Читать книгу Der leiseste Verdacht - Schweden-Krimi - Helena Brink - Страница 12
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ОглавлениеAm selben Tag
Rolf Stenberg fuhr in gemächlichem Tempo, fest entschlossen, die unverhoffte Abwechslung eines Landausflugs nach Kräften zu genießen. Mit Verwunderung nahm er zur Kenntnis, dass der Frühling sich in fortgeschrittenem Stadium befand. Bald würde der Sommer da sein und mit ihm all die lästigen Pflichten gegenüber seiner Familie.
Der von Anemonen übersäte Buchenwald schimmerte nie so grün wie zu dieser Zeit. Doch hätte er diese Pracht ebenso gut in einer gut gemachten Fernsehreportage bewundern können. Die Eindrücke flimmerten duftlos an ihm vorüber wie die Bilder auf einer Mattscheibe. Warum hielt er nicht an und setzte sich zwischen die Anemonen, atmete tief durch und ließ die Natur auf sich wirken? Weil Hauptkommissar Stenberg, wie üblich, keine Zeit hatte. PM erwartete ihn um vier Uhr. Er würde sich ohnehin verspäten.
Er hatte ein mulmiges Gefühl, wenn er an den Zweck seines Ausflugs dachte. Ein ums andere Mal sagte er sich, dass er keine Schuld daran trug. Umstände, die sich seinem Einfluss entzogen, hatten ihn in diese beklemmende Situation gebracht. Doch was half die Erkenntnis, dass er schuldlos daran war? Seine Nachrichten würden das Leben seines Freundes nachhaltig erschüttern. Was dies für ihre langjährige Freundschaft bedeutete, daran wollte er gar nicht erst denken.
Und wie stand es um seine Arbeitsmoral? Es zwang ihn doch niemand, tagaus, tagein in seinem Büro zu hocken, um unzählige Telefonate zu erledigen, den nie versiegenden Strom an Besuchern zu empfangen und sich durch Aktenberge zu fressen, die seinen Schreibtisch zu ersticken drohten. Der Sinn dieser täglichen Plackerei - das redete er sich jedenfalls ein - war eine Minderung der Arbeitsbelastung, war die Hoffnung, die Aktenberge eines Tages vollständig abgetragen zu haben. Als er Martin, seinem fünfundzwanzigjährigen Sohn, von diesem Ansinnen erzählte, hatte der nur herzlich lachend erwidert: »Vergiss es, Papa! Die Aktenberge werden nie kleiner werden. Du solltest lieber damit anfangen, mehr an dich selbst zu denken. Es dankt dir keiner, wenn du dich zu Tode schuftest.« Das Wahre an dieser Bemerkung war so schwer verdaulich, dass er sich fürs Erste nicht weiter mit ihr beschäftigte.
Eigentlich war er kaum jemandem Rechenschaft schuldig, was seine Arbeitsmethoden betraf, und auch seine Zeiteinteilung ging niemanden etwas an. Dennoch stiegen an einem solchen Tag uralte Erinnerungen in ihm auf, an sonnendurchflutete Tage, an denen er einst die Schule geschwänzt hatte. Tage, die lust- und angstvoll zugleich gewesen waren. Die Missachtung von Regeln und Verboten war noch nie seine Sache gewesen, und schon als Kind hatte er dies als persönliche Schwäche betrachtet. Das Schuleschwänzen, heimliches Rauchen und andere Dinge, die für die meisten in einem gewissen Alter selbstverständlich waren, hatten ihm stets Gewissensbisse bereitet. Aber natürlich hatte er die Verachtung seiner gleichaltrigen Freunde mehr gefürchtet als alles andere, also hatte auch er sich in der Kunst des Ungehorsams geübt und sein Kreuz in aller Stille getragen. Doch allmählich hatte er die Ursache seiner Furcht vor Regelübertretungen erkannt. Sie lag in dem Bild, das er sich von seinem Vater gemacht hatte. Er war wie ein beharrlicher Schatten, der nie von seiner Seite wich und in seiner selbstgerechten Güte über all seine Handlungen urteilte und richtete.
Seine beiden Eltern entstammten freikirchlich geprägten Elternhäusern. Seine Mutter war zu wirklicher Güte imstande gewesen, wenngleich er sie vorwiegend eingeschüchtert und unterdrückt in Erinnerung hatte. Sein Vater war machtbesessen und scheinheilig gewesen. Sein unbeugsamer Wille hatte sich weniger durch lautstarke Forderungen als vielmehr durch unheilvolles Schweigen und subtilen Sarkasmus bemerkbar gemacht. Er dominierte das Leben der gesamten Familie mit seiner ebenso maß- wie freudlosen Pedanterie. Obwohl sein Tod schon viele Jahre zurücklag, geschah es immer noch, dass Hauptkommissar Stenberg harte Gewissenskämpfe mit ihm ausfocht.
Dass er sich für den Beruf des Polizisten entschieden hatte und sich für die Einhaltung der Gesetze engagierte, betrachtete er als eine Ironie des Schicksals. Der Vater war mit der Berufswahl des Sohnes zufrieden gewesen, und da diesem allein der Gedanke zuwider war, es dem Vater recht zu machen, wurde er ein rebellischer Polizist. Methodisch hatte er seine Abneigung gegen ein formalistisches Rechtsverständnis und die vorgefassten Anschauungen vieler Kollegen entwickelt. Für ihn war es eine Frage der Disziplin, zu allen Formfragen eine entspannte und unkonventionelle Haltung einzunehmen. Er hielt sich für einen guten Polizisten und zählte die Vorbehalte vonseiten seiner Kollegen und Vorgesetzten, denen er sich im Lauf der Jahre gegenübersah, zu seinen Verdiensten. Ein Rebellentum, das er durch sein übertriebenes Verantwortungsbewusstsein, das ihn mit Haut und Haar zu verschlingen drohte, teuer bezahlte.
Sein Freund PM war in vieler Hinsicht das krasse Gegenteil von ihm. Vermutlich hatte er deswegen eine so tiefe Zuneigung zu ihm gefasst.
Sie kannten sich, seit sie im Alter von sieben Jahren gemeinsam die Grundschule besucht hatten. Roffe hatte unverhohlene Bewunderung für den vorlauten Patrik empfunden, der Kieselsteine gegen die Schulfenster schleuderte, den Mädchen nachstellte und freche Sprüche an die Toilettenwände kritzelte, ohne auch nur die geringsten Anzeichen von Furcht zu zeigen.
Als Roffe nach einiger Zeit zu Patrik nach Hause eingeladen wurde, kannte seine Verwunderung keine Grenzen, denn sein neu gewonnener Freund war offensichtlich kein einzigartiges Phänomen. Seine gesamte Familie schien vom selben Schlag zu sein. Patriks Eltern hatten nicht weniger als fünf großmäulige Kinder, die lärmend und selbstgewiss eine geräumige alte Villa bewohnten, in der ein ständiges Chaos zu herrschen schien. Außerdem besaßen Patriks Eltern eine berühmt-berüchtigte Buchhandlung in der Stadt; ein Umstand, der Roffe erst Jahre später bewusst wurde.
Zu dieser Zeit gab es in Christiansholm zwei Buchhandlungen, von denen nur die eine als zweifelsohne respektabel galt. Sie war wohlgeordnet und führte neben Schulbüchern und Konfirmationsbibeln auch Erbauungsliteratur sowie die einschlägigen Bestseller. Außerdem gab es dort Schreibwaren. In der anderen herrschte zumeist drangvolle Enge. Auf den Tischen und der Ladentheke türmten sich die Novitäten. Es roch nach Staub und Zigaretten. Hierher ging man, um sich einen Überblick über die wichtigsten Neuerscheinungen in Lyrik und Prosa zu verschaffen, und suchte man nach etwas Gewagtem, beispielsweise einem skandalumwitterten Roman, der öffentlichen Anstoß erregte, wurde man hier stets fündig. Dieser anrüchige Ort war nicht nur ein Treffpunkt für literarische Feinschmecker und politische Extremisten, sondern auch für Gymnasiasten, die als besonders progressiv gelten wollten.
Ohne seinen Vater direkt anzulügen, gelang es Roffe, diesem jahrelang zu verschweigen, dass Patrik der Sohn des nur in gewissen Kreisen geschätzten Buchhändlers war. Als die Wahrheit schließlich ans Licht kam, waren es die Liebe und der Respekt des Vaters für die Musik, welche die Situation retteten. Zu dieser Zeit gingen beide Freunde bereits aufs Gymnasium und standen unter dem Einfluss ihres enthusiastischen Musiklehrers Ahlstedt, der sich mit heldenhafter Beharrlichkeit auch um das städtische Amateurmusikleben verdient machte. Roffe war der Sohn eines Organisten und hatte die Grundlagen des Klavierspiels erlernt, noch ehe er richtig sprechen konnte. Patrik, der aus einer Familie kam, in der viel musiziert wurde, nahm seit dem sechsten Lebensjahr Cellounterricht. Ahlstedt hielt ihn für sehr talentiert, was auch Roffes Vater milde stimmte. Ein Junge, der so musikalisch war, konnte nicht von Grund auf verdorben sein, auch wenn er einen dubiosen Vater hatte.
Während ihrer gesamten Gymnasialzeit waren die beiden Jungen davon überzeugt, dass ihnen eine Karriere als Musiker bevorstand. Eine Überzeugung, die von Musiklehrern und Eltern eifrig genährt wurde. Doch Patrik war vielseitig begabt und neugierig auf die meisten Dinge. Er schloss sich mit einigem Erfolg einer Laienspielgruppe an und wollte eine Zeit lang Schauspieler werden. Später wandte er sich der Malerei zu und hielt mit beinahe beunruhigender Beharrlichkeit an ihr fest. Roffe konnte sich gut an Patriks erste Vernissage erinnern. Eine seltsame Veranstaltung, die in der Diele der großen Villa stattfand, wo er ein paar Ölbilder aufgestellt und zahlreiche Zeichnungen mit Reißnägeln an die verschlissenen Tapeten geheftet hatte. Damals gingen sie in die Unterprima. Patrik hatte vehement die Werbetrommeln gerührt und die halbe Schule mit dem Versprechen, der Wein werde in Strömen fließen, zu sich nach Hause gelockt. Roffe konnte sich nicht erinnern, dass die Bilder auf das Publikum einen nachhaltigen Eindruck gemacht hätten. Es lag zweifellos am Wein, dass der Andrang so zahlreich war.
1965 hatten sie Abitur gemacht, und dieser Sommer war zweifellos der glücklichste seines Lebens gewesen. Die Schulpforte, die er als Gefängnistor empfunden hatte, stand sperrangelweit offen und gab den Blick auf ungeahnte Möglichkeiten frei. Patrik hatte sicher Ähnliches empfunden, nur dachte er bereits weiter. Nach Wochen des Feierns, die sie sich ehrlich verdient zu haben glaubten, kehrte er dem verschlafenen Christiansholm den Rücken und machte sich auf nach Stockholm. Die offizielle Begründung lautete, er wolle Privatstunden bei einem Cellolehrer der Musikhochschule nehmen. Roffe war sich hingegen nicht mehr so sicher, was seine Berufswahl betraf. Er wohnte weiterhin zu Hause und sprang hier und da für seinen Vater als Organist ein. Doch schon nach einem Jahr hatte er von diesem Leben genug, und es kam zu der unvermeidlichen Auseinandersetzung zwischen ihm und dem Vater. In jugendlicher Raserei brach er mit seiner Familie und folgte seinem Freund Patrik nach Stockholm.
Aus Patriks Musikstudium war nicht viel geworden, denn im Stockholm der sechziger Jahre, das von Studentenunruhen, der Anti-Vietnam-Bewegung und der Hippiezeit geprägt war, gab es allzu viele Ablenkungen. Patrik fand sich inmitten aller -ismen und subversiven Anschauungen mühelos zurecht, hatte bereits jede Menge Freunde unterschiedlichster Herkunft und hielt sich vorwiegend in Künstlerkreisen auf. Sein Cello nahm er nur sporadisch zur Hand, dafür widmete er sich zunehmend der Malerei. Es war zu dieser Zeit, dass er sich einen Bart und den Namen Patrik der Maler zulegte und die Leute ihn PM zu nennen begannen.
Zwischen Patriks leidenschaftlichen und selbstbewussten Freunden kam sich Roffe stets deplatziert vor. An den Studentenrevolten und Anti-Vietnam-Demonstrationen nahm er nur halbherzig teil. Ein paar Mal begleitete er PM in die einschlägigen Lokale, in denen man vor Zigarettenqualm kaum atmen konnte und Ravi Shankars nicht enden wollendes Sitarspiel sowie der Hollenlärm der Rolling Stones jede Unterhaltung unmöglich machten. Im Zwielicht, denn etwas anderes als Kerzenschein gab es in diesen Kneipen nicht, ahnte er die bleichen, in sich gekehrten Gesichter. Er hatte tapfer an den ständig kursierenden Joints gezogen und war in eine narzisstische Selbstbespiegelung versunken. Die Frauen waren in seiner Erinnerung schmerzlich schön und unerreichbar gewesen. Wie junge Priesterinnen thronten sie zwischen marokkanischen Kissen und indischen Tüchern und schwebten zweifellos in höheren Sphären als er. Er hätte nicht einmal zu träumen gewagt, dass er ihnen gefallen könnte. Patrik fühlte sich in diesem Milieu hingegen wie zu Hause, und was Frauen anging, war ihm jede Unsicherheit fremd.
Nein, der Versuch des Freundes, einen Revolutionär aus ihm zu machen, war von vornherein zum Scheitern verurteilt. Im Herbst 1965 schrieb sich Roffe an der juristischen Fakultät ein. Im Jahr darauf wurde Patrik an der Kunstakademie aufgenommen. Da Patrik außerdem viel reiste, sahen sie sich in den nächsten Jahren nur selten.
Während seines Jurastudiums lernte Roffe Anita kennen. Ein Grund für ihre gegenseitige Anziehungskraft bestand darin, dass sie beide mit ihren Familien gebrochen hatten. Er war unter der scheinheiligen Tyrannei seines Vaters aufgewachsen, während sie unter ihrer machtbesessenen Mutter gelitten hatte. Zwei verwundete und ausgestoßene Seelen waren sich begegnet und wärmten sich am Verständnis des anderen. Zumindest zu Beginn.
Ehe er es sich versah, wohnten sie in einer Einzimmerwohnung in Hägersten und erwarteten ihr erstes Kind, das den Namen Martin tragen sollte. Ihre finanzielle Lage war mehr als bescheiden, und er wusste nicht mehr richtig, wie es begonnen hatte, doch als sie nach einem weiteren Jahr der Geburt ihres zweiten Kindes Susanne entgegenblickten, kroch das stolze, aber bettelarme Paar zu Kreuze und versöhnte sich mit seinen Eltern. Eine Heirat war unausweichlich und hatte, quasi als Belohnung für gutes Betragen, eine materielle Unterstützung beider Großelternpaare zur Folge.
Es bestand kein Zweifel, dass Roffe dazu neigte, sein Leben kompliziert zu machen. Das begriff er, als ihm die Arbeit in seinem bescheidenen, aber hoch verschuldeten Haus in Högdalen mal wieder über den Kopf wuchs. Seine Frau, die sich seit der großen Versöhnung in ständigem Streit mit ihrer Mutter befand, hatte einen Nervenzusammenbruch erlitten - und ihm die tägliche Beaufsichtigung ihrer beiden Kinder übertragen. Dies allein wäre kein Problem gewesen, hätte er nicht darüber hinaus mit seinem Vater in permanenten, demütigenden Verhandlungen wegen eventueller Vorschüsse gelegen, um die nächste Ratenzahlung leisten zu können. Doch waren nicht alle Tage so bedrückend gewesen. Er und Anita waren damals überzeugt davon, das Ziel ihrer Wünsche erreicht zu haben, und in gewisser Weise stimmte das auch.
Trotz des kräftezehrenden Familienlebens gelang es ihm schließlich, sein Studium zu Ende zu bringen. Doch als er sich dem Examen näherte, begriff er, dass seine Noten keinesfalls ausreichen würden, um eine glänzende Karriere als Richter oder Staatsanwalt in Angriff zu nehmen. Nicht einmal für eine Laufbahn als gewöhnlicher Anwalt oder Wirtschaftsjurist würden sie ausreichen. Die rettende Idee lag im Grunde auf der Hand, da Anitas Vater bei der Stockholmer Polizei angestellt war. Eines Tages hatte er diesen Gedanken erstmals laut ausgesprochen. Wenn er sich bei der Polizei bewarb, sollte einem raschen Aufstieg nichts im Wege stehen. Er hatte es satt, von seinem Vater und seiner Schwiegermutter abhängig zu sein, und wollte endlich sein eigenes Geld verdienen. Deshalb wählte er für seine schriftliche Abschlussarbeit das Thema »Die Machtmittel der Polizei in Relation zur Rechtssicherheit des Individuums«.
Er erinnerte sich noch genau, wie gedemütigt er sich gefühlt hatte, als er PM seinen Entschluss mitteilte. Der Freund hatte ihn kopfschüttelnd angeschaut und ausgerufen: »Du willst Bulle werden? Wie zum Teufel sollen wir dann noch normal miteinander umgehen können?« PMs Enttäuschung war unverkennbar gewesen. Fast schien es so, als müsse er seinen Freund damit verloren geben.
Aber ihre Freundschaft bestand auch diese Prüfung. Zwar konnte sich PM auch später ironische Bemerkungen zu Roffes Berufswahl nicht verkneifen, doch waren sie stets von der gutmütigen Sorte, und seine eigene Karriere bespöttelte er nicht minder.
Nach zehn Jahren bei der Stockholmer Polizei war alles so gekommen, wie er vorausgesehen hatte. Er war erwartungsgemäß die Karriereleiter emporgekrabbelt, Anita und er waren in ein größeres Haus in Bromma übergesiedelt, und ihr drittes Kind, Camilla, wurde in eine Familie hineingeboren, die ihre ersten Krisen hinter sich und ihre Schäfchen einigermaßen im Trockenen hatte. Anita und er beherrschten inzwischen sogar die Kunst, den Eindruck einer intakten Familie zu vermitteln, zumindest nach außen hin. Er verdiente das Geld, und sie kümmerte sich darum, dass zu Hause alles funktionierte. Doch Roffe stellte sich zunehmend die Frage, ob dies der eigentliche Sinn allen menschlichen Strebens war. Natürlich war es das nicht. Die Freunde, mit denen er dieses Thema erörterte, versicherten ihm einhellig, er habe nur die Voraussetzungen für die wirklich wichtigen Dinge des Lebens geschaffen. Aber diese ließen auf sich warten, und schließlich dämmerte ihm, dass sie sich nicht offenbaren würden, falls er nicht zu einer radikalen Änderung bereit war. Und das Radikalste, was ihm in dieser Zeit einfiel, war eine Bewerbung bei der Polizei in Christiansholm. Eine Anstellung bei der dortigen Behörde würde ihn zumindest zeitweise von den Fesseln seiner bürgerlichen Existenz befreien, die er so hartnäckig aufgebaut und verteidigt hatte. Im Grunde seines Herzens war er ein geselliger Eremit, der gegen eine Familie nichts einzuwenden hatte, solange er nicht mit ihr unter einem Dach leben musste. Die Rolle dessen, der seine Angehörigen schnöde im Stich lässt, nahm er gern an und gönnte seiner Frau all die Sympathie und das Mitleid, die ihr von Freunden und Verwandten entgegenschlugen.
Nach einer Weile stellte er fest, dass die Idee, sechshundert Kilometer zwischen sich und die Familie zu legen, für alle von großem Nutzen war. Anita war aufgeblüht und widmete sich auf einmal verschiedensten Interessen. Seine Kinder sah er mehrmals im Jahr und hatte mit ihnen eine sehr viel schönere Zeit als damals, als er noch unglücklich in Stockholm mit ihnen zusammengelebt hatte. Richtig glücklich war er zwar auch in Christiansholm nicht, doch hier konnte er seinen irrationalen Impulsen nachgeben, ohne so vielen Menschen auf die Zehen zu treten. Seine einzige Belastung waren die ewigen Ferien, weil Anita darauf bestand, sie auch weiterhin für die gesamte Familie zu organisieren. Aber auch das würde eines Tages ein Ende haben. Bald würden die Kinder zu rebellieren beginnen, und dann ....
Als Roffe an Knigarps Schweineställen vorbeirollte, drängten die Probleme der Gegenwart drastisch in sein Bewusstsein zurück. Er drosselte das Tempo und bog in den Weg ein, der zu PMs Haus führte.
Als er aus dem Auto stieg, trat PM aus der Tür. Für einen Moment sahen sie sich in die Augen, und Roffe registrierte beklommen, dass sie beide es eilig hatten, den Blick abzuwenden. Schlechte Nachrichten lagen in der Luft, und keiner von ihnen wollte es sich anmerken lassen. Eine Plastiktüte in jeder Hand, betrachtete Roffe den Vorgarten. Er hatte keinesfalls vor, mit der Tür ins Haus zu fallen. Zunächst sollten sie in Ruhe miteinander essen. Er sog den betörenden Blumenduft ein.
»Narzissen«, sagte er.
»Kann sein«, entgegnete PM vage.
Er stand immer noch mit nahezu abweisender Miene an der Treppe und hatte die Hände in den Hosentaschen vergraben.
Roffe verspürte einen irritierenden Drang, sich weiter in das Thema Blumen zu vertiefen. Außerdem verdiente der Garten seine volle Aufmerksamkeit.
»Hat Katharina das allein zustande gebracht oder hast du ihr dabei geholfen?«
»Ich mähe den Rasen, und wenn sie sagt, ich soll ein Loch graben, dann tue ich das. Warum?«
Roffe sagte nachdenklich: »Sie hat wirklich ein unglaubliches Händchen für alles, was wächst. Am meisten bewundere ich ihre Begabung, alles so natürlich aussehen zu lassen. Ich meine die Mischung aus angelegtem und wildem Garten. Ich betrachte das als eine große Kunst. Du weißt doch, wie sehr ich zu akribisch angelegte Gärten hasse.«
»Ich dachte, du hasst sie nur, wenn du sie selbst anlegen musst.«
»Stimmt, in Högdalen und Bromma habe ich das bis zur Verblödung gemacht«, sagte Roffe. »Jedes leere Fleckchen musste bepflanzt werden. Man konnte keinen Schritt mehr tun, ohne auf irgendwelchen Blumen herumzutrampeln. Von eigenen Gärten habe ich die Nase gestrichen voll. Da bewundere ich lieber, was andere zustande gebracht haben.«
PM deutete auf die Plastiktüten. »Dauert es lange mit dem Essen?«
»Kommt drauf an. Wenn du mir hilfst und nicht dauernd davonläufst, dauert es nur eine halbe Stunde. Bist du hungrig?«
»Nicht besonders. Aber wenn wir uns beeilen, können wir noch draußen essen.«
»Okay«, sagte Roffe. »Dann lass uns anfangen.«
Sie gingen in die Küche, wo Roffe seine Tüten leerte.
»Ich mache Spaghetti Carbonara, aber nach meinem eigenen Rezept«, sagte er. »Das ist einfach und lecker. Du hast doch Eier? Ich brauche vier Stück.«
»Ja, sollen sogar frisch sein.«
»Wollen wir’s hoffen. Ich brauche eine Bratpfanne und einen großen Kochtopf für die Spaghetti. Gut ... würdest du ihn mit Wasser füllen? Stopp, nicht so viel, die Nudeln brauchen auch noch Platz. Dann kannst du den Schinken würfeln.«
Roffe arbeitete zügig und routiniert, während sein Gastgeber ihn nach Kräften unterstützte und sich bemühte, nicht im Weg zu stehen.
»Was für Wein hast du mitgebracht?«, fragte PM.
»Einen Chianti Ruffino zum Trinken und einen trockenen Weißen zum Kochen.«
»Chianti habe ich auch noch. Wir können doch die Flaschen austauschen und eine von meinen nehmen, die schon eine Weile lagern?«
»Gute Idee. Wenn du mit dem Schinken fertig bist, kannst du den Käse reiben. Ist zwar kein richtiger Parmesan, aber dieser tut’s auch. Ich habe ihn beim Käsehändler gekauft. Ansonsten ist Käse ja heutzutage ein trauriges Kapitel, vor allem in diesen riesigen Supermärkten. Hast du den Schinken gewürfelt? Die Zwiebeln sehen glasig aus. Also, hinein mit dem Schinken und einen ordentlichen Schuss Wein dazu. Ah, welch ein Duft! Jetzt könntest du noch ein paar Knoblauchzehen in Scheiben schneiden und dazugeben.«
»Soll ich etwa alles tun?«, beklagte sich PM. »Ich dachte, du wolltest die Carbonara machen.«
Roffe sah ihn streng an. »Ich mache die Carbonara, und du bist mein Assistent. Natürlich bin ich für das Resultat verantwortlich und werde dieses himmlische Gericht persönlich abschmecken. Und in meine Eiersauce darfst du mir ebenfalls nicht reinpfuschen. Aber nimm doch ein Glas Wein, wenn du überanstrengt bist, und schenk mir auch eines ein. Das regt den Appetit an. Ach, und gib mir doch bitte einen Schneebesen.«
Schweigend kosteten sie den Wein. Dann begann Roffe nochmals in seinen Plastiktüten zu wühlen und rief aus: »Verdammt! Jetzt habe ich doch tatsächlich die Petersilie vergessen!«
PM, der immer noch mit dem Schälen des Knoblauchs beschäftigt war, blickte auf und fragte: »Ist das so wichtig?«
»Wichtig?« Roffe verdrehte die Augen. »Natürlich ist das wichtig. Ohne Petersilie ist es einfach nicht dasselbe.«
»Ich kann dich beruhigen. Im Garten haben wir massenhaft Petersilie.«
Roffe wäre vor Erleichterung fast in die Luft gesprungen. »Dann sind wir gerettet. Holst du uns einen ordentlichen Bund? Aber beeil dich, das Wasser kocht schon.«
Er warf PM, der folgsam nach draußen trottete, einen langen Blick nach. Irgendetwas stimmte nicht mit ihm. Er wirkte gedämpft, beinahe teilnahmslos. Wohl kaum die geeignete Verfassung für schlechte Nachrichten. Aber was sollte er tun? Jemand musste schließlich mit ihm sprechen. Doch zuerst das Essen und ein paar Gläser Wein, dann würden sie reden.
Nachdem die gehackte Petersilie mit geriebenem Käse, Schinken, geschlagenen Eiern und Knoblauch eine glückliche Verbindung eingegangen und mit den dampfenden Spaghetti vermischt worden war, sagte Roffe: »Jetzt kommt das Wichtigste, um dieses Gericht zu einer richtigen Carbonara zu machen.«
Er griff behutsam zu seiner mitgebrachten Pfeffermühle und ließ einen dichten Regen gemahlenen schwarzen Pfeffers auf die gelbe Nudelmasse niedergehen. Er wirkte äußerst zufrieden.
»Ja, so sieht das gut aus. Als hätte sich ein Kohlenhändler über der Schüssel am Kopf gekratzt.«
Essen und Wein standen auf dem Gartentisch bereit. Der eine oder andere Seufzer sowie das leichte Klappern von Besteck und Gläsern waren die einzigen Geräusche, die anfangs zu hören waren. Beobachtet wurden sie von drei wohlerzogenen Katzen, die in gebührendem Abstand auf eventuelle Reste warteten. Die Vögel gaben ein frenetisches Abendkonzert, während die tief stehende Sonne den Garten in goldenes Licht tauchte.
Nach einer Weile sagte Roffe: »Gar nicht so schlecht. Trink du den Wein aus. Ich muss noch fahren.«
PM schaute auf und sagte anerkennend: »Schmeckt wirklich ausgezeichnet. Man merkt, dass du professionelle Hilfe hattest. Der Wein ist auch nicht zu verachten.«
Roffe lehnte sich zurück und verschränkte die Hände hinter dem Nacken. »Kommst du manchmal zum Cellospielen?«, fragte er.
PM stocherte mit einem abgebrochenen Zahnstocher in seinen Zähnen.
»Manchmal spiele ich die Solosuiten von Bach, das ist alles«, sagte er. »Und du?«
»Ich glaube, ich habe das Klavier seit einem Monat nicht angerührt. Es ärgert mich maßlos, aber ich komme einfach nicht dazu.«
PM gab einen mürrischen Laut von sich. »Wer hindert dich denn? Es zwingt dich doch niemand, mehr als acht Stunden am Tag ein Bulle zu sein.«
Roffe verzog säuerlich das Gesicht. »Fängst du jetzt auch noch an? Martin liegt mir schon ständig in den Ohren, ich würde zu viel arbeiten.«
»Tust du ja auch. Nimm dir ab und zu mal frei. Komm mich besuchen, dann können wir zusammen spielen, so wie in alten Zeiten.«
Roffe warf seinem Freund einen rätselhaften Blick zu und entgegnete: »Ab dem Herbst kann ich meine Arbeit vielleicht völlig umstrukturieren.«
PM hob die Brauen. »Bist du dir darüber im Klaren, dass du seit zwei Jahren von dieser Umstrukturierung sprichst? Bis jetzt hat sie nur dazu geführt, dass du immer mehr um die Ohren hast.«
»Ich weiß, aber jetzt wird sich vielleicht wirklich etwas verändern. Der Polizeidirektor lässt sich im Oktober pensionieren.«
PM applaudierte. »Na endlich. Dann wirst du also befördert?«
»Abwarten«, antwortete Roffe vorsichtig. Dann bemerkte er plötzlich die geduldig wartenden Katzen. »Wie viele Katzen habt ihr? Die gelbe erkenne ich wieder. Wie heißt sie noch gleich?«
»Lady Pamela. Die anderen beiden sind ihre Kinder.«
»Sie ist ganz schön dick.«
»Ja, sie ist wieder trächtig.«
»Warten sie etwa darauf, dass für sie etwas abfällt?«
»Natürlich.« PM schaute in die Schüssel. »Willst du noch mehr haben? Ansonsten könnten sie doch den Rest bekommen.«
»Also, ich bin satt«, sagte Roffe.
»Wie wär’s mit einem Espresso?«
»Hört sich gut an. Ich bleibe sitzen und lausche den Vögeln.«
PM nahm die Essensreste und trug sie ins Haus. Die Katzen folgten ihm. Roffe hoffte inständig, der weitere Abend würde ebenso unbeschwert verlaufen, wie er begonnen hatte.
Als sie kurz darauf vor ihren Kaffeetassen saßen, hatte die Dämmerung eingesetzt. Die Luft war immer noch mild, aber die Schatten waren länger geworden. PM stopfte seine Pfeife und steckte sie an. Roffe rückte ein Stück zur Seite, um dem Rauch zu entgehen, der seiner Meinung nach den Duft von Katharinas Blumenbeeten zerstörte.
Nachdem sie eine Weile geschwiegen hatten, spürte Roffe, dass es an der Zeit war. Er sah prüfend zu seinem Freund hinüber und sagte: »Dafür, dass du einer der redseligsten Menschen bist, die ich kenne, bist du ziemlich schweigsam heute.«
PM zog nachdenklich an seiner Pfeife und entgegnete nach einer Weile: »Katharina sagt, ich würde jedes Jahr schweigsamer. Sie betrachtet das als gutes Zeichen.«
»Damit könnte sie Recht haben. Aber ich wundere mich trotzdem.«
»Warum?«
»Ja, bist du denn nicht neugierig, was ich dir zu sagen habe?«
»Nein. Ich vermute, es handelt sich um schlechte Nachrichten, da du am Telefon nicht damit herausrücken wolltest.«
»Am Telefon war mir das zu kompliziert. Die Angelegenheit hat sich in eine Richtung entwickelt, die mir ganz und gar nicht gefällt.«
»Welche Angelegenheit?«
»Nun, sagen wir, die Anzeichen, die darauf hindeuten, du könntest etwas mit der nicht identifizierten Leiche in der Jauchegrube zu tun haben.«
PM streckte gähnend die Glieder. »Ach, diese Sache.«
»Du erinnerst dich doch, dass ich Marianne Wester verhören wollte?«
»Ja, natürlich. Was hatte sie zu sagen?«
Roffe registrierte erstaunt das beinahe demonstrative Desinteresse seines Freundes und fuhr fort: »Meine Kollegen in Stockholm hatten schon vergangenen Donnerstag versucht, sie zu erreichen, konnten aber nicht an sie herankommen, genauso wenig wie du.«
PM zuckte die Achseln. »An manche Frauen kommt man eben schwer heran. Vielleicht wollen sie sich so interessant machen.«
»Damit kenne ich mich nicht aus«, erwiderte Roffe trocken. »Meine Erfahrung mit Frauen ist bescheidener als deine. Doch falls es dich interessiert, erzähle ich dir, was dann geschah.«
PM stopfte sich erneut seine Pfeife und zündete sie umständlich an.
»Nur zu«, sagte er.
»Als sie weder die Tür öffnete noch ans Telefon ging, haben sie, wie in solchen Fällen üblich, ihre Daten überprüfen lassen und festgestellt, dass sie nur wenige Stunden, nachdem ich ein Verhör beantragt hatte, von einem Mann namens Tranehed als vermisst gemeldet worden war. Dieser Tranehed, seines Zeichens Direktor irgendeines Unternehmens, war offenbar ein guter Freund, der in regelmäßigem Kontakt zu ihr stand. Sie waren am Dienstagabend miteinander verabredet gewesen, also am selben Tag, an dem du zu ihr wolltest. Als sie am Dienstag nicht kam und auch am nächsten Tag nicht zu erreichen war, begann Tranehed sich Sorgen zu machen und verständigte die Polizei. Normalerweise nimmt man so eine Vermisstenmeldung ja erst mal gelassen auf, aber in diesem Fall kam mein geplantes Verhör sowie die mögliche Verbindung zu einem Mordfall hinzu. Also beschloss man, ihre Wohnung zu durchsuchen. Marianne Wester lag tot in ihrem Bett, ermordet.«
Roffe machte eine Pause, um eventuelle Reaktionen seines Freundes zu beobachten. Aber es gab keine. PM saß vollkommen regungslos da, wie eine Statue, während ihm die erloschene Pfeife im Mundwinkel hing. Nicht ein Laut kam über seine Lippen. Roffe fragte sich, ob er ihm überhaupt zugehört hatte. Es war so dunkel geworden, dass seine Gesichtszüge nicht zu erkennen waren. Die Luft wurde kühl, und Roffe, der zu seiner eigenen Verwunderung die Situation etwas unheimlich fand, fragte, ob sie hineingehen sollten.
PM zuckte zusammen, als sei er plötzlich geweckt worden.
»Wie?«, fragte er schroff.
»Du meinst, wie sie ermordet wurde?«
»Ja.«
»Man hat ihr die Kehle durchgeschnitten.«
Endlich zeigte PM eine sichtbare Reaktion. Die Pfeife fiel ihm aus dem Mund, und er begann zu zittern. Roffe bemerkte es zuerst an seinen Händen, die auf dem Boden nach der Pfeife tasteten. Dann sah er, dass seine Schultern zuckten. Als PM auf die Knie sank, um nach seiner Pfeife zu suchen, tat Roffe dasselbe, um ihm zu helfen. Sie fanden sie gleichzeitig, doch PM war nicht in der Lage aufzustehen. Als hätte er Gelee in den Gliedern.
Roffe fasste ihn unter den Achseln und zog ihn nach oben. Dann legte er sich einen Arm über die Schultern und half ihm ins Haus. Als PM auf dem Sofa lag, sah Roffe sich nach einer Decke um.
»Du hast einen Schock«, sagte er. »Das geht bald vorüber. Wo gibt es hier eine Lampe? Man sieht ja kaum die Hand vor Augen.«
Er erhielt keine Antwort, entdeckte jedoch eine Tischlampe, die er anknipste.
»Willst du etwas zu trinken haben? Vielleicht etwas Starkes?«
PM schüttelte den Kopf und kniff die Augen zusammen.
»Es geht mir schon besser«, sagte er. Doch seine klappernden Zähne bezeugten das Gegenteil.
Roffe ließ sich neben PMs Kopf in einen Sessel sinken und sagte: »Atme ein paarmal tief ein, das wird dir helfen.«
PM befolgte den Rat und fand dies anscheinend so wohltuend, dass er eine Weile damit fortfuhr. Das Zittern nahm ab, und er setzte sich halb auf.
»Ein Whisky-Soda würde mir gut tun«, sagte er. »Die Flasche steht im Eckschrank da drüben. Schenk dir auch einen ein.«
»Nein danke«, sagte Roffe. »Ich muss nachher noch nach Hause. Whisky und Wasser fifty-fifty?«
»Ja.«
Als PM das Glas entgegennahm, sah er Roffe in die Augen.
»Und? Wie verdächtig bin ich?« Er brachte ein kraftloses Lachen zustande. »Ist das Haus schon von Polizisten umstellt, muss ich jetzt alles stehen und liegen lassen?«
Roffe ließ sich schwer in den Sessel sinken. Mit einem Mal fühlte er sich vollkommen ausgelaugt und ungeheuer bedrückt.
»Es sieht nicht gut aus, das weißt du. Es ist ein verdammter Mist, dass sie ausgerechnet an dem Tag ermordet wurde, als du in Stockholm warst.«
»Glauben deine Stockholmer Kollegen, dass ich der Mörder bin?«
»Sie halten es zumindest für möglich. Das ist doch selbstverständlich. Solltest du Axel Hemberg auf dem Gewissen haben, hättest du gute Gründe, auch Marianne Wester zu beseitigen, und leider lässt sich nicht leugnen, dass du zum Zeitpunkt des Mordes in ihrer Nähe warst. Die Situation ist alles andere als einfach. Auch wenn es keinen Hauptverdächtigen gibt, ist doch klar, dass unter anderem gegen dich ermittelt wird, solange deine Unschuld nicht erwiesen ist.«
PM stellte sein Glas ab. Er hatte es in einem Zug geleert.
»Und du?«, fragte er. »Du scheinst mich nicht für den Mörder zu halten, was unleugbar eine Erleichterung ist. Die Indizienlage ist doch erdrückend; was macht dich trotzdem so skeptisch?«
»Nichts, das ich zu Protokoll geben könnte, leider. Es ist die Tatsache, dass ich dich ziemlich gut kenne. Seit ungefähr vierzig Jahren. Ich weiß, wie du dich in allen möglichen Situationen verhältst. Vielleicht nicht in allen, aber in vielen. Ich kenne dein aufbrausendes Temperament und könnte mir notfalls vorstellen, dass du in blinder Wut auf jemanden einschlägst, der sich beim Fallen tödliche Verletzungen zuzieht. Vielleicht, wenn auch höchst unwahrscheinlich, wärst du sogar in der Lage, die Leiche in deiner Panik in der Jauchegrube deines Nachbarn zu versenken. Aber ich halte es für völlig ausgeschlossen, dass du wohlüberlegt nach Stockholm fährst, um einer Frau, deren Aussagen dir gefährlich werden könnten, die Kehle durchzuschneiden. Ich glaube einfach nicht, dass du so tickst.«
»Vielen Dank«, sagte er matt. »Ich glaube auch nicht, dass ich so ticke.«
Roffe fuhr fort: »Die Sache sieht im Moment folgendermaßen aus: Dem Hinweis von Marianne Wester, dass es sich bei der gefundenen Leiche um Axel handeln könnte, haben wir anfangs nicht viel Beachtung geschenkt. Doch seit ihrer Ermordung ist dies eine heiße Spur geworden. Ich selbst halte es für möglich, aber keinesfalls für sicher, dass zwischen dem Mord und der Leiche in der Jauchegrube ein Zusammenhang besteht. Und natürlich ist es möglich, dass dich jemand nach Stockholm gelockt hat, um dir beide Morde in die Schuhe zu schieben. In diesem Zusammenhang fällt mir ein, dass ich dich noch nach den Namen von Axels Freunden fragen wollte, mit denen ihr zusammen unterwegs wart. Hattest du die früher schon einmal gesehen?«
»Nein, noch nie.«
»Wie hießen sie?«
»Woher soll ich das jetzt noch wissen? Ich hatte ja schließlich einiges getrunken. Aber warte, ich glaube, der eine hieß Peter. Peter Engkvist oder Enberg, der Nachname fing mit En an, denke ich. Der blieb den ganzen Abend ziemlich nüchtern ... hatte kalte Augen. Ein unsympathischer Typ. Er hat uns in der Galerie abgeholt, und ich fühlte mich sofort provoziert, weil er nicht einen Blick auf meine Bilder warf. Ich hatte den Eindruck, dass Axel irgendwie Angst vor ihm hatte. Und ich erinnere mich daran, dass ich später den Eindruck gewann, Axel würde ihm Geld schulden. An den anderen Kerl kann ich mich kaum erinnern. Er stieß später zu uns, seinen Namen habe ich überhaupt nicht mitgekriegt.«
»Hast du ihnen erzählst, wo du wohnst?«
»Glaub ich nicht. Warum hätte ich das tun sollen? Ehrlich gesagt, habe ich keine Ahnung mehr, was ich ihnen gesagt habe.«
»Und die Frauen, Marianne und die andere? Schienen sie Axels Freunde zu kennen?«
»Nein, ich glaube, sie kannten nur Axel. Da bin ich mir ziemlich sicher.«
Roffe ließ sich das alles durch den Kopf gehen. Nach einer Weile sagte PM mit unsicherer Stimme: »Ich hätte nie geglaubt, dass so etwas passieren kann.«
»So was passiert täglich«, entgegnete Roffe.
»Ich weiß, aber normalerweise passiert es anderen, nicht mir ... und Katharina.«
Roffe sagte vorsichtig: »Ich finde, du solltest Katharina so schnell wie möglich in die Sache einweihen. Es wäre schlimm, wenn sie von anderer Seite davon erfährt.«
PMs Gesicht verzerrte sich, als hätte er einen Schlag bekommen.
»Glaubst du, das weiß ich nicht? Ich denke an nichts anderes.«
Er sprang plötzlich auf und warf die Decke beiseite.
»Weißt du, was das Schlimmste ist? Dass sie glaubt, die ganze Geschichte mit Axel sei ausgestanden. Dass sie glaubt, alles würde wieder gut werden ... und dass ich diese Seitensprünge nicht mehr nötig hätte ... das habe ich auch geglaubt. In die Sache mit Marianne bin ich einfach so reingeschlittert und dachte, ich käme mit ein paar Gewissensbissen davon. Ich habe schreckliche Angst davor, wie sie reagieren wird. Vielleicht hat sie endgültig die Schnauze voll von mir.«
Unerwartet verspürte Roffe einen wachsenden Zorn auf den Freund und wollte ihm einen weiteren Schlag versetzen.
»Du bist dir doch darüber im Klaren, dass Marianne Wester als eine Art Edelnutte betrachtet werden muss?«
PM schüttelte den Kopf. »Nein, das wusste ich nicht. Zumindest damals nicht. Zugegeben, nach all den Sauftouren mit Axel hätte ich einen gewissen Verdacht schöpfen können.«
Roffe schaute auf seine Hände und lachte leise.
»Für jemanden mit so viel Erfahrung bei den Frauen bist du ganz schön naiv, nicht wahr?«
»Herrgott, ich war doch stockbesoffen.«
Roffe hob den Kopf und sah PM in die Augen.
»Unter diesen Umständen ist ein gewisses Ansteckungsrisiko wohl nicht auszuschließen«, sagte er. »Auch Katharina wird daran denken.«
PM sank zurück und sah vollkommen resigniert aus.
»HIV?«
.« »Das riskiert man heutzutage
»Was kann ich jetzt noch dagegen tun?«
Roffe bereute seine Schroffheit und sagte mit ruhiger Stimme: »In solch einem Fall werden einige Routineuntersuchungen durchgeführt. Ich werde mich gleich morgen informieren, was ihre Blutprobe ergeben hat, und dir dann Bescheid geben. Außerdem gibt es momentan noch so viele offene Fragen. Du darfst nicht glauben, dass sich die Ermittlungen nur auf dich konzentrieren.«
»Ich danke dir. Was machen jetzt deine Kollegen in Stockholm?«
»Die stellen erst mal ihre Wohnung auf den Kopf und verhören ihren Bekanntenkreis, der ziemlich groß sein dürfte. In Anbetracht ihres Berufs ist nicht auszuschließen, dass es mehrere Menschen gibt, die ein Motiv hätten, sie aus dem Weg zu räumen.«
PM blickte auf. »Ich verstehe auch gar nicht, warum ausgerechnet ich auf einmal so interessant sein soll. Ich kannte sie doch kaum und hatte kein Ahnung, was für ein Leben sie führte.«
Roffe seufzte und sagte geduldig: »Was dich in den Augen der Polizei so interessant macht, ist ihre Andeutung, du könntest Axel Hemberg getötet haben, nachdem du sie gezwungen hattest, dir seine Adresse zu verraten. Dass ihr nach dieser Unterstellung der Hals durchgeschnitten wurde, verleiht ihr natürlich zusätzliches Gewicht.«
»Und wenn gar nicht sie es war, die den Brief geschrieben hat?«
»Du sagst es. An diese Möglichkeit habe ich auch schon gedacht.«
PM stand auf und begann unruhig auf und ab zu gehen.
»Warum seid ihr euch so sicher, dass der arme Teufel in der Jauchegrube ermordet wurde?«, fragte er. »Dieser Pole, zum Beispiel, von dem alle glauben, er sei abgehauen ... Es könnte doch sein, dass er aus Versehen in die Grube fiel, als er die Jauche abpumpen wollte.«
Roffe unterdrückte ein Gähnen und schaute auf die Uhr. Es war beinahe zehn. Er wollte zum Ende kommen. Zumindest wollte er um elf zu Hause sein, so wie üblich.
»Das wäre natürlich die bequemste Lösung«, sagte er. »Meine Lieblingstheorie sozusagen. Aber alles deutet auf einen Mord hin. Beim Leeren der Grube sind wir auf ungefähr zwanzig Kilo Steine gestoßen, ziemlich große Brocken. Die weitere Untersuchung hat ergeben, dass sie in den Kleidern gesteckt haben, um den Körper am Boden zu halten. Als Nisse Hallman dann mit einer Stange rumgestochert hat, ist der Stoff zerrissen, und die Leiche trieb nach oben. Die Steine blieben auf dem Grund liegen.«
PM tigerte weiter hin und her, während er sich mit den Händen fortwährend durch die Haare fuhr.
»Und jetzt glauben alle, dass es Axel Hemberg war, den Nisse aus der Jauche gefischt hat«, sagte er.
»Ganz und gar nicht«, erwiderte Roffe. »Wir beschäftigen uns mit den verschiedensten Theorien, das habe ich doch schon gesagt.«
PM blieb vor Roffe stehen. »Mit welchen?«
»Wie ich dir neulich schon erzählt habe, gibt es jede Menge Hinweise aus der Bevölkerung. Die meisten bringen uns natürlich nicht weiter, aber es bleiben doch einige übrig, denen sich nachzugehen lohnt. Diesen Polen, der schwarz auf dem Hof gearbeitet hat und sicher nicht von allein in die Grube fiel, haben wir auch noch nicht abgeschrieben. Nisse Hallman glaubt fest daran, dass Sandström ihn in die Grube gestoßen hat, um ihn nicht bezahlen zu müssen.«
PM lachte hämisch auf. »Ich hätte zu gern Sandströms Visage gesehen, als ihr ihn in die Mangel genommen habt. Denn das habt ihr doch wohl, oder?«
»Bis jetzt sind wir nicht an ihn herangekommen. Er ist mit seiner Frau gerade auf Rhodos. Wagnhärad wird ihn verhören, sobald er nach Hause kommt.«
»Auf Rhodos? Seid ihr euch sicher, dass er wirklich zurückkommt?«
»Ja, das sind wir. Sonst werden wir ihn holen.«
»Was ist mit den anderen Spuren?«
»Eine Frau aus Christiansholm behauptet, dass ihr verschwundener Liebhaber von seiner Frau und deren Lover ermordet wurde. Klingt zwar wie aus einer Seifenoper, aber der Mann ist wirklich seit einem halben Jahr spurlos verschwunden, und seine Frau hat auch wirklich einen Liebhaber. Dann liegt eine Anzeige aus der städtischen psychiatrischen Klinik vor. Vor fünf Monaten sind zwei psychisch gestörte Patienten entlaufen. Einer von ihnen wurde ein paar Wochen später in Malmö aufgegriffen. Er behauptete, er habe seinem Freund ›über die Grenze geholfen‹, was auch immer das heißen mag. Zuvor hatten sie hier ein Auto gestohlen. Wir tun momentan alles, um die Leiche möglichst rasch zu identifizieren, aber das geht nur anhand der Zähne und erfordert eine gewisse Zeit.«
»Weitere Spuren?«
»Schon, aber die kann ich jetzt nicht alle vor dir ausbreiten. Ich bin ziemlich müde und werde mich wohl gleich auf den Weg machen.«
PM blieb stehen und sah sich um, als suche er nach einem Anlass, der den Freund am Aufbrechen hindern könnte. Er schnippte mit den Fingern.
»Jetzt hab ich doch völlig die Eistorte vergessen!«, rief er aus. »Ich habe eine Eistorte mit Schokoladensauce und frischen Birnen gekauft. Möchtest du etwas davon haben?«
Roffe schüttelte den Kopf und gab sich keine Mühe, ein erneutes Gähnen zu unterdrücken.
»Nein danke. Ich hab nicht so viel für Eis übrig. Außerdem muss ich morgen früh aufstehen. Wir können ein anderes Mal ...«
Plötzlich fiel ihm etwas ein.
»Eines hätte ich fast vergessen. Ich muss dich bitten, morgen aufs Präsidium zu kommen, damit wir deine Fingerabdrücke nehmen können.«
PM starrte ihn ungläubig an. »Meinst du das im Ernst?«
Roffe reagierte gereizt. »Natürlich meine ich das im Ernst. Du glaubst doch wohl nicht, dass mir nach Scherzen zumute ist. Eine reine Routinemaßnahme. Wir brauchen von allen, die möglicherweise mit Marianne Wester in Verbindung standen, die Fingerabdrücke.«
»Ich weiß nicht, ob es mir möglich ist, morgen in die Stadt zu kommen«, sagte PM in leicht beleidigtem Ton. »Wir haben nur ein Auto, wie du weißt. Wenn Katharina morgen nach Hause kommt, muss ich zuerst mit ihr reden, und was dann passieren wird, daran wage ich nicht zu denken.«
Roffe stand auf.
»Also gut, es muss ja nicht gleich morgen sein, aber komm, so schnell du kannst.«
Er legte eine Hand beruhigend auf den Arm des Freundes und versuchte einen optimistischen Ton anzuschlagen: »Die Welt wird schon nicht untergehen. Vielleicht sieht in ein paar Tagen alles schon viel hoffnungsvoller aus.«
Sie traten vor das Haus und erblickten einen überwältigenden Sternenhimmel. Der Duft der Blumen war geradezu betäubend. Schweigend blieben sie stehen und schauten in das funkelnde Dunkel. Roffe meinte in der Nähe eine einsame Grille zu hören. Nach einer Weile sagte er leise: »Ihr habt es wirklich wunderschön hier draußen. Es ist lange her, dass ich solch einen Sternenhimmel gesehen habe.«
PM begleitete ihn zum Auto. Doch als Roffe einsteigen wollte, hielt er ihn zurück.
»Darf ich dir noch zwei Fragen stellen?«
»In Ordnung.«
»Wie denkt ihr über Nygren? Ist er nicht auch verdächtig?«
Roffe schwieg eine Weile, als müsse er über die Antwort nachdenken. Dann sagte er: »Nygren spielt in unseren Überlegungen eigentlich keine Rolle.«
»Und Marco Fermi?«
»Ihn haben wir uns genau angesehen, aber er ist erst seit knapp vier Monaten hier, und die Leiche hat aller Wahrscheinlichkeit nach länger in der Grube gelegen. Nein, Marco Fermi können wir wohl ebenfalls außer Acht lassen.«
PM nickte und schlug die Autotür zu. Er hob den Arm zögerlich zum Abschied, bevor er beide Hände in den Hosentaschen vergrub und langsam zum Haus zurückging. Um die Sterne kümmerte er sich nicht.