Читать книгу Ich sehe, wie die Welt sich dreht - Helene Uri - Страница 8
ОглавлениеIch warte darauf, dass das Leben anfängt,
und erlebe einen Krieg
Ich habe mich auch schon mal erbrochen. Zu Hause in meinem Zimmer, nachdem ich spät nach Hause gekommen war. Daran war der Döner schuld, ich hatte schließlich nur Cola getrunken, aber meine Mutter hätte das sicher nicht geglaubt, und deshalb habe ich alles mit dem Staubsauger aufgesaugt. Eigentlich eine gute Idee, alles verschwindet, wenn ich nur daran gedacht hätte, den Beutel zu wechseln. Denn einige Tage später stank der Staubsauger nach Tod und Verderben und Papa warf ihn auf den Müll und pöbelte herum, bis er heiser wurde und einen Gin Tonic brauchte.
Ich bin jetzt seit zwei Stunden hier, bin ein bisschen am Strand entlanggewandert, habe mich auf die höchste Düne gekämpft, habe lange dort gesessen und mir die vielen Badegäste angesehen: Dänen, Schweden, Norweger, Deutsche, spielende Kinder und Körper in allen Formen, die Sonne tanken. Haben sie sich nach eintönigen Arbeitstagen hergesehnt, danach, herumzuliegen und nichts zu tun, während sie Hautkrebs kriegen? Meine Ferien sollen nie so sein, ich glaube, in mir wohnt ein Backpacker, einer, der sich den Rucksack auf den Buckel wirft und dahin geht, wo der nächste Zug oder das nächste Flugzeug oder mein Fahrrad mich hintragen. Vielleicht finde ich eine Zwillingsseele, die mich auf meinen Reisen begleiten kann, eine mit fülligen Lippen und langen Haaren. Und sonst fahre ich allein. Macht’s gut, wir sehen uns in einem Jahr, oder vielleicht in zweien. Ich glaube, Papa würde dann ganz schön nach Worten suchen und Mama würde ein Tränchen zerdrücken und etwas über Sehnsucht und Schmerz sagen, aber ich würde ihr das Wort abschneiden, denn gleich geht mein Flieger, keine Zeit zum Heulen und Knutschen, vielleicht schick ich ab und zu mal eine E-Mail, hasta la vista, suckers.
Mia hat nichts davon gesagt, dass sie wiederkommen will, aber ich bin nicht ungeduldig, ich habe die ganzen Ferien. Papa geht vorbei, und sein Wanst ragt aus seinem nicht zugeknöpften gelben Ferienhemd heraus und sein behaarter Hintern steckt in einer blöden verwaschenen Strandaufreißerbadehose aus dem vorigen Jahrhundert. Er hat mich nicht gesehen, wie ich da auf der Düne saß und mir den Sand durch die Finger rieseln ließ. Die ganze Zeit betrachte ich, auf der Suche nach Mia, das Sommerferienvolk, das über den Fußweg treibt. Wohin sollte sie denn sonst gehen? Ins Ferienzentrum und sich von dänischen Supertypen voll labern lassen?
Im einen Moment stelle ich mir uns eng umschlungen vor, im nächsten ist Mia unerreichbar. Das ist wie ein konstanter Krieg in meinem Kopf: Die coole Hirnzellenclique macht sich lustig über mich und erklärt, dass ich nie im Leben bei ihr landen werde. Riesige, gemeine Zwei felzellen mit scheinbarer psychischer Oberhand. Aber aus ihren Schlupfwinkeln unter der hinteren Schädelsenke tauchen die tatendurstigen Lustzellen auf, eine eifrige Bande von Kriegerzellen, die zuschlagen, wenn man es am wenigsten erwartet, die den Zweiflern ein Bein stellen und sie in die Gehirnmasse tunken, sie gegen die Schädelwand schleudern und ins Nasenbein stopfen. Wir kämpfen für dich! Klar kriegst du sie, Kumpel! Friedensverhandlungszellen existieren nicht, und jetzt kriege ich Kopfschmerzen.
Natürlich kommt sie nicht. Aber ich gebe mich nicht geschlagen. Ich kann mich jetzt nicht geschlagen geben. Und alles passiert ja ohnehin nachts, das weiß ich schließlich.