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6. Kapitel
ОглавлениеDer Sommer war früh nach Norditalien gekommen, doch die Luft fühlte sich an diesem Maimorgen noch etwas kühl an. Es duftete nach Rosen und Myrthen. Die Schatten waren lang, Bäume standen aufgereiht in Kübeln, und unaufhöhrlich plätscherten die Fontänen und Wasserspiele des Gartens der Villa di Cussago. Christine pflückte voller Begeisterung eine Zitrone von einem Zweig, sie lief weiter, pflückte noch eine und genoß den Anblick der Früchte zwischen den Blättern, nicht hereingetragen auf einer Schüssel.
Christine und ihr Gefolge machten den letzten Aufenthalt vor dem Einzug nach Mailand. Graf Stampa hatte ihr sein Anwesen zur Verfügung gestellt, und dieser Garten gehörte zum Schönsten, was sie je gesehen hatte.
Sie war hingerissen von der üppigen Pracht der Häuser, Gärten und Landschaften. Nach fast zweimonatiger Reise im Frühjahrsregen auf morastigen Wegen, durch Schneegestöber und über Alpenpässe hatte sie endlich das grüne, herrliche, sonnenbeschienene Land erblickt. Das Tal des Po lag zu ihren Füßen, und der Abstieg begann.
Christine war klar, daß alles nur ihr zu Ehren geschah. Sie war diejenige, um die sich alles drehte, deren kleinster Wunsch erfüllt werden sollte. Sie lächelte den Menschen überall auf den Straßen, Balkonen und Dächern zu und genoß das Gefühl, mit ihrem Lächeln zu bezaubern.
Während Christine an jenem Maimorgen nach einer weiteren Zitrone griff, sie vor das Gesicht hielt und den Geruch einatmete, konnte sie über der Spitze ihrer Finger in der Ferne eine Staubwolke sehen. Eine Kavalkade von Rittern, vielleicht nur Reisende oder wieder einer der vornehmen Italiener, der ihr mit seinem Gefolge die Aufwartung machen wollte, bevor sie in die Stadt einzog, um ihren Herzog und Ehemann zu treffen.
Die Hofdamen des Gefolges vertrieben sich die Zeit mit Krokket, doch Christine zog es vor, im Garten zu wandeln, während es noch kühl war. Sie befühlte die Blätter, atmete den Geruch unbekannter Gewürze ein, pflückte ein Rosmarinästchen und steckte es in den Bund. Das würde ihr Glück bringen und war gut für eine junge, frisch verheiratete Frau, die den Mann treffen sollte, von dem sie wußte, daß sie ihn liebte.
Überall standen gestutzte Bäume und Büsche, in geometrische Formen geschnitten, als Phantasiefiguren oder als Tierköpfe. Es gab Labyrinthe und Geheimgänge. Christine und ihre niederländischen Damen liefen lachend darin herum, sie entfernte sich von ihnen, war auf einmal allein und blieb bei einem Springbrunnen stehen. Sie beugte sich vor, sah ihr Spiegelbild im Wasser, ihr langes Haar fiel nach vorne, und sie lachte sich zu, richtete sich auf und wollte weitergehen.
Plötzlich spürte sie die Wärme. Als sei die Sonne mit einem Ruck ein Stück höher gestiegen, und gleichzeitig vernahm sie einen Laut, ein regelmäßiges Stoßen oder Schlagen.
Christine drehte sich um, schaute, aber es war nichts und niemand zu sehen. Sogar die kleinen Vögel klangen entfernter und leiser, doch die Luft war heiß und trocken, die Schatten erschienen jetzt kurz und schwarz, und das Geräusch näherte sich stetig dem Springbrunnen.
Christine zuckte zusammen, als sie den alten Mann sah, der die Krücke fest auf den Fliesen aufsetzen mußte, um vorwärtszukommen. Haar und Bart waren grau. Der Mann trat unter einem grünen Bogen hervor, und er war allein. Es tauchte niemand auf, um ihn vorzustellen, doch seine Kleidung war vornehm, und er hatte ganz deutlich ein Anliegen, wie er so aus dem Schatten des Labyrinths zu ihr in die Sonne hinkte.
Christine war ratlos, sie hielt noch die Zitronen in den Händen und drückte sie unbewußt an ihr Mieder. Sie mußte etwas unternehmen, aber wo waren ihre Damen? Der Mann kam näher. Die Nase war groß und krumm, die Haut grau, und bei jedem Aufprall der Krücke zuckte die linke Seite des Gesichts, erst der dumpfe Aufprall, dann das Zucken, wieder der Aufprall und erneut dieses Zucken.
Der Mann blieb direkt vor ihr stehen und betrachtete sie, verbeugte sich aber nicht vor ihr. Wußte er etwa nicht, wer sie war?
Christine erstarrte, was nahm er sich heraus? Sie würde es Graf Stampa sagen. Das mußte natürlich betraft werden. Jeder hatte sich vor ihr zu verbeugen. Jeder außer einem, der Herzog ...
Die Zitronen kullerten wie gelbe Bälle auf den Boden. In einer Sekunde des Schreckens schlug sie die Hände vor den Mund, dann beherrschte sie sich, ließ langsam die Arme sinken und streckte ihm schließlich die rechte Hand hin.
Christine schaute in alte, müde Augen. Sie spürte, wie kalte Finger ihre Hand ergriffen, und die Lippen waren wie rissiges Leder auf ihrer Haut. Rund um sie erklangen Stimmen, ihre Damen tauchten auf und verbeugten sich tief. Christine stand Francesco Sforza gegenüber, dem Herzog von Mailand. Sie hatte ihren Ehemann getroffen.
Der Herzog verbrachte nur eine halbe Stunde in Cussago in Gesellschaft seiner Braut. Mit der linken Hand auf die Krücke gestützt reichte er Christine die rechte, und gefolgt von den Damen und Graf Stampa spazierte das Ehepaar durch den Park.
Der Herzog erzählte, daß Beatrice d’Este, seine längst verstorbene Mutter, von Mailand aus hierher zu fahren pflegte, um in der wildreichen Landschaft zu jagen.
Eine dunkelviolette Kletterpflanze bedeckte eine Mauer. Der Herzog ließ Christines Hand los, griff danach, brach einen Zweig ab und hielt ihn vor ihre Augen.
»Eine seltsame Pflanze«, sagte er, »die Blätter geben ihr die Farbe, daher ihr prächtiges Aussehen, die Blüte dagegen ist klein und unscheinbar ...«
Er drehte sie zwischen den Fingern, so daß Christine sie von allen Seiten betrachten konnte, und fuhr fort: »Nach der Blüte muß man suchen, das ist die Seele der Pflanze.«
Nach wenigen Schritten blieb der Herzog erneut stehen und wandte sich an Christine. Sie hatte die Sonne im Gesicht, war geblendet und sah kaum etwas, als er seine Freude und Dankbarkeit dem Kaiser gegenüber zum Ausdruck brachte, der ihm eine so vornehme Fürstin und schöne Braut geschickt hatte. Christine sollte antworten, nicht nur geblendet und stumm dastehen. Die Damen um sie warteten, ebenso Graf Stampa und der Herzog, aber das Licht machte alles weiß, und sie hörte nichts, als sei das Wasser des Springbrunnens gefroren und alle Vögel tot.
Sie ahnte eine Bewegung vor sich, jemand berührte ihre Wange, es waren seine Finger und dann die ganze Hand, trockene, rauhe Haut auf ihrer. Wie ein kaltes Insekt, und sie trat einen Schritt zurück, wandte sich ab und rief nur das eine Wort: »Far ...«
Im nächsten Augenblick besann sie sich. Sie hatte keinen Vater. Warum hatte sie nach ihm gerufen? Er war wie gestorben, und sie war allein in der sommerlichen Hitze, in einem fremden Land, die Gemahlin eines alten, kranken Mannes, und sie hatte sich vergessen.
Christine wandte sich langsam dem Herzog zu, versuchte, seine Augen zu sehen und was sie ausdrückten, konnte es aber nicht. Er verbeugte sich zu einem stummen, formellen Abschied und hinkte schwerfällig und mühsam zum Landhaus.
Später am Nachmittag ersuchte Graf Stampa um ein Gespräch.
Christine empfing ihn auf der Terrasse, und er überbrachte ihr Grüße des Herzogs, der ihn gebeten hatte, ihr zu sagen, welch aufrichtige Zuneigung er für seine junge Braut empfinde.
Christine erwiderte, daß sie ihrerseits die herzlichsten Gefühle für Euer Gnaden hege. Sie wollte noch mehr sagen, stockte aber und betrachtete den Mann, der den Herzog bei der Trauung vertreten hatte. Seinerzeit hatten sie über ihn gelacht, sie und Dorothea, über den korrekten Italiener, der sich immer ein wenig zu tief verbeugte, daß es schien, als verliere er das Gleichgewicht. Er hatte beim Altar auf sie gewartet; das war über ein halbes Jahr her, und sie hatte sich damals gefreut, einen solch langweiligen Mann heiraten zu müssen. Denn in Mailand wartete der richtige Bräutigam: der, mit dem sie in den Stand der Ehe getreten war, und Ehe bedeutete, von Gott einen Freund geschenkt zu bekommen, den besten, den man jemals im Leben bekommen würde.
Sein Haar und der Bart waren noch schwarz, die Haut von Sonne und Luft golden, und jetzt erzählte er von dem Unglück, das dem Herzog widerfahren war.
Vor vielen Jahren hatte ein Verrückter den Herzog auf der Straße überfallen und ihn mit einem vergifteten Messer niedergestochen. In allen Kirchen versammelten sich die Bürger Mailands und beteten für sein Leben, und Gott erhörte ihr Flehen. Das Haar des Herzogs wurde grau, und sein Gang erlahmte, aber die Untertanen bewunderten und liebten ihren Herzog um seines Großmutes und seiner Gerechtigkeit willen mehr den je.
Deshalb ...
Stampa schaute sie nachdenklich an und sagte:
»Deshalb errichten die Einwohner Mailands in diesen Stunden Ehrenpforten für die junge Braut des Herzogs, deshalb wartet jeder Mann, jede Frau und jedes Kind darauf, ihrer schönen, vornehmen Fürstin zu huldigen. Wir sind arm, wir wurden ausgeplündert, wir wissen, was Hunger ist, aber es wird an nichts gespart, um Euer Gnaden zu erfreuen und zu ehren, denn nur damit können wir den Herzog selbst ehren und erfreuen.«
Als sich Graf Stampa vor ihr verbeugte, um sich zu verabschieden, sah sie nichts Komisches an seinen Bewegungen. Sie blieb zurück mit dem Bewußtsein ihres Versprechens, das sie gegeben hatte – eine gute und gehorsame Ehefrau zu sein.
Das erwartete der Kaiser von ihr und ebenso ihre Tante, auch ihre tote Tante und ihre tote Mutter.
Christine wies ihre Damen an, sie allein zu lassen. Sie saß auf der Terrasse, bis sich die kühle Abendluft über den schönen Garten von Cussago legte und die Labyrinthe, die gestutzten Büsche und die Zitronenbäume in den Kübeln wieder lange Schatten warfen.
Als sich Christine endlich erhob, war sie kein Kind mehr. Mit einem Schritt hatte sie ein dunstiges Niemandsland betreten, das vor der Welt der Erwachsenen lag.
Ein Feuerwerk erhellte den Himmel über Mailand. Die Raketen versprühten weißen Sternenregen über das Volk. Neue Raketen schossen in den Himmel und machten die Nacht so laut und festlich, wie der Tag gewesen war.
Christine fühlte sich benommen, verwirrt und erschöpft von den Eindrücken. Alles war farbig, die Hausmauern rot, gelb und orange, die Menschen bunt gekleidet, der Adel in Gold und Silber, die wehenden Federbüsche, Standarten und Banner. Für einen kurzen Augenblick erkannte sie die Worte auf den großen Transparenten:
»Der weiseste Fürst ehelicht an diesem Tag die schönste Jungfrau und gibt uns das Versprechen ewigen Friedens.«
Es war drückend heiß, und Staub wurde von den Hufen der Pferde aufgewirbelt. Sie hatte lächelnd Tausende von Blicken erwidert, dunkle Kinderaugen und Frauen mit geschminkten Gesichtern und gelbem, gefärbtem Haar. Sie hatte den Geruch nach Schmutz, Knoblauch und feuchten Kalk eingeatmet, während sich das Läuten der Kirchenglocken und das Dröhnen des Kanonendonners vermischte mit dem »Viva, Viva ...« der Massen.
Christine war an diesem Tag kein Zuschauer. Sie war der Mittelpunkt, und die Welt um sie schaute zu. Während des abendlichen Banketts waren alle Augen auf sie gerichtet.
Bei jedem Gedeck hatte man die Serviette wie eine Krone gefaltet. Christine griff nach der ihren. Für einen Moment schien sich die Serviette zu bewegen, und als sie am Zipfel zog, flog ein kleiner, lebendiger Singvogel aus dem weißen Damast. Christine schrie vor Freude kurz auf, und im selben Augenblick hoben sich Hunderte von Singvögeln unter dem Jubel der Gäste in die Lüfte. Sie kreisten an der Decke und entschwanden schließlich durch die geöffneten Türen und Fenster in die Freiheit.
Wein aus der Toscana wurde in Gläser mit dem farbig emaillierten Wappen der Sforzas geschenkt. Christine kostete Früchte, von denen sie noch nie gehört hatte, und bekam vergoldete Pfaue serviert und Forellen in Silberglasur mit Scheiben eines roten Gemüses aus der neuen Welt, das jetzt in Süditalien angebaut wurde und Tomate hieß.
An Christines Seite saß am vornehmsten Platz der Herzog von Mailand. Er hatte sie vor dem Palast empfangen. Die Schlüssel der Stadt wurden ihr überreicht, während sie noch zu Pferd saß, und als sie abstieg, stürzte die Volksmenge vor, faßte nach dem Baldachin der Sänfte und zerriß ihn, um mit einem Fetzen des Stoffes eine Erinnerung an den Tag zu haben, an dem sie ihre Herzogin begrüßt hatten.
Beherrscht und ruhig reichte sie ihrem alternden Gemahl die Hand und wurde in eine riesige Zitadelle geführt. Er führte sie durch Säle und Gemächer. Sie spürte Freundlichkeit in der Stimme, als er sie den wichtigsten Personen des Hofes vorstellte, und ahnte sein Lächeln, als sie später ihre Verwunderung zeigte über die neuen Gerichte und vor Begeisterung bei jeder Rakete, die in die Luft geschossen wurde, nach Luft schnappte. Als der letzte weiße Sternenregen am Himmel erloschen war, führte er sie wieder zu den vornehmsten Damen und Herren, die bereitstanden, um das Paar in die Brautkammer zu geleiten, wo sie sich ihrer Kleider zu entledigen und in das Ehebett zu legen hatten.
In dem Augenblick kam die Angst wieder. Christine wußte, daß in der Ehe Tisch und Bett geteilt wurden, aber sie war nie mit einem Mann allein gewesen. Um sie herum waren stets Hofdamen, Zofen oder Gouvernanten gewesen. Christine hatte keine Gelegenheit, weiterzudenken, denn der Herzog sagte etwas auf italienisch, worauf sich die Damen und Herren Blicke zuwarfen und der Kardinal seinen Protest anmeldete.
»Aber die Franzosen«, jammerte der Kirchenmann, und seine rote Seide raschelte, als er vor seinen Fürsten trat.
»Die Franzosen!« wiederholte er, bis ihn der Herzog mit einer gebieterischen Bewegung zum Schweigen brachte.
Christine verstand nichts von dem, was vor sich ging. Sie beherrschte nur ein paar Worte Italienisch, was »Franchese« bedeutete, wußte sie, und der Antwort des Herzogs entnahm sie, daß es irgendwie um ein Kind ging. Der Kardinal vertrat eine Meinung, der Herzog eine andere. Schließlich wandte sich der Herzog ihr zu, führte ihre Hand an die Lippen und wünschte ihr eine gesegnete Nachtruhe.
Christine wurde in die Brautkammer geführt. Die Zofen lösten ihre Bänder, bürsteten ihr Haar und brachten Schüsseln mit Wasser. Sie war erschöpft, hätte am liebsten geheult, aber es gab niemanden, mit dem sie weinen konnte, und von der Stadt her erklang ein Rufen und Lärmen, hörte man Gesang und Musik. Die Zofen verneigten sich bis zum Boden, und die Hofdamen schlossen den Vorhang.
Christine schlief ihre erste Nacht in Mailand. Sie war allein, während die Stadt ihre Ankunft feierte.