl gab und die Preise oft niedriger waren. Für Katharina ließ es sich gut einrichten, nach Feierabend in der Stadt einzukaufen und mehrmals in der Woche mit einer größeren Wagenladung nach Hause zu kommen. Außerdem lag das Dorf in der entgegengesetzten Richtung. Dorthin gelangten sie ohnehin selten, und so kam es, dass er Astrid Enoksson nur mehr mit einem Besuch beehrte, wenn er zufällig entdeckte, dass er keinen Tabak mehr hatte oder die Milchvorräte erschöpft waren.

Er lehnte sein Fahrrad neben dem Laden an die Hauswand und überlegte, ob er es abschließen sollte, obwohl weit und breit kein Mensch zu sehen war. Der Ort machte wie üblich einen nahezu gespenstisch verlassenen Eindruck. Er kam sich albern vor, aber er musste das Fahrrad einfach abschließen. Es war schließlich eine gut erhaltene Antiquität.

Das Glöckchen bimmelte, als er die Tür öffnete. Sofort erblickte er Astrid Enokssons kleine, gedrungene Gestalt. Sie begrüßte ihn überschwänglich.

»Nein, so eine Überraschung! Ist das wirklich Patrik der Maler, der sich bei diesem herrlichen Wetter die Ehre gibt?«

Sie warf einen Blick aus dem Fenster und registrierte sofort, dass der Wagen nicht da war.

»Sind Sie etwa zu Fuß gekommen?«

»Nein, mit dem Fahrrad. Das sollte ich öfter machen. Ich bin wirklich berauscht von all den Düften und Farben. Wie geht es Ihnen? Ich hoffe, es ist alles in Ordnung.«

Sie schaute ihn wohlwollend an und richtete kokett ihre unverwüstliche Dauerwelle.

»Ich kann nicht klagen«, sagte sie. »Das ist doch wirklich die schönste Zeit im ganzen Jahr. Und jetzt haben wir auch noch so wundervolles Wetter bekommen. Wollen wir hoffen, dass es sich hält.«

»Und Ihrem Enkelkind geht es gut?«

»Ich habe ein zweites bekommen«, sagte sie voller Stolz. »Anna hat letzte Woche einen Jungen zur Welt gebracht.«

PM machte große Augen. »Wie schön zu hören. Ich gratuliere.«

Astrid seufzte selig auf. »Ja, es ist eine große Freude«, sagte sie, »obwohl man sich manchmal ziemlich alt vorkommt. Ehe man sich’s versieht, sind die kleinen Bengel schon erwachsen. Wollen Sie Tabak kaufen?«

»Das auch, aber vor allem brauche ich ein paar Eier. Haben Sie welche?«

Astrid sah ihn vorwurfsvoll an. »Aber natürlich habe ich Eier. Ganz frisch hereingekommen. So frisch kriegt man sie in der Stadt nur selten. Wie viele dürfen es sein?«

»Äh, sechs Stück ungefähr. Oder wie viele sind in einem Karton?«

»Zehn.«

»Dann nehme ich zehn.«

Sie stellte den Eierkarton auf die Ladentheke. »Wie geht es Ihrer Frau und Ihrer Tochter? Ihre Frau hat wahrscheinlich wie immer viel um die Ohren.«

»Ja, sie arbeitet immer noch in der Stadtbibliothek.«

»Und besucht sie noch so viele Kurse wie früher?«

»Nein, nur noch einen pro Woche.«

»Das ist gut. Man muss doch auch ein bisschen Zeit für sich selbst haben.« Mit schelmischem Lächeln fügte sie hinzu: »Und für seinen Mann natürlich, sonst kommt der noch auf dumme Gedanken.«

PM lachte. »Ja, ein bisschen Zeit hat sie auch für mich übrig, aber das birgt natürlich gewisse Risiken.«

»Wie meinen Sie das?«

»Dann hat sie mehr Zeit, mich zu kontrollieren und mit Arbeitsaufträgen zu versorgen.«

»Das ist bestimmt sehr nützlich. Und Marika? Als ich sie das letzte Mal gesehen habe, war sie eine richtige Schönheit geworden. Sie hat doch sicher jede Menge Verehrer.«

»Sie wohnt in Kalmar bei meiner Schwester. Ich habe sie eine ganze Weile nicht mehr gesehen, aber in ein paar Wochen kommt sie uns besuchen.«

Astrid sah verdutzt aus. »Sie wohnt in Kalmar? Warum das?«

Seufzend erklärte PM die näheren Umstände; er wusste nicht, zum wievielten Male.

»Zum einen wohnt ihr Freund in Kalmar, und der übt zurzeit nun mal eine stärkere Anziehungskraft auf sie aus als ihre Eltern. Außerdem sind die Busverbindungen von hier in die Stadt ja indiskutabel. Es war schon immer ein Riesenaufwand für uns, Marika zur Schule zu bringen und wieder abzuholen. Und meine Schwester wohnt direkt neben dem Gymnasium in Kalmar. So bleibt Marika auch der beschwerliche Schulweg erspart. Natürlich ist es ohne sie ziemlich leer geworden, aber sie ist achtzehn Jahre alt, und wir müssen uns ohnehin auf ein etwas ruhigeres Dasein einstellen.«

Astrids Augen funkelten vor Neugier. »Sie wollen doch nicht sagen, dass Marika verlobt ist? Wie schön! Sie werden sehen, dann wird es auch nicht mehr lange dauern, bis Sie Großvater werden.«

PM verzog das Gesicht. »Also das hat nun wirklich keine Eile.«

Rasch fügte Astrid hinzu: »Natürlich sollten sie zuerst die Schule beenden, bevor sie heiraten. Aber Enkelkinder sind doch immer eine so große Freude.«

PM leitete den Rückzug ein, indem er einen Blick auf das Regal mit dem Tabak warf.

»Ich nehme ein Päckchen Hamilton und ...«

Plötzlich schien Astrid etwas einzufallen. Sie sah erschrocken aus. »War das nicht eine grässliche Geschichte mit dieser Leiche, die sie gefunden haben? Das war doch ganz in Ihrer Nähe. Was hat Ihre Frau dazu gesagt? Das muss ein großer Schock für Sie beide gewesen sein. Und man weiß ja auch gar nichts. Ich meine, wer’s gewesen ist. Die Polizei ist hier gewesen und hat mich gefragt, ob ich etwas Auffälliges beobachtet hätte. Aber nach so langer Zeit ist es doch schwierig, sich zu erinnern. Sie haben gesagt, die Leiche hätte über ein halbes Jahr da dringelegen. Hierher kommen doch alle möglichen Menschen. Leute, die man nie zuvor gesehen hat und auch niemals wiedersehen wird. Leute auf der Durchreise. Mir wird ganz schummrig, wenn ich daran denke. Erst gestern habe ich zu Inga gesagt, man kann ja nie wissen. Vielleicht war der Mörder ja sogar bei uns im Laden, habe ich ihr gesagt, während er die Leiche im Kofferraum hatte. Diese Jauchegrube liegt doch unmittelbar am Wegesrand. Die Polizei hält es auch für möglich, dass jemand die Leiche von weither transportiert und dort abgeladen hat. Aber Inga meinte, dass meine Fantasie mit mir durchgeht, denn niemand schafft sich eine Leiche am helllichten Tag vom Hals, sagte er. So etwas macht man in der Nacht, und da sind die Geschäfte geschlossen. Nisse hat doch die Leiche gefunden. Hatte ihn ziemlich mitgenommen, die Sache. Er war am selben Tag bei mir im Laden und sah immer noch ganz blass aus, der Arme. Er sagte, dass er in seinem ganzen Leben noch nie etwas so Ekelhaftes gesehen hat. Der Körper war völlig zerfressen, sagte er. Dass sich die Leute in den großen Städten gegenseitig umbringen, das ist man ja gewohnt, aber dass so was auch bei uns möglich ist, hätte doch keiner vermutet. Haben Sie etwas Neues gehört? Ich meine, hat die Polizei Ihnen vielleicht verraten, ob es irgendeine Spur gibt?«

»Nein, wir wissen auch nicht mehr als die anderen Leute, obwohl wir so nahe dran wohnen«, antwortete PM.

»Ich finde, die Polizei könnte uns ein bisschen mehr über den Stand der Ermittlungen informieren. Für die Leute in der Gegend ist die Ungewissheit doch schwer zu ertragen.«

»Vielleicht gibt es nicht viel zu berichten.«

»Ja, das ist möglich. Aber ich hoffe doch, dass der Fall irgendwann aufgeklärt wird. Es ist doch unheimlich, so gar nichts zu wissen.«

»Die Äpfel dort sehen schön aus«, sagte PM, um das Thema zu wechseln. »Sind das Golden Delicious? Dann nehme ich fünf Stück.«

»Wie wär’s auch noch mit einer Abendzeitung?«

PM schüttelte den Kopf. »Ich lese keine Abendzeitungen. Davon kriege ich nur schlechte Laune.«

Astrid sah erstaunt aus. »Aber es ist doch gut zu wissen, was um einen herum so passiert.«

»Das stimmt, zumindest teilweise. Aber Gott sei Dank gibt es ja noch andere Quellen, die einen mit Informationen versorgen. Wenn ich die Abendzeitungen lese, vergeht mir einfach der Appetit.«

»Finden Sie sie wirklich so schlecht?«

»Ja, das finde ich. Aber jetzt möchte ich Sie um einen kleinen Gefallen bitten. Heute kommt mich ein guter Freund besuchen. Katharina ist in der Stadt, und er hat versprochen, das Essen zu machen, weil er meinen Kochkünsten nicht traut. Da will ich ihn zumindest mit einem guten Dessert überraschen. Können Sie mir etwas vorschlagen?«

Astrid sah sich suchend um. Ihr Blick wanderte zwischen einer fertigen Crème brûlée und einer halb fertigen Mousse au Chocolat hin und her.

»Die Zubereitung sollte nicht zu lange dauern oder zu aufwändig sein«, fügte PM hinzu.

»Ich ... habe natürlich auch schöne Eistorten in der Kühltruhe«, entgegnete sie zögerlich.

»Welche Geschmacksrichtungen?«

»Birne ...«

»Birne, wunderbar! Die nehme ich. Und dazu eine Schokoladensauce. Haben Sie Blockschokolade?«

»Ich habe fertige Schokoladensauce aus der Tube.«

»Dann nehme ich eine Tube und ein paar frische Birnen zum Garnieren. Damit wird er sicher zufrieden sein, meinen Sie nicht?«

»Ganz bestimmt.«

»Also bitte noch das Päckchen Hamilton und eine Schachtel Streichhölzer. Und das Ganze bitte auf zwei Tüten verteilt, damit ich auf beiden Seiten des Lenkers ungefähr dasselbe Gewicht habe.«

Astrid begann etwas unwillig die Tüten zu füllen. Sie schien noch mehr auf dem Herzen zu haben, ehe sie ihn ziehen lassen wollte.

»Wie hat Nygren es aufgenommen?«, fragte sie schließlich. »Das ist doch fürchterlich, einen Hof zu übernehmen und dann gleich mit so einer schrecklichen Sache konfrontiert zu werden. War er sehr schockiert?«

»Das weiß ich nicht. Ich habe nicht mit ihm gesprochen, seit sie die Leiche gefunden haben. Eigentlich bekommt man ihn nur selten zu Gesicht, und mit mir ist das wohl auch nicht anders, nehme ich an. Aber gefreut wird er sich nicht gerade haben, davon können wir ausgehen.«

»Ach so, Sie haben also nur wenig Kontakt zu ihm?«

PM hörte einen enttäuschten Unterton in ihrer Stimme.

»Wir grüßen uns hin und wieder und wechseln ein paar Worte über das Wetter, wenn wir uns zufällig über den Weg laufen. Er hat offenbar viel um die Ohren und ist nicht sehr gesprächig.«

»Finden Sie? Ich hatte den Eindruck, dass er sehr freundlich und aufgeschlossen ist.«

»Kennen Sie ihn denn?«

»Ja, er war einmal bei mir im Laden, allerdings nur ein einziges Mal. Ich vermute, er macht es wie die allermeisten auch und erledigt seine Einkäufe in der Stadt.«

Astrid schien plötzlich verstimmt und warf einen missmutigen Blick durch das Fenster auf die menschenleere Straße.

PM fühlte, dass der Vorwurf auch ihm galt, und wusste nicht, was er sagen sollte. Doch sie nahm sich rasch wieder zusammen und sagte seufzend: »Ja, die Zeiten ändern sich eben. Als Per und ich den Laden in den fünfziger Jahren übernommen haben, sah alles noch anders aus. Glauben Sie mir, damals gab es jede Menge Leute hier. An den Samstagen war so viel los, dass wir noch eine Aushilfskraft einstellen mussten. Und als die Mädchen größer wurden, haben sie natürlich auch mit angepackt. Alles war damals schöner. Unser Geschäft war gewissermaßen ein Treffpunkt für die Leute aus dem Ort. Vielleicht wissen Sie noch, dass Per nebenan einen Kiosk besaß. Den haben sie schon vor langer Zeit abgerissen. Abends kamen immer viele Jugendliche und standen mit ihren Fahrrädern und ihren Mopeds vor dem Kiosk. Die hatten damals nichts anderes zu tun. Bei Per kauften sie Süßigkeiten und einzelne Zigaretten. Waren alles nette Jungs und Mädels, keine Rowdys darunter. Damals konnte man die Mädchen noch guten Gewissens auf die Straße lassen. Heute tun mir die Leute Leid, die Kinder haben, wenn man sich überlegt, was ihnen alles zustoßen kann, ich meine, bei all den Drogen und Verbrechen überall. Hier gibt es fast keine Jugendlichen mehr. Im Ort wohnen vor allem ältere Leute. Aber dieser Nygren hat auf mich wirklich einen netten Eindruck gemacht.«

Astrid senkte die Stimme und lehnte sich über die Ladentheke.

»Sie glauben gar nicht, wie erschrocken ich war, als er hier zur Tür reingekommen ist. Er sah Per so ähnlich, dass mir fast das Herz stehen geblieben wäre. Etwas größer und kräftiger war er vielleicht, aber Gesicht und Stimme waren zum Verwechseln ähnlich. Nicht wie Per in den letzten Jahren, bevor er gestorben ist. Da war er ja völlig abgemagert und ausgezehrt. Aber so wie in seinen besten Jahren, so sah er aus. Dasselbe freundliche, offene Gesicht, die Nase, das Kinn, einfach alles. Die Ähnlichkeit war fast erschreckend. Mir wurde es ganz weich in den Knien. Dann kamen wir ins Gespräch miteinander, und als ich verstand, um wen es sich handelte, habe ich mich ein bisschen beruhigt. Ich habe natürlich nichts gesagt und auch sonst niemandem davon erzählt, denn das kommt einem doch alles ein bisschen, wie soll ich sagen ... übernatürlich vor. Aber ich fand ihn sehr sympathisch und habe mich gefreut, dass er hierher ziehen wollte. Diese Sandströms, die den Hof vorher bewirtschaftet haben, waren doch eigentlich ziemlich unangenehme Leute. Das war übrigens das erste Mal, dass er zu seinem neuen Hof wollte. Er hatte ihn sich bis dahin noch gar nicht ansehen können. Alles war von einem Makler geregelt worden. Er hatte das Auto voller Sachen und hat mehrere Tüten mit Lebensmitteln eingekauft. Später hat er dann Svens Hunde gesehen und mich gefragt, ob ich einen guten Züchter kenne, denn genau solche Hunde wollte er haben. Er brauche zwei Wachhunde, hat er gesagt. Ich habe ihm geraten, mit Sven zu sprechen, weil ich weiß, dass er selbst diese Hunde züchtet, wie heißen die noch gleich? Irische ... irische ...«

»Irische Wolfshunde.«

»Genau. Sehr liebenswerte Hunde. Aber er hat meinen Rat nicht befolgt. Hat nie mit Sven gesprochen. Hat er sich denn irgendwelche anderen Hunde angeschafft?«

»Ja, er besitzt einen, und der ist ganz und gar nicht liebenswert, sondern eher von der blutrünstigen Sorte. Meine Frau hat Todesangst vor ihm. Aber als Wachhund ist er sicher sehr effektiv.«

»Was Sie nicht sagen. Aber wissen Sie, komischerweise mochte Nisse ihn auch nicht.«

»Wen? Nygren?«

»Er sagt, dass der Hof heruntergewirtschaftet wird. Aber man weiß ja auch, wie Nisse ist. Er hat doch an keinem der Eigentümer ein gutes Haar gelassen. Ich frage mich, ob es überhaupt jemanden gibt, den er leiden kann.« Astrid stieß einen leisen Seufzer aus. »Auf mich hat Nygren jedenfalls einen netten Eindruck gemacht. Ich dachte, er würde sicher ab und zu bei mir vorbeischauen, aber er hat sich nie wieder blicken lassen. Wahrscheinlich haben Sie Recht, und er hat auf dem großen Hof einfach sehr viel um die Ohren. Gibt es denn eine Frau Nygren?«

»Nicht dass ich wüsste. Er scheint allein zu leben.«

»Wie schade. Das kann für einen Mann nicht einfach sein, so ganz allein zu leben. Keinen zu haben, der einem das Essen kocht. Dann muss er sich damit auch noch herumplagen.«

»Vielleicht kocht er gern.«

»Ja, wer weiß. Es soll ja Männer geben, denen das Spaß macht. Per hat sich nie darum gekümmert. War ganz unglücklich, wenn ich einmal eine Zeit lang fort musste. Nein, hier rede und rede ich ... Sie haben doch sicher noch andere Dinge zu tun. Außerdem bekommen Sie doch Besuch zum Essen. Ich schlage das Eis doppelt in Packpapier ein, dann hält es sich, wenn Sie sich beeilen.«

PM zahlte und eilte aus dem Laden, ehe Astrid noch weitere Gesprächsthemen einfielen. Er stieg auf sein Fahrrad und stieß einen Seufzer aus. Er wusste selbst nicht, ob er erleichtert war, weil sie ihm keine Vorwürfe wegen seiner seltenen Besuche gemacht hatte, oder weil sie nicht mehr dazu gekommen war, alle Einzelheiten im Leben ihrer zahlreichen Nachkommen zu schildern. Jetzt hatte er einen beschwerlichen Heimweg vor sich, mit vielen Steigungen und zwei schweren Tüten am Lenker. Er stellte sich auf die Pedale und nahm den ersten Hügel in Angriff.

Der leiseste Verdacht - Schweden-Krimi

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