Читать книгу Ich sehe, wie die Welt sich dreht - Helene Uri - Страница 5

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Ich werde zur Seiltänzerin und

mache bei einem Kotzkurs mit

Ich bin eigentlich sonst keine, die im Straßengraben herumflennt. Silje, meine Freundin, sagt, ich sei eine, die alles schafft. Aber das stimmt nicht. Jedenfalls hebe ich den Kopf und wische mir die Tränen ab. Aufzustehen bringe ich nicht über mich. Mein Körper ist schwer von den vielen Gedanken, die ich einfach nicht denken will, die ich im Moment allerdings nicht wegbefehlen kann. Da war dieser Tag im Oktober: Auf dem einen Sofa saßen Mama und Papa. Auf dem anderen saß ich. Ihr Blick ließ mich nicht los. Himmel. Warum muss ich die ganze Zeit daran denken? Ich will mich amüsieren, ich will nicht nachdenken.

Ich fluche nur selten. Ich habe beschlossen, die Flüche für die Gelegenheiten aufzusparen, bei denen ich sie wirklich brauche. Das hier ist so eine Gelegenheit. Ich sage es laut in die stille Nacht hinaus: Verdammte Mutter! Scheiß-Mama. Ich hasse dich, weil du mir das antust, weil du mein Leben kaputtmachst. Das Weinen steigt mir wieder den Hals hoch, aber ich presse es nach unten. In der Hand halte ich einen gelben Löwenzahn mit abgerissenem Stängel. Wird der schon schlaff? Ich will nicht daran denken. Ich will nicht! Ihre Augen schauen trotzdem in meine.

Plötzlich habe ich das ekelhafte Gefühl, dass mich in diesem Moment irgendwer ansieht. Ganz ruhig jetzt, Mia, sage ich mir. Reg dich ab, Weichei, hier ist kein Mensch. Ich trinke den letzten Schluck Bier, dann lasse ich die Flasche auf der trockenen, staubigen Landstraße um sich selber wirbeln. Die, auf die der Flaschenhals zeigt, soll auf einem Bein stehen und ganz laut kikeriki sagen, fordere ich gebieterisch. Ich fahre zusammen, als ich meine wütende und zugleich muntere Stimme höre. Aber zum Glück zeigt die Flasche ja nicht auf mich. Sondern auf den Baum da hinten. Ich kichere und drehe sie noch einmal. Ich amüsiere mich ja so sehr. Die, auf die die Flasche jetzt zeigt ... diesmal zeigt die Flasche genau auf mich. Na gut. Ich stehe auf und gehe den Weg entlang auf die Brücke zum Festland zu. Die Brücke ragt im Halbdunkel immer höher auf, je näher ich komme. Ich halte mich an einem Stahlseil fest und beuge mich über das Wasser. Ich beuge mich so weit vor, dass ich fast das Gleichgewicht verliere, aber nur fast. Ich weiß, was ich tue, und das Wasser ist eine matte schwarze Haut.

Als ich klein war, waren Mama, Papa und ich einmal im Zirkus. Von den Bänken blätterte die Farbe ab. Der Zirkusdirektor hatte ein fleckiges Hemd. Ich kann mich an die Elefanten erinnern – riesig, grau-schmuddelig, mit kleinen roten Augen, ganz anders als die hellblauen molligen Elefanten in meinen Büchern zu Hause. Aber die Seiltänzerin war toll. In einem federleichten weißen Tüllrock balancierte sie hoch oben unter der Zeltkuppel. Ich hielt Mamas Hand fest und ließ die Seiltänzerin nicht aus den Augen, ich wagte fast nicht zu atmen, es war so schön und so gefährlich.

Ehe ich eigentlich weiß, warum, bin ich auch schon auf das Brückengeländer geklettert. Auf der einen Seite gibt es Asphalt und ab und zu ein Auto, auf der anderen Seite gibt es Wasser. Tief unten glitzert es matt. Lockend und beängstigend zugleich. Ich balanciere mit zur Seite gestreckten Armen, gehe langsam, setze vorsichtig einen Fuß vor den anderen. Ich bin die Seiltänzerin. Ich trage ein Wippröckchen und sehe aus wie eine Feenkönigin. Ich setze die Füße in den schmalen weißen Seidenschuhen vor mich hin und tanze über das dünne Seil. Das Publikum starrt atemlos zu mir herauf, und da unten, geborgen zwischen Mama und Papa, sitzt ein blondes Mädchen mit roten Schleifen in den Zöpfchen. Ich gehe weiter und weiter, immer weiter hinaus auf die Brücke. Und es gefällt mir immer besser, ich denke nur an den nächsten Schritt. Ich bin eine Balancekünstlerin. In meinem Kopf ist für nichts anderes Platz. Einen Fuß vorsichtig vor den anderen gestellt, die Arme seitwärts ausgestreckt, den Blick nach vorn gerichtet. Vielleicht werde ich schweben und der weiße durchsichtige Tüllrock wird mich wie ein Fallschirm umgeben. Vielleicht werde ich durch die Luft fliegen. Das kann nicht gefährlich sein. Ich amüsiere mich doch nur, oder was? Und die Augen sind so graublau und die Handgelenke sind so dünn geworden. Verdammte Mama!

Ein Auto jagt mit kreischenden Reifen vorbei und ich zucke zusammen. Ich sehe meine Füße in den Turnschuhen, ich schaue auf das Wasser hinunter und mir fällt ein, dass ich betrunken bin. Dass ich in Dänemark bin. Meine Hand umklammert einen Löwenzahn. Mein einer Fuß ragt zur Hälfte über das Geländer hinaus. Hab ich einen falschen Tritt gemacht? Werde ich fallen?

Ich spüre ein Rucken in der Hand, dann falle ich. Für eine Zehntelsekunde schwebe ich und der Tüllrock umgibt mich wie ein Fallschirm, aber dann schrammt mein eines Knie über den Asphalt. Hier hat es noch nie einen Tüllrock gegeben, und auch keine Seidenschuhe. Ich liege wie ein Stoffbündel auf dem Boden, Arme und Beine nach allen Richtungen gestreckt. Ich sehe, dass mein eines Knie blutet, aber ich spüre es nicht. Irgendwer hält mich an der Hand. Loslassen, sage ich wütend und reiße meine Hand zurück. Ich versuche aufzustehen, aber mein Knie tut weh. Dann wird mir plötzlich schlecht, unerträglich schlecht. Das viele Bier, das ich getrunken habe, die Eier zum Frühstück, alles kommt durch meinen Hals hoch und ergießt sich wie eine gewaltige Fontäne in meinen Mund. Ich erbreche mich und kotze, bis ich total ausgestülpt bin und meine Haare als schweißnasse Strähnen in mein Gesicht hängen. Hier, sagt jemand und reicht mir eine Papierserviette. Ich streiche mir die Haare aus dem Gesicht, öffne die Augen, sie sind verklebt von Tränen und verschmierter Wimperntusche. Ich wische mir den Mund ab und schaue zu dem Wesen neben mir hoch. Es ist ein Junge. Hellbraune Haare, er sieht absolut okay aus. Ich habe einen unbeschreiblich widerlichen Geschmack im Mund und versuche, das Papiertaschentuch hineinzuschieben und mich von innen abzuwischen, aber das Papier löst sich zu weißen Flocken auf.

»Du wohnst in dem blauen Haus ganz unten am Wasser«, sagt der Junge.

»Mhm«, antworte ich und betaste vorsichtig mein Gesicht. Alles sitzt fest, die Nase ist da, die Wangen auch, alles fühlt sich fast so an wie sonst. Aber ich habe vom Kotzen Schleim in den Mundwinkeln, mein Pullover ist verschmiert, an meiner Hose sind Blutflecken und meine Finger sind schwarz von der Wimperntusche, die sich offenbar in meinem ganzen Gesicht verteilt hat. Ich bin bestimmt ein toller Anblick! Ich beuge mich zum Brückengeländer vor und lasse die Reste des Papiertaschentuches durch die Gitterstäbe fallen. Sie schweben wie Seiltänzerinnen durch die Luft, ehe sie leicht wie Schneeflocken auf dem schwarzen Wasserspiegel landen.

»Wir haben das gelbe Haus ein Stück weiter oben gemietet«, erzählt der Junge.

»Ach«, sage ich müde, mit der Nase voll Rotz, ich wünschte, ich könnte sie irgendwo putzen. Ich kann die Taschentuchreste unten im Wasser nicht mehr sehen, sicher sind sie untergegangen.

»Soll ich dir auf die Beine helfen?«, fragt er und fängt an, mich an der einen Schulter und am Oberarm zu ziehen. Plötzlich stehen wir uns von Angesicht zu Angesicht gegenüber. Er hat Sommersprossen auf dem Nasenrücken und ich merke, dass ich diesen Tag restlos satt habe. Ich schließe die Augen. Ich kann einfach nicht mehr. Etwas Feuchtes bedeckt meinen Mund. Einen Moment lang glaube ich, dass meine Nase läuft, aber dann geht mir auf, dass der Junge mich küsst. Seine Zunge schiebt sich zwischen meine Lippen und rotiert dort drinnen, zwischen Kotzeresten, Papierfasern und stinkendem Atem. Automatisch fange auch ich an, die Zunge zu bewegen, aber die fühlt sich an wie eine verschimmelte Schaumgummimatratze, deshalb höre ich wieder auf. Er legt die Arme fester um mich und drückt mich an sich – und gerade das ist schön. Es ist warm, und ich lehne mich mit meinem ganzen Gewicht an ihn, übergebe ihm sozusagen die Verantwortung.

Dann hupt ein Auto. Laut und scharf. Eine Stimme ruft: »Mia!« Es ist Papa, natürlich. Der Junge hat mich losgelassen. Er steht mit hängenden Armen da. Pass darauf auf, sage ich und gebe ihm den Löwenzahn, den ich die ganze Zeit in der Hand gehalten habe. Der gehört dir, sage ich und frage mich, was um alles in der Welt ich damit sagen will. Ohne mich umzudrehen, gehe ich dann so aufrecht, wie ich kann, und mit so viel Würde, wie ich überhaupt nur besitze, auf das Auto zu und steige ein. Auf dem kurzen Weg zurück zum Sommerhaus ist alles still im Wagen. Papa sagt nichts, ich sage nichts. Mein zerschrammtes Knie brennt. Meine Finger sind wund, weil ich Löwenzahn und Gras in den Kies gematscht habe. Mein Mund fühlt sich fremd an, meine Lippen sind geschwollen. Zu Hause werde ich direkt unter die Dusche gehen.

Ich sehe, wie die Welt sich dreht

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