Читать книгу Das Geheimnis der Bodenklappe - Helga Sadowski - Страница 5
Die Kinder sind verschwunden
ОглавлениеVerzweifelt rannte Frau Grünfutter durch das beschauliche kleine Dorf mit seinen, an der einzigen Straße, gelegenen großen und kleinen Bauernhöfen und rief: »Klaus! Anna! Lotte, wo seid ihr?«
»Was ist los?« Herr Droll lehnte an seinem Gartenzaun im Schatten einiger alter Kastanien.
»Meine Kinder sind verschwunden«, erklärte die gehetzt um sich schauende Frau. »Es wird bald dunkel. Sie sollten auf unserem Grundstück bleiben. Ich hatte ihnen ausdrücklich verboten, weiter wegzugehen.« Sie kämpfte mit den Tränen. »Ihnen ist bestimmt etwas Schreckliches passiert! Sie sind doch noch so jung.«
Der Mann trat zu ihr auf die Straße hinaus und versuchte, sie zu beruhigen.
»Nun nehmen Sie doch nicht gleich das Schlimmste an, Frau Grünfutter. Ihre Anna ist doch schon fast dreizehn und Lotte acht, die werden bestimmt auf den kleinen Klaus aufpassen.«
Durch den ungewohnten Lärm auf der Straße wurden die Dorfbewohner aufmerksam. In Windeseile verbreitete sich die Neuigkeit in ganz Kleinlandfurt. Bis auf wenige, die nicht gut zu Fuß waren, kamen alle zusammen. Frau Droll nahm fürsorglich Frau Grünfutter in den Arm und versuchte, sie ins Haus zu führen.
»Komm, Mona, ich mache dir einen Tee und alle anderen gehen suchen.
»Was ist denn hier los?«, fragte Walter Mitotisch, der Dorfpolizist, der eben gekommen war, und schaute in die Runde. Alle redeten durcheinander.
»Stopp!« Der Mann in Uniform hob beide Hände. »So geht das nicht! Mona, erzähl mir bitte ganz genau, was sich zugetragen hat.« Auffordernd schaute er die weinende Frau an.
»Walter, meine Kinder sind weg«, schluchzte sie, »statt mir unnötige Fragen zu stellen, sollten wir lieber nach ihnen suchen.« Der Unmut in ihrer Stimme war nicht zu überhören.
Herr Mitotisch schüttelte den Kopf und versuchte zu erklären. »Aber Mona, ich kann doch nicht das ganze Dorf auf die Suche schicken, ohne zu wissen, was passiert ist.«
Ein Blick in ihr verzweifeltes Gesicht ließ ihn einlenken. Er teilte alle Anwesenden in Gruppen zu fünf Leuten ein und schickte sie in verschiedene Richtungen. Sie holten sich Taschenlampen und Pechfackeln aus ihren Häusern und begaben sich auf die Suche nach den vermissten Kindern.
Der Polizist wandte sich erneut an Frau Grünfutter.
»So, nun suchen alle und du erzählst mir, was geschehen ist.«
»Nein!«, protestierte sie heftig. »Ich werde auch weitersuchen. Du glaubst doch nicht, dass ich untätig bleibe?« Walter Mitotisch schüttelte energisch den Kopf.
»Du wirst mich jetzt zu dir nach Hause begleiten und auf dem Weg berichtest du mir ausführlich. Vielleicht sind deine Kinder inzwischen zurück.«
Frau Droll pflichtete ihm bei: »Ja Mona, der Walter hat recht, geh mit ihm, bitte.« Mutlos senkte Frau Grünfutter den Kopf, ließ ihre Schultern hängen und trottete neben Herrn Mitotisch die Dorfstraße hinunter. Sie hatte keinen Blick für die Reetgedeckten Fachwerkhäuser und ihre schmucken Vorgärten. Überall waren schon Vorboten des nahenden Herbstes zu erkennen. Die Fettehennen verfärbten sich bereits von ihrem einheitsgrün ins Altrosa.
»Nun erzähl schon!«, forderte Walter Mona erneut auf.
Stockend berichtete sie: »Anna war heute besonders aufsässig, sie wollte partout noch zur alten Scheune hoch, um dort einige aus ihrer Klasse zu treffen. Ich weiß aber, dass sich da nur eine Handvoll Jungen trifft. Also habe ich es ihr verboten. Sie durfte das Grundstück nicht verlassen. Ich bin erst zur Scheune gelaufen, nachdem ich bemerkt hatte, dass meine Kinder nicht mehr da waren. Aber dort habe ich niemanden angetroffen.« Sie liefen einen schmalen Feldweg entlang, der zwischen golden schimmernden Weizenfeldern hindurchführte und von üppig blühenden Kornblumen und Klatschmohn gesäumt wurde. Walter Mitotisch schwieg eine Weile und wirkte nachdenklich.
»Na gut«, meinte er schließlich, »ich hole jetzt meinen Hund und du gibst mir etwas, was nach deinen Kindern riecht, und bleibst hier, für den Fall, dass sie noch auftauchen, verstanden?« Ein eindringlicher Blick traf Frau Grünfutter.
Sich ihrem Schicksal ergebend holte sie einige Kleidungsstücke aus dem Haus und drückte sie ihm in die Hand.
»Bitteschön. Ich werde warten, auch wenn es mir schwerfällt. Tante Grete macht sich bestimmt schon Sorgen. In ihrem Alter sollte sie sich nicht mehr zu sehr aufregen. Ich werde nach ihr sehen.«
»Das ist eine gute Idee. Solche Aufregungen tun ihr bestimmt nicht gut, Mona. Die Grete ist zwar mit ihren über einhundert Jahren noch rüstiger als so mancher junge Hüpfer hier im Dorf. Trotzdem solltest du sie nicht allein lassen.« Nach diesen Worten eilte er davon.
Frau Grünfutter schaute ihm nach, bis er ihren Blicken entschwunden war, bevor sie ins Haus ging.
Die Tante schlief seelenruhig in ihrer Kammer. Mona deckte die alte Frau sorgsam zu.
Der Mitotisch hat recht, sie sieht ausgezeichnet aus für ihr Alter, dachte Mona und betrachtete die Schlafende kurz. Sie seufzte, verließ leise den Raum und schloss die Tür.
Die nächsten Stunden verbrachte Mona damit, in ihrem Haus von einem Fenster zum anderen zu laufen. Aus jedem starrte sie eine Weile in die Dunkelheit hinaus. Manchmal sah sie die Lampen und Fackeln der Suchenden in der Ferne aufblitzen. Ihre Hoffnung auf ein gutes Ende schwand von Stunde zu Stunde.
Gegen Morgen erwachte Grete und gesellte sich zu ihr. Sie versuchte Mona mit allerlei Erklärungen zu beruhigen. Leider ohne Erfolg.
Die Dorfbewohner hatten alle Orte, die infrage kamen, nach den Kindern abgesucht. Schließlich kam einer der mitsuchenden Dorfbewohner auf die Idee, noch einmal in der abgelegenen Scheune nachzusehen obwohl sie wussten, dass Mona dort bereits ergebnislos gesucht hatte.
Die Taschenlampen des Suchtrupps warfen schmale Lichtkegel auf den Weg, der durch das kleine Waldstück zur Scheune hinaufführte. Nach kurzer Zeit erreichten die Männer um Herrn Mitotisch die baufällig wirkende Scheune des verlassenen Bauernhofes.
»Klaus, Anna, Lotte, seid ihr hier?«, rief Herr Droll in das in der Morgendämmerung dastehende Gebäude. Er wollte sich schon abwenden, als er ein Geräusch wahrnahm. »Psst!« Er legte einen Zeigefinger auf seine Lippen. Alle hielten den Atem an und lauschten angestrengt. Ein Rascheln drang an ihre Ohren.
»Anna, Klaus, Lotte, seid ihr das?«, rief Herr Droll und trat ein. Er ließ den Lichtstrahl seiner Taschenlampe durch den Innenraum schweifen. Eine Katze fauchte und rannte davon. Herr Droll näherte sich vorsichtig der Leiter, welche zum Heuboden hinaufführte. Stellenweise hingen uralte Spinnweben zwischen ihren Sprossen. Staub lag Fingerdick überall.
»Schaut mal, diese Leiter hat doch kürzlich jemand benutzt. An den Sprossen fehlt teilweise der dicke Staub. Ich klettre hinauf und schau mich dort oben mal um.« Die alten Sprossen ächzten unter seinem Gewicht. Unruhig zitterte der Lichtstrahl seiner Lampe über die Dielenbretter. Die Bodenklappe stand weit offen, davor lag die rote Kappe, welche Klaus immer getragen hatte.
Der Dorfpolizist, welcher mittlerweile ebenfalls hinaufgekommen war, hob sie auf und leuchtete suchend durch das Loch nach unten. Darunter sah er nur einige unberührt wirkende Heuballen. Ihre Begleiter schauten durch die Klappe zu ihnen hinauf. Er zeigte seinen Fund. Ansonsten fehlte von den Kindern jede weitere Spur.
Am frühen Morgen stellte man die Suche zunächst ein. Die Helfer schlurften erschöpft nach Hause, nur wenige standen noch diskutierend zusammen.
Frau Grünfutter machte sich zu dieser Zeit auf den Weg zum Polizeigebäude mitten im Dorf, direkt neben der Feuerwache. Dort wartete sie, ungeduldig auf und ab gehend, auf Herrn Mitotisch, der einige Zeit später mit seinem Hund von der Suchaktion zurückkehrte.
»Habt ihr etwas gefunden?«, stürmte sie auf ihn ein.
»Beruhige dich bitte!«, versuchte er, die aufgeregte Frau zu beschwichtigen. »Setz dich.« Sie nahm in der kleinen alten Wache auf einem der wackeligen Stühle Platz. Unruhig zappelte sie mit ihren Beinen und Tränen traten ihr in die Augen.
»Was, wenn meine Kinder nie gefunden werden? Wir müssen doch etwas tun können. Bitte, Walter, hilf mir.« Ihr flehender Blick hing am Gesicht des alten Wachtmeisters. Er schluckte schwer. Ein dicker Kloß saß in seinem Hals.
»Wir haben im weiten Umkreis jeden Stein umgedreht«, erklärte er leise. »Glaube mir, wir sind mit unserem Latein am Ende. Mein Hund bleibt immer vor dieser Klappe auf dem Dachboden des alten Heuschobers stehen. Dort verliert sich die Spur der Drei. Es tut mir leid.« Er senkte betrübt den Kopf und reichte ihr Klaus’ Kappe. »Mehr haben wir bis jetzt leider nicht gefunden. Sie lag in der Scheune, oben auf dem Söller neben der Bodenklappe.«
Mit zitternden Händen ergriff Mona Grünfutter die Kopfbedeckung, drückte sie fest an ihre Brust und schluchzte. Sie nahm eine aufrechte Haltung an und schaute mit leeren Augen durch den Beamten hindurch. Ihr Blick hatte etwas Merkwürdiges. Die hellblaue Iris in ihren Augen hatte sich zu einem tiefen Blau verfärbt, sodass es dem Mann kalt über den Rücken hinunterlief. Tonlos sagte sie: »Tante Grete ist der Meinung, dass die Kinder bestimmt zurückkommen. Ich glaube, sie begreift gar nicht, was passiert ist.« Mona schniefte kurz und putzte ihre Nase. »Sie glaubt, die Kinder sind zu Hause, kannst du dir das vorstellen, Walter?« Er schüttelte nur ratlos den Kopf.
»Das Beste wird sein, du gehst heim und kümmerst dich um sie. Wir tun, was wir können, glaub mir!« Resigniert sackten ihre Schultern nach unten. Nach einem kurzen Abschiedsgruß trat sie ihren Heimweg an und lief die Dorfstraße entlang. Einige Nachbarn standen müde beieinander und warfen ihr verstohlen mitleidige Blicke zu. Sie steckten die Köpfe zusammen und tuschelten hinter ihrem Rücken.
»Erst der Mann und nun alle drei Kinder.«
»Nein, wie furchtbar.«
»Die arme Frau.« Mona war angestrengt bemüht, es zu überhören. Ihr Haus lag etwas außerhalb des Dorfes und der Weg führte an einer kleinen Kapelle am Wegrand vorbei. Sie lief zunächst achtlos daran vorüber, blieb kurz dahinter abrupt stehen, eilte die paar Schritte zurück und kniete vor dem Bildnis der Mutter Gottes nieder.
Leise kamen bittende, ja flehende Worte über ihre Lippen: »Maria bitte hilf, ich flehe dich an, beschütze meine Kinder und führe sie zurück nach Hause. Du bist auch eine Mutter und weißt, was ich durchmache. Ich flehe dich an, hilf uns!« Hemmungslos schluchzend sackte sie in sich zusammen. Es dauerte lange, bis sie sich beruhigt hatte und imstande war, nach Hause zu gehen.
Die Tante wartete mit dem Frühstück.
»Da bist du ja wieder!« Die alte Frau lächelte freundlich. »Setz dich und frühstücke mit mir. Du musst dich beruhigen, sie kommen zurück, ganz bestimmt.«
»Woher nimmst du bloß deine Weisheiten?«, herrschte Mona Tante Grete an und zeigte ihr die gefundene Kappe von Klaus. »Begreife es endlich, alle Drei sind fort! Das ist alles, was die Männer in der alten Scheune da draußen beim verlassenen Gehöft gefunden haben. Meine Kinder sind wie vom Erdboden verschluckt.« Weinend rannte sie ins Haus.
Tante Grete lächelte kopfschüttelnd und murmelte vor sich hin: »Anna, Lotte und Klaus sind zu Hause, da bin ich mir sicher. Wo denn wohl sonst?«
Spontan stand sie auf, verließ das Grundstück und eilte durch das Wäldchen zur verlassenen Scheune. Wenig später betrat sie das windschiefe Gebäude und ging zur Leiter, die auf den Heuboden führte. Vor Aufregung hatten sich ihre Wangen gerötet.
Sprosse für Sprosse stieg sie hinauf und wendete sich zielstrebig der offenen Bodenklappe zu. Langsam trat sie näher heran, in der Finsternis verschwindende Stufen zauberten ihr ein ver-schmitztes Lächeln ins Gesicht.
»Ich wusste es, sie sind zu Hause«, murmelte sie. Vorsichtig hob sie ihr linkes Bein und …
»Halt, Ömchen!«
Sie wurde von hinten gepackt, hochgehoben und fortgetragen. »Du willst dir doch nicht den Hals brechen?« Der Dorfpolizist Walter Mitotisch hielt sie fest in seinen Armen. »Deine Nichte, die Mona, hat genug Kummer. Das fehlte gerade noch, dass du hier abstürzt.«
»Lass mich los, du Flegel!«, schimpfte Grete. »Was fällt dir ein mich Ömchen zu nennen?« Sehnsüchtig schaute sie zur Klappe hin. »Ich will doch nur endlich nach Hause!«
»Ich bringe dich ja hin!« Walter Mitotisch schob sie sanft, aber unerbittlich zur Leiter und half ihr hinunter, ob sie wollte oder nicht. Als sie draußen standen, verrammelte er den Eingang zur Scheune. »Nun mal los, ich bring dich nach Hause.« Er hakte sie unter und marschierte mit ihr los. Immer wieder warf sie einen sehnsüchtigen Blick zurück.
»Ich will nach Hause, lass mich los!«
»Was hast du gesagt, Ömchen?«
»Lass mich los, du Flegel!«, schimpfte sie lautstark.
»Ja, ja, ist schon gut«, versuchte er, sie zu beruhigen. »Gleich sind wir bei euch Zuhause. Schau, deine Nichte sucht dich schon. Sei brav und mach ihr nicht noch mehr Kummer.«
Mona, die im Garten gestanden hatte, nahm sie in Empfang.
»Was machst du nur, Tante Grete, wo warst du?«
Die alte Frau sah sie traurig an und flüsterte: »Na gut, ich bleibe, aber nur bis die Kinder zurück sind, dann gehe ich nach Hause.«
Der Dorfpolizist schenkte Mona einen viel-sagenden Blick und wischte hinter dem Rücken der alten Frau mit der flachen Hand vor seiner Stirn hin und her und machte sich auf den Weg. Mona führte die Tante ins Haus.
»Komm rein Grete, ich mache dir einen Kaffee und dann ruhen wir uns aus. Ich bin so schrecklich müde und kann mich fast nicht mehr auf den Beinen halten. Dr. Mauser war eben hier und hat mir etwas zur Beruhigung gegeben.« Wie zur Bestätigung gähnte sie vernehmlich. Grete sah Mona mitleidig an.
»Ach Kind, da hätte ich ja beinahe was ganz Dummes gemacht. Ich verspreche dir, solange die Kinder nicht zurück sind, bleibe ich bei dir!« Sie führte ihre Nichte ins Wohnzimmer und sorgte dafür, dass diese sich auf das Sofa legte, deckte sie sorgsam mit einer karierten Decke zu und strich ihr sanft über das wirr liegende Haar. Die Ärmste schlief schon, bevor Grete den Raum verlassen hatte.