Читать книгу Ich sehe, wie die Welt sich dreht - Helene Uri - Страница 6
ОглавлениеIch rieche an meiner Lippe und
sage etwas Richtiges
Schwer zu sagen, wie lange ich schon hier stehe. Mir sträuben sich die Haare an den Armen. Als ich zum vielleicht fünfzigsten Mal meine Oberlippe zu meiner Nase hebe, um daran zu riechen, ist die Haut zwischen Lippe und Nase kalt wie Metall. Natürlich kommt sie nicht zurück. Wenn ich mir das oft genug sage, werde ich nicht enttäuscht.
Die Rücklichter wurden zu kleinen roten Augen am Ende der Straße, dann bog das Auto ab und hielt mit kurzem Kreischen der Reifen. Ich weiß, wo sie wohnt. Ich weiß seit vielen Stunden, dass sie im letzten Ferienhaus der Reihe wohnt, ganz dicht bei den Dünen. Sie ist gerade erst gekommen, sie wird so bald nicht wieder fahren. Und ich kann sie auf meinen Lippen schmecken. Salzig und säuerlich. Die Lippen riechen nach Fest und Mädchen. Es ist so schnell gegangen. Sie drückte sich an mich, presste mir die Zunge in den Mund und ließ sie wie eine Schiffsschraube rotieren, und ich ließ alles geschehen, half nur mit, soweit es unbedingt nötig war. Plötzlich wurden die langweiligsten Ferien aller Zeiten verwandelt in den Mittelpunkt der Weltgeschichte.
In der ersten Woche habe ich viereinhalb Krimis gelesen, neun Choko-Lux-Eis gegessen, zwölf Jolly Cola getrunken, fünfundzwanzig Mal im Meer gebadet, zwei Frikadellen mit Zwiebeln und Kartoffeln verzehrt, ein halbes Glas Campari getestet und an einem Tag acht rote Würstchen gemampft. Und ich weiß alles über die Nachbarn. Wenn ich kein Nachtmensch wäre, wäre ich jetzt tief in einen Traum versunken. Ich habe genug Bücher gelesen, um zu wissen, dass das Unerwartete unmittelbar nach Einbruch der Dunkelheit geschieht. Und endlich ist es geschehen. Ihr Mund war wie ein Saugnapf, und sie rieb sich an mir, sie war wild und schön, genau wie in einem Traum, den zu träumen ich nur selten die Zeit habe. Ihre Lippen dufteten nach Verlangen. Sie könnte doch jeden Dänen haben, einen von den angesagten Typen, die hinten beim Ferienzentrum herumhängen und nie nach Hause müssen, aber ich wurde zum rettenden Nachtengel, ich bin einen Schritt hinter ihr gegangen, als sie über das Geländer balanciert ist, bereit, sie zu packen, falls sie ins Schwanken geriete und abzustürzen drohte.
Ich schaue den Löwenzahn an, der schlaff in meiner Hand hängt. Er braucht Wasser. Natürlich kommt sie nicht zurück. Ich mache kehrt und gehe auf das Sommerhaus zu. Unterwegs muss ich vorbei an den Trainingsanzug-Olsens, die nur wegen der Kinder zusammenbleiben, am Paar aus dem Dorf, das keinen Gesprächsstoff mehr hat, an Foss/Andersson, die im Schlafzimmer Sex haben. Ich weiß auch über die anderen so allerlei, über die Göteborger, die Kniffel ganz ernst nehmen, und über das norwegisch-schwedische Homopaar, das Wein aus Pappkartons trinkt. Jede Nacht verlasse ich die Ermittlungen von Erik Winter, Kurt Wallander oder sogar Sherlock Holmes und hoffe auf mein eigenes kleines Feriendrama hinter offenen Fenstern, auf Terrassenstreitereien, die zu etwas Kriminellem explodieren. Stattdessen bekomme ich den ersten Kuss meines Lebens.
Ist es physisch möglich, nach einem solchen Erlebnis zu schlafen? Ich weiß nur, dass ich im Bett liege, an meinen Lippen lecke, an meinen Fingern rieche, die sie umarmt haben, und dass es draußen bald wieder hell wird. Und dass ich noch immer nicht müde bin. Der Löwenzahn ragt aus einem Zahnbecher auf meinem Nachttisch.
Ich betrachte das marineblaue Zifferblatt des Chronograph Flightmaster, der fetzigen Armbanduhr, die bis zu hundert Meter Tiefe wasserdicht ist und ein niemals versagendes japanisches Uhrwerk besitzt. Man braucht immer eine Uhr, deshalb nehme ich sie niemals ab. Seit dem Kuss sind dreihundertzweiundzwanzig Minuten vergangen, ich stehe auf und steige in meine Shorts. Aber ich kann nirgendwo hingehen. Meine Shorts haben eine Flaggenstange, die geradeaus ins Zimmer zeigt. Ich setze mich aufs Bett und versuche, an versoffene Kommissare, schmutziges Geschirr und Anoraks zu denken, an alles andere als das schöne Mädchen mit den wunderbaren fülligen Lippen. Scheiße, Scheiße, Scheiße.
»Hast du was gesagt?«, fragt Papa hinter dem offenen Fenster.
»Nichts, ich schlafe«, sage ich eilig.
Papa ist ein Typ, der beim Job gern Überstunden schiebt, aber in den Ferien will er mein Kumpel sein. Ein peinlicher Typ, der über Musik und Filme und Spiele diskutieren will, von denen er keine Ahnung hat. Er ist ungeheuer lahm im Gehirn, und dabei hat er einen Job, bei dem er so viel nachdenken muss. Scheiße.
Ich ziehe mein längstes T-Shirt an, das mit dem Billabong-Logo, und das Teil bedeckt meinen halben Schritt. Idiotischerweise habe ich die übrigen scharfen Klamotten zu Hause gelassen, ich war doch auf Eis- und Badetage als der überdimensionale Goldbubi meiner Eltern vorbereitet. Abgesehen von nachts, dann gehe ich in Schwarz.
Das ist das letzte Mal. Der Entschluss ist gefasst, aber bisher weiß nur ich, dass es für mich keine weiteren Familienferien geben wird. Die Gründe stehen auf einem Zettel. Es sind zehn an der Zahl.
Gleich darauf gehe ich in Jeans aus dem Haus. Papa fragt, ob es nicht ein wenig zu warm dafür sei. Blöde Frage, und ich bringe es nicht über mich, ihm zu antworten. Ich laufe einfach durch den kleinen Garten und dann über den Weg. Ich schnappe Bruchstücke vom unterkühlten Gespräch der Olsens darüber auf, wie wohl sie sich doch fühlen. Das schwedisch-norwegische Homopaar trinkt Pappwein und sagt auf Schwedisch und Norwegisch »guten Morgen«. Mir ist schon glühend heiß. Da unten hat sich alles beruhigt, deshalb verschwinde ich hinter die Hecke, außerhalb des Blickfeldes der Schwulen, ziehe meine Hose aus und presse sie tief zwischen die Zweige. Ich kann sie später holen.
In Badeshorts stapfe ich dann an ihrem Ferienhaus vorbei. Versuche nicht einmal festzustellen, ob sie auf der Terrasse sitzen, ich starre nur aufs Meer, das ich vor lauter Dünen nicht sehen kann. Vielleicht erkennt ihr Vater mich wieder und wird die Ferienhausgemeinschaft vor dem Nachtwanderer warnen. Aber zum Umfallen müde Väter mit betrunkenen, blutenden Töchtern registrieren die Umgebung nur selten. Er ist sicher zufrieden, weil er sie vor einem geilen Nachtschwärmer gerettet hat.
Ich setze mich auf eine Düne und lasse feinkörnigen Sand durch meine Finger rinnen. Die Morgenbader stürzen sich in die Wellen und die eifrigsten Sonnenanbeter liegen am Wasser. Ich habe keinen Hunger und bin auch nicht müde, ich bin nur froh, weil ich hier sitzen und Millionen von Sandkörnern durch meine Finger rieseln lassen kann, wie Partikel eines Kusses, wie die Endorphine, die durch meinen Körper strömen, wie Zellen in einer Spermaladung. Und das musste ja wieder passieren. Stocksteif. Also bleibe ich sitzen.
Nach einer neuen Runde verbissener Zwangsvorstellungen über Abwasch und Anoraks stehe ich auf und klettere ein wenig auf den Sandhaufen herum, ehe ich mich auf den Rückweg mache. Am Anfang des Fußweges, zwischen den Sandhaufen, sehe ich sie. Ich weiß, dass ich kehrtmachen müsste, denn ich habe noch nicht jedes mögliche Ereignisszenario durchgespielt oder alle denkbaren Gesprächswendungen durchdacht, ich habe nicht einmal treffsichere Sprüche gespeichert. Nicht einmal die grundlegendsten Handlungen habe ich mir überlegt: Soll ich sie umarmen? Mich mit ausgestreckter Pfote vorstellen? Lässig fragen, ob sie eine Runde abhängen möchte?
Aber als ich näher komme, sehe ich, dass etwas nicht stimmt. Der wilde Haarstrom ist zu einem strengen Knoten hochgesteckt, der Mund verkniffen. Sie sieht nicht aus wie eine Geländerakrobatin und ihr schmaler müder Blick geht durch mich hindurch. Aber sie ist schön wie die Sommernacht und ich habe sie geküsst. Als ich vorübergehen will, zuckt mein Körper zusammen und unbezwingliche magnetische Impulse treiben mich schräg nach links. Ich beuge mich vor, lege weich die Wange an ihre und flüstere »hallo«. Sie zuckt zusammen.
»Himmel, was soll der Scheiß?«, fragt sie und schiebt mich weg.
»Ich bin’s«, sage ich und tippe mir mit dem Zeigefinger auf die Brust.
»Du?«
In solchen Momenten könnte ich meine Seele dafür geben, mein Leben einige Sekunden zurückspulen zu dürfen. Ich beiße mir in die Lippe, die nach nichts mehr schmeckt. Mein Kopf ist erfüllt von Wörtern, die nichts mehr bedeuten.
»Verdammte Pest! Jetzt hab ich wohl total verschissen! Ich bin ein Vollidiot!«, rufe ich und weiß nicht einmal so recht, ob außer mir noch jemand diese Wörter mitbekommt, hässliche Wörter, die noch mehr kaputtmachen und mich wirklich verrückt aussehen lassen.
»Bist du denn total bescheuert?«, fragt sie.
Ich bin wieder übergelaufen. Meine Körpertemperatur ist zu schnell gestiegen und der Siedepunkt hat alles zerstört. Habe ich denn gar nichts mehr im Griff? Ich suche nach Worten, die erklären können.
»Ich hab dich doch gerettet«, beginne ich, aber das ist nicht das Richtige, denn die Brücke war nicht tödlich hoch. »Äh, ich hab dich gestern jedenfalls aufgefangen. Und wir haben uns geküsst ... geknutscht ... ganz echt, und ich dachte, da wäre es vielleicht in Ordnung, dich mal kurz in den Arm zu nehmen, einfach so, weil du ... weil du mir deinen Löwenzahn gegeben hast.«
Dann sagt sie, tut mir leid, und sie habe solche Kopfschmerzen und das Frühstück sei alles andere als nett gewesen und sie wolle jetzt nur noch nach Hause nach Norwegen und sie könne sich nicht so richtig erinnern, aber dann steht sie plötzlich dicht vor mir und legt mir die Arme um die Schultern und drückt zu.
Es hat geklappt. Und es war nicht einmal geplant.