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Donnerstag, 20. April

Katharina legte die Zeitung beiseite und sah ihren Mann nachdenklich an, während sie ihren heißen Kaffee schlürfte. Er war tief in seine Morgenlektüre versunken, eine Gebrauchsanweisung für einen Kaminofen, der mittelfristig dazu beitragen sollte, ihre Heizkosten zu senken. Er kaute abwesend an seinem Butterbrot mit gekochtem Ei und Kaviarcreme und war sich der Aufmerksamkeit seiner Frau nicht bewusst.

»Weißt du, was ich glaube?«, fragte sie.

Er war weiter in seine Broschüre vertieft. »Mmm?«

»Ich glaube, sie haben seinen Geliebten aus der Grube gefischt.«

PM schaute auf. »Wessen Geliebten?«

»Na, den des so genannten Bauern.«

»Wovon redest du?«

Katharina reichte ihm die Zeitung und deutete auf eine Notiz. »Ich rede von dem schrecklichen Gewaltverbrechen, das unsere beschauliche Provinz erschüttert.«

Er überflog die Zeilen. »Was hast du von einem Geliebten gesagt?«

»Ich habe den Gedanken geäußert, dass es der Geliebte des angeblichen Bauern gewesen sein könnte, den sie aus der Jauchegrube gefischt haben.«

»Geht jetzt deine Fantasie mit dir durch?«

»Was ist dagegen einzuwenden, wir sind doch unter uns.«

»Wieso nimmst du an, dass er schwul ist?«

»Ach, ich habe keine Ahnung von seinen Neigungen. War doch nur so eine Idee. Gibt’s noch Kaffee?«

Er schenkte ihnen beiden nach. »Warum sagst du ›angeblicher‹ Bauer?«

»Auch nur so eine Idee.«

Er legte die Broschüre weg, lehnte sich zurück und faltete die Hände hinter dem Nacken.

»Du machst mich neugierig«, sagte er. »Erzähl!«

Katharina rührte in ihrer Tasse und sah aus dem Fenster. Draußen hatte es begonnen zu schütten. Es sah aus wie ein grauer Vorhang.

»Oh je, ich hoffe, es hört auf, bis ich fahre«, sagte sie. »Wir haben zwar Regen gebraucht, aber jetzt reicht es langsam.« Sie gähnte und zog ihren Bademantel enger um sich. »Ich habe doch schon früher gesagt, dass er als Bauer keine überzeugende Figur abgibt.«

»Hast du irgendwas Bestimmtes gegen ihn?«

»Nein, eigentlich nicht ...« Sie dachte einen Augenblick nach. »Ich würde ihm vielleicht nicht gerade meine Topfpflanzen anvertrauen, aber einen Gebrauchtwagen würde ich ihm glatt abkaufen. Es ist schwer zu erklären, doch immer wenn ich ihn sehe, habe ich das Gefühl, dass er sich verkleidet hat. Dass er nur vorgibt, ein Bauer zu sein. Manche Menschen machen den Eindruck, als spielten sie eine Rolle. Findest du nicht?«

»Doch, ich weiß, was du meinst. Aber ich habe nie gefunden, dass Bauern alle vom gleichen Schlag sind. Lässt man die letzten Jahre Revue passieren, dann haben wir auf dem Hof doch die unterschiedlichsten Typen erlebt. Und da passt Nygren eigentlich ganz gut rein.«

»So meine ich das auch nicht. Rein äußerlich mag er ja als waschechter Schweinezüchter durchgehen. Er hat nie etwas gesagt oder getan, was unser Misstrauen hätte erregen können. Aber immer wenn ich ihn in dem schmutzigen Overall und mit seiner Schirmmütze sehe, habe ich so merkwürdige Assoziationen.«

»Wirklich?«

»Ja, ich finde, ein Smoking oder ein Nadelstreifenanzug würde ihm viel besser stehen. Er sieht so verloren aus zwischen den Schweineställen und Traktoren, und der Jauchegeruch passt einfach nicht zu ihm. Findest du nicht, dass er in einem anderen Milieu viel überzeugender wäre, zum Beispiel in einem Nachtclub oder in einem Wirtschaftsunternehmen?«

PM lachte. »Ein verzauberter Schweinezüchter.«

Auch Katharina schmunzelte. »Ja, warum nicht.«

»Ich frage mich, ob du den Kerl mit so viel Skepsis betrachtest, weil er nicht verheiratet ist.«

»Unsinn, die Welt ist voller Junggesellen, die kein bisschen rätselhaft sind. Es ist etwas anderes ... Außerdem hat man eine Leiche in seiner Jauchegrube gefunden. Gib zu, dass ihn das ein wenig interessant macht.«

»Einverstanden, aber wenn du findest, dass ihn das verdächtig macht, darf ich dich daran erinnern, dass er selbst es war, der die Leiche gefunden und die Polizei verständigt hat.«

»Ja, und wenn er den Mann eigenhändig in die Grube geworfen hat, konnte er sich ausrechnen, dass es mindestens ein halbes Jahr dauern würde, bis die Leiche an die Oberfläche käme. Für eine Identifizierung des Toten ist es jetzt bestimmt zu spät, also wird sich auch nichts mehr beweisen lassen. Eine Jauchegrube ist doch der perfekte Ort, um jemanden verschwinden zu lassen. Kein Leichengeruch der Welt kommt gegen diesen Gestank an.«

PM blickte seine Frau herausfordernd an. »Ihr Scharfsinn ist verblüffend, Miss Marple.«

Katharina schlug einen sanfteren Ton an. »Solche Spekulationen am Frühstückstisch regen das Gehirn an.«

»Und die Zähne?«, fragte er.

»Welche Zähne?«

»Man kann eine Leiche anhand der Zähne identifizieren. Das scheint dein diabolischer Schweinezüchter nicht bedacht zu haben.«

Katharina schüttelte sachte den Kopf. »Tut mir Leid, aber eine Identifikation anhand der Zähne ist nur möglich, wenn man den Zahnarzt des Toten findet. Und wie sollte das möglich sein, da man nicht einmal weiß, ob der Mann aus Schweden kam.«

PM schien eine Weile seinen Gedanken nachzuhängen. Katharina stand auf und deckte den Tisch ab. Er sah ihr dabei zu, und nach einer Weile sagte er: »Weißt du eigentlich, was aus Sandbergs geworden ist?«

»Wer ist das?«

»Die Vorbesitzer.«

»Die hießen Sandström. Nein, ich habe keine Ahnung, wo sie hingezogen sind. Ich hatte ja nur sporadischen Kontakt mit ihnen. Du meinst, bei der Leiche könnte es sich um Sandström handeln?«

»Das ist ebenso gut möglich wie vieles andere. Es ist doch erst ein gutes halbes Jahr her, seit sie weggezogen sind.«

»Märta Sandström hätte doch sicher Alarm geschlagen, wenn ihr Mann verschwunden wäre.«

»Nicht, wenn sie ihn selbst aus dem Weg geräumt hätte.«

»Ich frage mich, wer von uns hier ein Opfer seiner blühenden Fantasie ist.«

»Du hast schließlich das Recht auf verwegene Theorien nicht für dich allein gepachtet.«

Katharina setzte sich wieder hin, stützte das Kinn auf die Hände und sah ihren Mann zustimmend an.

»Die Idee ist gar nicht mal so schlecht. Wäre ich an Märta Sandströms Stelle, könnte ich der Versuchung kaum widerstehen. Die Frage ist, ob sie ihn erwürgte, bevor sie ihn in die Grube stieß. In diesem Fall wünsche ich ihr, dass sie mit dem Geld, das sie für den Hof bekommen hat, nach Australien durchgebrannt ist, um sich eine Schaffarm und einen attraktiven jungen Liebhaber zuzulegen.«

PM tat schockiert. »So viel wird der Hof kaum abgeworfen haben. Für eine Schaffarm könnte es vielleicht reichen, aber sie müsste schon ein Vermögen hinblättern, damit sich ein junger, attraktiver Mann mit ihr einlässt.«

»Du scheinst sie ja nicht besonders anziehend zu finden.«

»Ich bekam jedes Mal eine Gänsehaut, wenn sie mich angesprochen hat.«

»Also, ich fand den Alten unausstehlich. Der hat uns doch ständig das Gefühl gegeben, wir dürften nur dank seiner großen Gnade hier wohnen. Er glaubte bestimmt, dass das Haus immer noch zum Hof gehört. Außerdem hat er mich ständig mit seinen Blicken ausgezogen.«

»Ist das wahr? Dann hoffe ich wirklich, dass er in der Jauchegrube gelandet ist.«

Katharina schien des Themas plötzlich überdrüssig zu sein, zwinkerte demonstrativ und seufzte unüberhörbar. PM strich mit seinem Zeigefinger über ihren Nasenrücken. Eine Geste, die andeutete, dass er um ihre Gemütslage besorgt war.

»Wie geht’s dir denn?«, fragte er sanft.

Als er keine Antwort erhielt, fuhr er fort: »Die Sache scheint dich doch sehr mitgenommen zu haben. War ich zu schroff, als ich darüber geredet habe?«

Sie zuckte mit den Schultern. »Ach, nein, ich war doch nicht anders. Mir ist die ganze Angelegenheit einfach unheimlich. Dir geht es doch sicher genauso.«

Er dachte nach. »Eigentlich geht mich die Sache ebenso wenig an, als wäre sie in Lappland passiert. Was mich eher beunruhigt, ist die Tatsache, dass wir im Moment zu einer Art Wallfahrtsort werden. Die Leute kommen von überall her, um sich den Tatort mit eigenen Augen anzusehen.«

»Heute Nacht habe ich davon geträumt.«

»Von den Schaulustigen?«

»Nein. Ich träumte ... Ich kann mich nicht mehr genau erinnern, aber es ging um den Fund der Leiche. Irgendwie hatten wir damit zu tun. Das hat einen unangenehmen Nachgeschmack hinterlassen.«

Das Geräusch eines Automotors drang durch das eintönige Plätschern des Regens. Als sie eine Autotür schlagen hörten, zuckte sie zusammen und starrte aus dem Fenster. PM stand auf.

»Kein Grund zur Beunruhigung«, sagte er. »Ist nur Kalle Svanberg, der mir bei der Installation des Kaminofens helfen will. Lass den Abwasch einfach stehen, den mache ich später.«

Als er an ihr vorbeiging, um die Haustür zu öffnen, beugte er sich zu ihr hinunter, hob ihren schweren Zopf an und küsste sie in den Nacken. Sie beantwortete den Kuss mit einer flüchtigen, zärtlichen Geste, schien jedoch ganz in Gedanken versunken.

Es war noch eine knappe Stunde Zeit, bis sie zu ihrem Arbeitsplatz aufbrechen musste, doch obwohl sie noch jede Menge zu tun hatte, blieb sie unschlüssig sitzen und verfolgte die unberechenbare Spur der Tropfen, die über die Scheibe liefen. Aus der Diele drangen Kalles breites Schonisch und Patriks polterndes Lachen. Nach einer Weile kamen sie in die Küche. Patrik kramte in einer der Schubladen, während Katharina und Kalle sich über den Frühling unterhielten, der sich bisher von seiner besten Seite gezeigt hatte, auch wenn zurzeit wenig von ihm zu spüren war. Katharina war froh, dass er kein Wort über die Leiche in der Jauchegrube verlor. Kalle hatte einen ausgeprägten Sinn für die Erfordernisse des Alltags. Warum sollte er sich also noch mit Geschehnissen von gestern beschäftigen? Seit dem gestrigen Polizeibesuch und dem heutigen Vormittag waren in seiner Welt sicher eine Menge wichtiger Dinge geschehen, und Katharina widerstand der Versuchung, das Thema von sich aus zur Sprache zu bringen. Die beiden Männer verschwanden fröhlich plaudernd in Richtung Atelier, und Katharina wunderte sich, dass sie weiterhin so bedrückt war. Abgesehen von dem schrecklichen Vorfall auf dem Nachbarhof war doch alles wie immer. Er sollte sie nicht länger belasten.

Eigentlich kannte sie den Grund ihrer Unruhe sehr genau, doch sie scheute sich, Patrik damit zu behelligen. Denn sie hatte nichts Konkretes in der Hand, nur düstere Vorahnungen eines bevorstehenden Unglücks. Sie kam sich albern und überspannt vor. Vermutlich hatte es mit ihrem Traum zu tun, aber nicht nur damit. Die Vorahnungen hatten sie schon gestern Abend beschlichen. Etwas Bedrohliches schien sich anzubahnen.

Aber das konnte sie Patrik nicht sagen. Der hatte von ihren bösen Ahnungen sicher genug. Nicht dass sie ständig welche hätte, aber das Thema war heikel. Schon einmal hatte sie so ein komisches Gefühl gehabt, und Patrik hatte davon nichts wissen wollen, was an und für sich verständlich gewesen war. Später hatte sie sich davor gehütet, »Ich hab’s doch gewusst!« auszurufen, obwohl ihr die Worte auf der Zunge gelegen hatten. Aber damals hatte es sich um etwas gehandelt, das sie beide im höchsten Grad persönlich betraf. Jetzt gab es für ihre Unruhe keinen vernünftigen Grund. Was war geschehen? Eine Leiche war auf dem Nachbargrundstück gefunden worden. Und weiter? Patrik hatte Recht, die Sache ging sie nichts an. Nicht mehr zumindest als jeder andere Mord, und Morde waren auf dieser Welt an der Tagesordnung. Natürlich war dieser ganz in ihrer Nähe geschehen. Sie war an der Jauchegrube doch ständig vorbeigegangen, manchmal ihren Gestank verfluchend, ohne zu ahnen, dass dort seit Monaten eine Leiche vor sich hin moderte.

Warum musste dies nur ausgerechnet zu einem Zeitpunkt geschehen, an dem sie eine ihrer schwersten Ehekrisen der vergangenen achtzehn Jahre endlich überwunden zu haben glaubten? Sie blickten wieder hoffnungsvoller in die Zukunft. Patrik, dessen Schwermut nicht völlig verschwunden, aber doch bedeutend abgeschwächt war, hatte seine Arbeitsfreude wiedergefunden. Die lange vermisste Leichtigkeit des Daseins schien zurückzukehren ...

Sie streckte sich gähnend und schlug entschlossen mit der Hand auf die Tischplatte. Warum den Teufel an die Wand malen? Es war mitten am Vormittag, gleich würde sie zur Arbeit fahren. Noch gestern war sie voller Optimismus gewesen. Warum zog sie sich nicht endlich an, statt unentwegt den ewigen Regen anzustarren? Ihr bisheriges Leben mit PM unter akzeptablen Umständen weiterzuführen, war alles, was sie wollte. Und sie konnten jetzt keine störenden Einflüsse von außen gebrauchen.

Sein Lachen drang aus dem Atelier durch mehrere Wände zu ihr. Sie liebte dieses ungehemmte Lachen, hatte es immer getan ...

Plötzlich musste sie lächeln. Nächsten Sommer konnten sie ein großes Jubiläum feiern. Vor genau zwanzig Jahren hatten sie sich bei einer Mittsommernachtsfeier kennen gelernt. Obwohl es, was die Details betraf, unterschiedliche Meinungen gab. Sie hatten sich nie darauf einigen können, wann sie sich zum ersten Mal gesehen hatten. Beide erklärten mit Nachdruck, der andere würde sich irren. In Anbetracht der Tatsache, dass sie sich inmitten einer riesigen Menschenmenge befunden hatten, war diese Uneinigkeit vielleicht auch nicht so verwunderlich.

Zumindest wusste sie mit Sicherheit, dass sie sich 1975 während des legendären Mittsommerfests auf der Insel Djurö erstmals begegnet waren. Ein Fest unter freiem Himmel, das am Vormittag begonnen und am nächsten Vormittag geendet hatte. Es war eine dieser Massenveranstaltungen gewesen, bei denen man immer nur einen Bruchteil der Gäste kennt. Speisen und Getränke waren von behandschuhten Kellnern serviert worden, die im Stil der Jahrhundertwende gekleidet waren. Es war ein verschwenderisches Fest mit einer Reihe prominenter Gäste gewesen. Vor Katharinas unerfahrenen und naiven Augen hatte sich die Elite des schwedischen Kulturlebens um die luxuriösen Tafeln versammelt.

Die Gästeschar teilte sich nach einiger Zeit zwangsläufig in kleinere Gruppen auf, doch Katharina hatte leider zu keiner von ihnen Anschluss gefunden. Nicht einmal ihre spendablen Gastgeber kannte sie persönlich, und die bekannten Gesichter waren rasch gezählt. Sie hatte Jan auf das Fest begleitet, der, gewissen Zweifeln zum Trotz, als ihr Zukünftiger galt. Die Zweifel bestanden auf beiden Seiten. Jedenfalls war er rasch in der Menge verschwunden. Um ihre Einsamkeit zu überspielen, hatte sie eine Zeit lang erfolglos versucht, sich einer angeheiterten Gruppe nach der anderen anzuschließen. Sie wollte bereits nach Hause fahren und verfluchte den treulosen Jan, der sie so schmählich im Stich gelassen hatte. Doch war sie zu dieser Zeit erst dreiundzwanzig Jahre alt und glaubte aufrichtig, sich in der aufregenden großen Welt zu bewegen, dort, wo das Kulturleben mit großem K stattfand. Den Tränen nahe, hielt sie tapfer durch, bis Patrik kam und sie rettete. Obwohl sie damals noch nicht wusste, dass er Patrik hieß, weil er vergessen hatte, sich vorzustellen. Jedenfalls erschien damals ein bärtiger, ziemlich angetrunkener Mann auf der Bildfläche und legte den Arm um ihre Schultern. Er zog sie auf eine der Bänke, die um die Tische standen, und gab ihr einen fürchterlich starken Schnaps zu trinken. Obwohl seine Artikulation zu wünschen übrig ließ, hielt er ihr einen kleinen amüsanten Vortrag über die Kunst, große Feste zu überstehen. Er hob die Wichtigkeit hervor, sich ordentlich einen hinter die Binde zu kippen, um den Ekel vor solchen Veranstaltungen zu überwinden und zu verhindern, dass man das ganze Affentheater durchschaut. Er quasselte in einer Tour, während er ihr noch mehr zu trinken gab, und sparte nicht mit zweideutigen Komplimenten. Dass er es auf sie abgesehen hatte, war offensichtlich, doch besaß er so viel Charme und Humor, dass sie ihre Einsamkeit vergaß und sich in seiner Gesellschaft wohl fühlte. Sie war von seinen Augen fasziniert und bemerkte zu ihrer Verwunderung, dass sein Bart ganz weich war, wenn sie mit ihm in Berührung kam. Schließlich fing auch sie zu erzählen an, und je mehr sie trank, desto nüchterner kam er ihr vor. Ihre Erinnerungen an den weiteren Verlauf des Festes waren allerdings ziemlich vage. Sie meinte sich entsinnen zu können, dass sie auf der taufeuchten Wiese zu tanzen versucht und viel gelacht hatten. Schwer zu sagen, wie alles geendet hätte, wäre nicht Jan plötzlich in ihr schwankendes Blickfeld getreten und hätte sie aufgefordert, sich ihm anzuschließen.

Ein gutes Jahr war darauf vergangen. Die Zweifel an ihrer Beziehung hatten sich in Gewissheit verwandelt, was dazu führte, dass ihre Wege sich trennten. Katharina wohnte zu dieser Zeit mit ihrer Freundin Sara zusammen. Gemeinsam studierten sie Literaturwissenschaft an der Universität in Stockholm, träumten von der großen Liebe und einer beruflichen Zukunft im literarischen Milieu. Und während sie auf die Erfüllung ihrer Wünsche warteten, schneiderten sie sich haufenweise neue Kleider und verpassten den Wänden ihrer Wohnung ständig neue Farben. Es war eine herrliche Zeit.

Sara hatte eine drei Jahre ältere Schwester namens Siri, die oft bei ihnen vorbeischaute, vor allem, um ihr kompliziertes Liebesleben zu erörtern. Sie hatte eine aufreibende Beziehung mit einem Künstler, den sie beharrlich in den düstersten Farben schilderte, als hoffnungslos egozentrisches und untreues Exemplar beschrieb. Dennoch konnte sie nicht von ihm lassen.

Mitte August, kurz vor Semesterbeginn, hatten Sara und Katharina kurz nacheinander Geburtstag und entschlossen sich, eine gemeinsame Party zu organisieren. Unter den ungefähr fünfzehn Gästen befanden sich auch Siri und ihr berüchtigter Künstler. Es handelte sich um Patrik. Katharina freute sich aufrichtig, ihre Sommerbekanntschaft wiederzusehen, sah sich jedoch mit einem fragenden Blick und einem höflich reservierten Lächeln konfrontiert. Es war ein peinlicher Moment und Katharina von so viel Oberflächlichkeit tief gekränkt. Aber es kam alles noch schlimmer. Während des relativ trockenen Abends - die literaturbeflissenen Freundinnen konnten ihre Gäste nur mit überschaubaren Mengen Rotwein bewirten - verliebte sie sich unsterblich in den unzuverlässigen Kerl. Sie verfluchte sich im Stillen, versuchte sich sogar einzureden, dass ihre Gefühle sie zum Narren hielten, doch wusste sie nur zu gut, was sie so anzog. Sie spürte, dass sich hinter den schweren Lidern ein erfahrener und abenteuerlustiger Mensch mit einem unstillbaren Lebenshunger verbarg. An seiner Egozentrik bestand indes kein Zweifel. Er besaß eine natürliche Neigung, bei größeren Gesellschaften im Mittelpunkt zu stehen, ohne deswegen weniger liebenswert zu erscheinen. An Kreativität und Vitalität konnte es niemand mit ihm aufnehmen.

Für unzuverlässig oder treulos hielt sie ihn nicht, die scheinbare Rücksichtslosigkeit schien seiner Naivität zu entspringen. Er wollte niemandem etwas Böses, überfuhr die Menschen nur manchmal mit seiner ungestümen Intensität. Im Grunde war er auch keine rätselhafte Persönlichkeit; sein Wesen lag offen zutage. Seine Gesichtszüge waren ausgeprägt maskulin und ein wenig hochmütig, was jedoch von seinem sinnlichen Mund und den sonderbar hellen Augen gemildert wurde. Wenn es etwas Rätselhaftes an ihm gab, dann waren es seine fast türkisfarbenen Augen, die von erstaunlicher Tiefe waren und jederzeit ihren Ausdruck verändern konnten. Sie wurde einfach nicht schlau aus ihnen. Sein Kopf war schön geformt, sein Haarwuchs üppig, und wie sich sein dichter Vollbart anfühlte, daran konnte sie sich noch ganz genau erinnern. Sie ertappte sich dabei, wie sie ihn mit den Augen verschlang, und hatte Siri gegenüber ein schlechtes Gewissen, als sie sich den Geschmack seiner vollen Lippen vorstellte. In gewisser Hinsicht war es ein quälender Abend gewesen.

Ein paar Tage später kam er ohne Siri wieder. Er bemühte sich gar nicht erst, irgendeinen Vorwand zu erfinden, sondern gab ihr unmissverständlich zu verstehen, dass er an ihr interessiert war. Zunächst gingen sie sittsam zusammen ins Kino und hielten Händchen. Danach, bei ihm zu Hause, wartete sie vergeblich darauf, dass er sie mit seinem üblichen Redeschwall überschüttete. Doch er schwieg so lange, bis sie ganz nervös wurde und glaubte, sie würde ihn langweilen. Als sie ihn schließlich fragte, was los sei, erklärte er unumwunden, dass seine Verliebtheit ihn habe verstummen lassen und er nicht wisse, was er sagen solle. Vor Freude und Erleichterung fiel sie ihm sogleich um den Hals, und es bestehen geteilte Meinungen, wer anschließend wen verführte. Jedenfalls verbrachten sie die nächsten beiden Tage in seinem Bett und nahmen dort sogar ihre Mahlzeiten zu sich.

Dies war der strahlende Beginn einer Beziehung gewesen, die seit neunzehn Jahren Bestand hatte, wenngleich sie nicht frei von Tiefschlägen und Enttäuschungen war. Denn in Patriks Vergangenheit hatte es eine Reihe von Frauen gegeben, die gelegentlich, vor allem in den ersten Jahren, wieder auf der Bildfläche erschienen, und auch sie musste die Erfahrung machen, dass er unzuverlässig und untreu sein konnte. Nein, er zeigte sich nicht gerade widerstandsfähig, wenn es um Frauen ging. Sie hatte getobt und ihn verflucht, bis sie glaubte, den Kelch der Eifersucht bis zur Neige geleert zu haben. Inzwischen behauptete Patrik immerhin, dass sein gewaltiger Lebenshunger vorwiegend von geistigen Dingen befriedigt wurde. In seine dunkelblonde Mähne und seinen Bart hatten sich graue Strähnen gemischt. Er sprach weniger, und sein einst so provozierender Blick hatte sich mehr nach innen gewandt. Wenn sie auch nicht so recht an seine Enthaltsamkeit glauben mochte, wusste sie doch, dass die Versuchungen seltener waren als früher, und sie war immer noch vernarrt in ihn.

Katharina warf einen Blick auf die Uhr, die über dem Kühlschrank hing, und sprang auf. Sie musste sich beeilen. Nach einer Katzenwäsche und hastigem Ankleiden eilte sie ins Atelier, wo die Installation des Kaminofens schon weit fortgeschritten war.

»Ich muss los«, sagte sie.

Patrik stand vom Boden auf und zeigte ihr seine Handflächen, die zu schmutzig für Zärtlichkeiten waren. Stattdessen schlang er die Arme um sie und küsste sie auf den Hals.

»Wir sind bald fertig. Willst du, dass ich was Bestimmtes tue, bis du wieder zu Hause bist?«

Sie machte sich lachend frei und fühlte sich plötzlich wie befreit.

»Ja, ich will, dass du endlich das verdammte Tor reparierst. Denk dir eine gute Ausrede aus, wenn das nachher immer noch nicht erledigt ist.«

Kalle Svanberg schüttelte sein schlohweißes Haupt.

»Ich denke, dir bleibt keine andere Wahl«, sagte er.

»Du kennst Katharina nicht«, entgegnete Patrik. »Sie liebt meine fantasievollen Ausreden und wäre nur enttäuscht, wenn ich einfach das Tor reparierte.«

Katharina ließ sie stehen und ging zum Auto.

Der leiseste Verdacht - Schweden-Krimi

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