Читать книгу Ich sehe, wie die Welt sich dreht - Helene Uri - Страница 7

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Ich belle und

tanze Tango

Ich hatte ihn viel früher gesehen als er mich. Ich saß am Strand und schaute hinaus aufs Meer, es war blau und vermutlich schön, aber das half mir ja nichts. Ich saß im Sand und rieb einen runden, weißen Stein an meinem T-Shirt und konzentrierte mich darauf, an den Stein zu denken und sonst gar nichts. Ich war auch heute wütend auf sie, aber es war doch eine mildere Wut. Er ging mit Shorts und federnden Schritten genau an mir vorbei. Er wippte bei jedem Schritt auf und ab und schien im ganzen Leben nicht eine einzige Sorge zu haben. Als ich ihn entdeckte, hätte ich mich am liebsten sofort auf den Bauch fallen lassen. Ich konnte jetzt nicht mit ihm reden, nein, nicht auch noch das! Herrgott! Er hatte mich in einem Zustand gesehen, in dem ich mich nicht einmal meiner besten Freundin zeigen würde. Nein, der vielleicht zuallerletzt. Silje kann reichlich erbarmungslos sein. Und dann dieser schreckliche Kuss! Mein Mund muss doch nach Schimmelpilz geschmeckt haben. Bei dem Gedanken wurde ich gleich rot. Glücklicherweise ging er vorbei, ohne mich zu sehen. Oder vielleicht tat er nur so, als ob er mich nicht gesehen hätte? Herrgott, war der Kuss so schlimm?

Sowie er aus meinem Blickfeld verschwunden war und ich mich wieder in das Polieren von weißen runden Steinen vertieft hatte, tauchte er plötzlich genau vor mir auf. Er lächelte selbstsicher und ehe ich mich aufraffen konnte, irgendwas zu sagen, lag seine Wange an meiner. Ich konnte gerade noch registrieren, dass seine warm und weich war. Dann sprang ich auf und bellte ihn an. Kläffte wie ein Köter, bellte, er sollte sofort damit aufhören. Wollte der Typ mich denn verarschen, oder was? Oder war er so einer, der sich Küsse und Umarmungen holt, wenn ihm das gerade passt? Er sah ja eigentlich nicht aus wie ein Casanova, auch wenn er sich wie einer aufführte. Aber jetzt fing er an zu stammeln und zu stottern, dass er auch immer ins Fettnäpfchen treten müsste. Seine Stimme war viel zu laut und er sah in alle möglichen Richtungen, nur nicht in meine. Er kam mir ziemlich verrückt vor und redete unzusammenhängend. Normalerweise wäre ich jetzt geschmolzen, hätte ihm sofort verziehen, hätte gelächelt und alles mit einem Jux abgetan. Ich habe immer schon Leute gemocht, die Schwäche zeigen, ob das nun bewusst passiert oder ihnen nur so rausrutscht. Vielleicht mag ich vor allem Letzteres. Aber im Moment ist nichts so wie sonst und ich war nur sauer. Die Wut, die die ganze Zeit gleich unter meiner Haut auf der Lauer lag, brach aus mir heraus, durch jede einzelne Pore, durch meinen Mund, und sammelte sich zu dem Satz, mit dem ich ihn anbrüllte: »Himmel, was soll der Scheiß?« Und als er dann rumplapperte, er habe mir doch das Leben gerettet, war ich noch viel saurer. Aber ehe ich noch weiterkläffen konnte, murmelte er etwas über einen Löwenzahn. Den Löwenzahn! Den hatte ich vergessen. Jetzt sah ich ihn vor mir, zerrupft, mit schlaffem Stängel, und gleich darauf sah ich auch ihre Handgelenke vor mir. Der Junge mit den braunen Haaren versuchte zu lächeln, aber das gelang ihm überhaupt nicht, und dann drehte er sich um und wollte gehen. Aber inzwischen hatte ich mich ein wenig gefasst und die Wut verkroch sich beschämt irgendwo in mir. Ich packte seinen Arm und gleich darauf hatte ich ihn ungeschickt umarmt. Und er ging nicht, er blieb stehen. Er nickte und sagte etwas wie, alles klar. Dann war es still. Wir schauten beide aufs Meer hinaus. Am Ende frage ich:

»Und was hast du nun damit gemacht?«

»Womit?«, fragt der Junge.

»Dem Löwenzahn«, erkläre ich.

»Den hab ich in Wasser gestellt.«

»Gut«, sage ich und kriege sofort Lust zu weinen. Er hat ihn in Wasser gestellt! Mitten in der Nacht. Meinen armen Löwenzahn. Wie lieb von ihm. Ich bin gerührt, überwältigt von Zuneigung zu diesem fremden Jungen. Ich möchte ihn noch einmal umarmen. Und diesmal richtig. Aber das tu ich natürlich nicht. Danke, sage ich, und ich höre, dass meine Stimme fast bricht. Im einen Moment wütend, im anderen gerührt. Erst fauchen, dann kichern. Herrgott! Er sieht mich an, forschend, scheint verstehen zu wollen, was ich eigentlich mache, und ich denke, der muss mich doch für total daneben halten. Aber das tut er sicher ohnehin schon, schließlich hat er mich mitten in der Nacht entdeckt, als ich über das Brückengeländer balanciert bin.

Wir wissen beide nicht, was wir sagen sollen. Ich merke, dass ich den weißen Stein immer wieder auf meiner Handfläche rotieren lasse, und deshalb werfe ich ihn so weit weg, wie ich nur kann. Wir schauen ihm beide hinterher, danach blicken wir wieder aufs Meer hinaus. Das ist noch immer blau, und diese Situation ist inzwischen mehr als nur normal peinlich.

»Wie heißt ...«, beginne ich, nachdem wir beide lange geschwiegen haben, aber mein Versuch wird unterbrochen von lauter Tanzmusik aus dem braunen Ferienhaus hinter unserem.

»Hörst du! Das sind Åke und Håkon«, sagt der Junge.

»Åke und Håkon«, wiederhole ich wie ein blödes Echo. »Heißen die so?«

»Ja, natürlich. Die sind zusammen«, sagt er, als ob das alles erklärt, und fügt hinzu: »So was machen die ab und zu. Die stellen die Anlage auf die Terrasse und drehen sie voll auf.«

»Ach so«, sage ich. Ich kenne das Stück, es ist so eins, das modern war, als meine Eltern sich kennen gelernt haben. Der Junge tritt mit dem Fuß den Takt und schaut wieder aufs Meer hinaus.

»Willst du tanzen, oder was?«, frage ich und sehe seinen Fuß an. Der hält inne.

»Ja«, antwortet er. »Nein«, fügt er fast sofort hinzu. »Nein, nein!«, wiederholt er entsetzt. »So war das doch nicht gemeint. Es war nur ... öh ... ich hab wohl nicht richtig gehört, was du gesagt hast, und dann ... ja, also, nein.«

Natürlich hab ich aus purem Jux gefragt, und einfach, um etwas zu sagen, aber jetzt werde ich wohl wieder gemein.

»Du hast aber ja gesagt«, beharre ich.

»Aber das war nicht so gemeint«, sagt der Junge noch einmal.

»Warum willst du nicht?«

»Ich tanze nicht.«

»Du meinst: ›Ich kann nicht tanzen‹«, sage ich, äffe seinen Tonfall nach und finde das wunderbar.

»Nein, so meine ich das nicht.«

Herrgott, ist der kindisch! Und wie zur Bestätigung sagt er:

»Aber ich kann dich mit einem Arm hochheben.«

»Sicher«, sage ich und verdrehe die Augen. Das sieht er. Und ich sehe auch etwas. Ich sehe, dass er mich vielleicht gar nicht so doof findet. Er geht ja nicht und er schaut mich auf eine Weise an, die mir bekannt vorkommt. »Ich will tanzen«, sage ich, angefeuert von dem, was ich entdeckt zu haben glaube. Der Junge interessiert sich vielleicht ganz einfach für mich. Das steigert noch meine Lust, mit ihm herumzujuxen, ihn ... na ja, ihn zu verarschen. Ich packe ihn mit einem altmodischen Tanzgriff um die Taille und schiebe seinen einen Arm zur Seite. Ich mache einige wackelige Schritte. Einige Sekunden lang macht er willenlos mit, aber dann reißt er sich aus meiner Umarmung.

»Lass das«, sagt er, aber er geht nicht.

»Nein, nein«, sage ich. »Ich finde bestimmt andere, mit denen ich tanzen kann. Da oben im Ferienzentrum wimmelt es doch nur so von Jungs.«

Ich fange an, auf die Ferienhäuser zuzugehen. Der älteste und abgenutzteste Trick der Welt, und er beißt an.

»Nein, warte«, bittet er. »Geh nicht.«

»Du willst also doch tanzen?«

Er nickt kaum merklich. Himmel. Ist er denn total bescheuert? Aber ich genieße die Macht, die ich ganz offenbar über ihn habe, ich ziehe meinen Haarknoten auf und lasse mich in seine Arme gleiten. Er steht stocksteif da. Hör auf die Musik, befehle ich, tanz! Gehorsam setzt er sich in Bewegung. Er hebt und senkt die Schultern wie bei einer Entspannungsübung in seinen Trainingsstunden. Dussel! Dann knickst er wie ein kleines Mädchen auf einem Weihnachtsfest, noch immer todernst und den Blick starr auf mich gerichtet. Herrgott! Ich werde ihm schon zeigen, wie man tanzt! Ich wirbele herum, lasse mich in die Musik fallen, verschmelze mit ihr, und für einen Moment habe ich ihn vergessen. Ich schließe die Augen, und wie immer, wenn ich tanze, spüre ich, wie der Rhythmus in mir pocht. Und als ich die Augen wieder öffne, sehe ich, wie er mit großer Energie und riesigem Lächeln im Gesicht auf und ab hüpft. Er sieht aus wie ein irrsinniger Gorilla. Die Arme drehen sich wie Windmühlenflügel, und er knallt nach jedem Sprung in den Sand. Aber er fühlt sich offenbar wohl dabei und scheint mit seinem Einsatz zufrieden zu sein. Ich tanze weiter. Er titscht wie ein Ball auf und ab. Die Musik oben auf der Terrasse hat sich geändert und die neue Melodie lässt mich an einen Ballsaal mit Kristallleuchtern denken, an Damen mit knisternden Seidenkleidern und funkelndem Schmuck. An schöne Männer im Frack. Der Junge vor mir hinkt jetzt auf einem Bein, macht mit den Armen Wellenbewegungen und lächelt mich an wie besessen. Ich mache im warmen, hellgelben Sand selbst erfundene Tangoschritte. Dann nähere ich mich dem Jungen, fasse ihn wieder um die Taille, lasse los, wirbele herum, packe ihn noch einmal. Ich hebe das Bein auf Tangomanier, so, wie ich es im Fernsehen gesehen habe. Seine Stirn ist schweißnass und seine Augen glänzen vor Lachen. Er macht einige heftige Froschsprünge und fasst mich mit beiden Händen an, sodass ich mitspringen muss. Ich merke, dass ich einfach lächeln muss, und das Lächeln des Jungen gefällt mir. Er tanzt wie ein Idiot, aber er hat wirklich ein tolles Lächeln. Uns wird heiß, wir sind in Schweiß gebadet und knallrot, und wir kichern. Und auch als die Musik oben im Ferienhaus verklungen ist, tanzen wir weiter. Er sagt mir etwas ins Ohr, das ich nicht richtig hören kann. Ich lache trotzdem, und als ich erst einmal mit Lachen angefangen habe, kann ich nicht mehr aufhören. Wir tanzen und springen, bis wir atemlos in den Sand fallen.

»Lass uns schwimmen gehen«, schlägt er vor. Ich nicke und freue mich, weil ich unter meinen Klamotten den Bikini angezogen habe. Ich sehe, dass er mich ansieht. Irgendwie gefällt mir das, und dann auch wieder nicht, aber jedenfalls ziehe ich den Bauch ein, als ich mein feuchtes T-Shirt abstreife.

Er ist ein guter Schwimmer und sichtlich stolz darauf. Er krault weit hinaus, kommt zurück, legt sich auf den Rücken und lässt sich treiben, taucht plötzlich unter und ich spüre seine Finger um meine Knöchel. Dann taucht er wieder auf, und seine Haare kleben an seinem Kopf und lassen ihn aussehen wie einen glücklichen sommersprossigen Seehund.

»Wie heißt du?«, frage ich.

»Stian. Und du?«

»Mia«, antworte ich.

Wir stellen fest, dass Stian auf den Tag genau einen Monat jünger ist als ich, dass wir nicht dieselben Filme mögen, dass wir nicht denselben Musikgeschmack haben, dass er Computerspiele liebt, während ich sie hasse. Dass wir beide in einem Reihenhaus wohnen, nicht allzu weit voneinander entfernt, obwohl ich noch nie in seinem Stadtviertel war. Stian erzählt, dass er schon häufiger in Dänemark war, wenn auch nicht gerade hier, und dass er noch ungefähr drei Wochen bleiben wird. Ich versuche, so viel wie möglich aus ihm herauszulocken, ohne so viel über mich sagen zu müssen. Aber dann fragt er, natürlich:

»Und ihr? Wie lange bleibt ihr?«

»Na ja. Wir haben nicht ... wissen nicht genau ... mein Vater sagt, wir ...«

»Da steht er«, sagt Stian.

»Wer?«, frage ich verwirrt.

»Dein Vater natürlich«, antwortet Stian und zeigt auf Papa, der vom Strand her zu mir herüberwinkt.

»Der Mann verfolgt mich«, sage ich dramatisch.

»Keine Panik, ich bin ja da«, sagt Stian.

»Hilft das?«, frage ich.

»Hö«, sagt er.

»Es gibt gleich Mittagessen«, sage ich plötzlich ernst, nachdem ich einen Blick auf die Uhr geworfen habe. »Vielleicht ...«

»... sehen wir uns«, fügt Stian hinzu. »Das wäre ... öh. Ich warte hier.«

»Wer war das?«, fragt Papa, als wir zum Ferienhaus gehen.

»Einfach so einer«, antworte ich mürrisch.

»Das war doch wohl nicht der von gestern?«, fragt er dann.

»Gestern? Nein, natürlich nicht«, antworte ich.

Wie lange waren wir wohl am Strand, Stian und ich? Ich weiß es nicht, ich schaue wieder auf die Uhr und versuche, es auszurechnen, aber das schaffe ich nicht, ich weiß nicht, wie spät es war, als wir uns begegnet sind. Er ist ... Stian ist ... ich weiß nicht, wie ich Stian beschreiben soll. Das Seltsamste an ihm ist, dass ich eben, als ich mit ihm zusammen war, wirklich alles andere vergessen habe.

Aber nach dem Essen gehe ich nicht wieder zum Strand. Ich kann Stian jetzt nicht treffen. Alle Mahlzeiten sind schrecklich. Und bisher hier unten noch schlimmer als zu Hause. Eine aufgesetzt gemütliche Stimmung und jede Menge Essen auf dem Tisch helfen auch nicht gerade. Mama und Papa sitzen sich lächelnd gegenüber, an dem von Fraß, auf den niemand von uns sonderlichen Appetit hat, überquellenden Tisch. Sie sieht mich aus ihren großen graublauen Augen an und ich spüre, wie die Wut in mir aufsteigt, wie sie sich hochdrängt. So ist es seit diesem Abend im Oktober. Als alles sich verändert hat, als sie sich verändert hat, als alles kaputtgemacht worden ist. Ich beiße die Zähne zusammen. Ich zwinge eine Schnitte hinunter, trinke einen Schluck Milch, dann bedanke ich mich für das schöne Essen und gehe in mein Zimmer. Ich laufe im Zimmer hin und her, versetze der Wand lautlose Tritte, stampfe auf, ohne meinen Fuß auf den Boden auftreffen zu lassen, und fluche in Gedanken. Ich lasse meinen Mund »ich hasse sie« formen, gestatte mir aber keinen Laut. Verdammte Mutter, sage ich stumm zur Decke. Ich bürste mir mit harten Strichen die Haare, dann binde ich mir so straff einen Pferdeschwanz, dass mir die Tränen in die Augen treten. Ich nehme den Spiegel von der Wand, setze mich aufs Bett, lege ihn auf den Schoß und starre mein Spiegelbild an. Ich nehme meinen Schminkbeutel und male mir sorgfältig die Augen an. Dann wische ich alles wieder ab. Meine Augen sind rot und geschwollen und in den Augenwinkeln feucht. Bestimmt habe ich Schminke ins Auge bekommen. Wenn ich eine Weile ganz still sitzen bleibe, hört es sicher auf zu brennen.

Soll ich Silje eine SMS schicken? Ihre letzte habe ich noch nicht beantwortet. Wie geht es da unten, hat sie gefragt, und ich weiß, dass sie nicht wissen will, wie das Wetter ist und ob wir mit dem Haus zufrieden sind. Aber ich habe meine Vorkehrungen getroffen und gesagt, dass ich mit meinem Telefon wohl keine Auslandsgespräche führen kann und so. Ich bringe es einfach nicht über mich, Silje über jede Änderung Bericht zu erstatten. Ich will meine Sorgen nicht mit ihr teilen. Silje war ganz Mitleid und schlecht verhohlene Sensationslust, als wir gefahren sind. Aber vielleicht sollte ich ihr ja doch antworten. Silje ist meine beste Freundin, und ich merke, dass ich Lust habe, ihr von Stian zu erzählen. »Wuschel«, schreibe ich. »Fehlst mir!!! Gestern in der Stadt. Heute viel Sonne. Klasse Haus. Typ getroffen. Er ist ...« Ich halte an, nage an einem Fingernagel, überlege, schreibe weiter: »... süß.« Dann lese ich, was ich geschrieben habe, lösche »süß« und schreibe »nett«, lösche das auch und drücke hart auf die Tasten und schreibe »kindisch«. Dann drücke ich auf die Löschtaste, bis die ganze Mitteilung verschwunden ist. Tut mir leid, Silje, leider konnte ich aus Dänemark keine SMS schicken. Ich werd mir demnächst das Telefon meiner Eltern ausleihen und dich anrufen. Vielleicht.

Ich sehe, wie die Welt sich dreht

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