Читать книгу African Boogie - Helmut Barz - Страница 10

Suitcase Blues

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»Bereit, jeden Tag im Kampf zu sterben, traten junge wie alte Samurai gepflegt auf, weil sonst ihr toter Körper auf dem Schlachtfeld vom Feind als schmierig erachtet worden wäre.«

So hieß es im Hagakure, dem Lehrbuch der Samurai.

Dieses Zitat raste in Katharinas Kopf herum, während sie zwischen ihrer Wäschekommode und der Reisetasche auf ihrem Bett hin und her hetzte, immer mehr Unterwäsche in die Tasche stapelnd. Endlich zwang sie sich innezuhalten.

Sie sah auf den seidenen Body in ihren Händen: Bereit im Kampf zu sterben? Ja. Aber nicht hinterrücks abgeknallt von einem Profikiller.

Sie hatte noch immer keinen Plan. Nur eine Reisetasche voller Unterwäsche. Und einen mit einem repräsentativen Querschnitt ihres Badezimmers gefüllten Kosmetikkoffer. Die drei Geräte mit den Geheimfächern für die Teile ihrer Waffe lagen obenauf. Doch ihre Pistole würde sie erst im letzten Moment verstauen.

Wo sollte sie hin? Was brauchte sie dazu?

***

In ihrer Wohnung angekommen, hatte sie als Erstes ihre große Keksdose genommen, in der sie ihre Pokergewinne aufbewahrte, und Kassensturz gemacht: etwas mehr als fünfzigtausend Euro.

Sie hatte das Geld – lauter gebrauchte Scheine – sortiert und in das Innenfach ihrer Handtasche gestopft. Ihr Notebook wanderte gleichfalls in ihre Handtasche: Sie würde es brauchen, um mit der Außenwelt in Kontakt zu bleiben.

Dann hatte sie die Akte aus ihrem Wohnzimmer-Safe geholt: die Fallakte zum Mord an ihrer Familie.

Sie hatte Lutz gebeten, ihre Reisetasche vom Schlafzimmerschrank zu fischen. Der große Leibwächter hatte ihr gerne den Gefallen getan. Dann war er zurück in die Küche gegangen, wo sein Partner Hans saß. Und vier missgelaunte BKA-Beamte, die Polanski zu Katharinas Schutz geschickt hatte, bis sie die Stadt verlassen konnte.

***

Die Reisetasche war zwar schon älter, aber wirklich benutzt worden war sie bisher nur zweimal: Katharina hatte ein halbes Jahr in den USA auf der FBI-Akademie in Quantico verbracht. Und dann damals, als sie als Austauschschülerin nach Südafrika geflogen und so dem Mörder ihrer Familie entgangen war. Aber vielleicht …

Vielleicht hätte sie damals das Schlimmste verhindern können. Ihrer Schwester den Mann ausreden. Die Verlobung. Die Schwangerschaft. Wenn Susanne etwas machte, dann richtig: verliebt, verlobt und schwanger in weniger als drei Monaten. Oder sie hätte sogar …

Unsinn! Was hätte ein sechzehnjähriges Mädchen gegen einen Wahnsinnigen mit einer Pistole schon ausrichten können?

Nicht grübeln! Nicht jetzt!

Katharina zwang sich, zu ihrer Wäschekommode zu gehen, um sie zu schließen. Doch dann entdeckte sie etwas: In der obersten Schublade, bisher gut unter ihrer Wäsche verborgen, lag ein Badeanzug, noch immer sauber mit Geschenkband verschnürt.

Sie nahm das Päckchen heraus und zog die Karte hervor, die unter dem Band steckte.

»Liebe Kaja! Viel Erfolg in Frankfurt. Mach auch irgendwann mal Urlaub! Und lern endlich schwimmen! Alles Liebe, Harry«

Harry. Harald Markert. Polizeihauptwachtmeister. Er war ihr Ausbilder gewesen. Mit ihm war sie in Kassel Streife gefahren. Obwohl erst in der zweiten Dreißiger-Hälfte, war er schon damals der nette Schutzmann von nebenan gewesen. Graue Strähnen in den Haaren. Vollbart. Bauchansatz. Stets gelassen: ein Fels in der Brandung.

Sie hatten sich angefreundet. Wohl auch, weil Harrys kleine Tochter Annika Katharina ins Herz geschlossen hatte. Das Mädchen hatte sie Kaja genannt. Harry hatte diesen Spitznamen übernommen.

Wie lange war das jetzt her? Mehr als zehn Jahre! Annika musste bald erwachsen sein.

Harry hatte Katharina immer mit ihrer großen Schwäche aufgezogen: Tiefes Wasser machte ihr Angst. Sie war sich sicher, dass irgendetwas sie packen, in die Tiefe ziehen und jämmerlich ertrinken lassen würde. Deshalb konnte sie nicht schwimmen.

Sie drehte den Badeanzug zwischen den Händen. Und vor ihrem inneren Auge formte sich der perfekte Plan: Sie wühlte ihre Sommergarderobe aus dem Schrank hervor und begann, sie in ihre Reisetasche zu stapeln. Auch den Badeanzug legte sie dazu. Man wusste ja nie.

***

Sie hatte gerade den großen Reißverschluss der Reisetasche zugezogen und mit einem kleinen Vorhängeschloss gesichert, als es klingelte:

Kurtz – zwei hübsche junge Asiatinnen im Schlepptau. Hundertprozentig ähnlich sahen sie Katharina nicht. Aber die Figuren und die Größen passten. In der winterlichen Dunkelheit würde es gehen.

Als die beiden Mädchen Katharina entdeckten, schnatterten sie erbost auf Kurtz ein.

Endlich sprach Kurtz ein Machtwort: »Nix Kollegin. Nix Konkurrenz.«

Die beiden Mädchen hielten überrascht inne.

»Ihr sollt … ihr mit was helfen«, versuchte Kurtz sich verständlich zu machen.

Nach einer kurzen Denkpause zwitscherte die eine, den Blick auf Katharina geheftet: »Ahhhh, Mädchen mit Mädchen!«

»Kostet extra!«, ergänzte die andere im gleichen Ton.

Das konnte ja heiter werden!

Doch Kurtz hatte sich schon an seinen großen Leibwächter gewandt: »Lutz, erklär es ihnen!«

Lutz neigte sich zu den beiden Mädchen und begann leise mit ihnen in ihrer Sprache zu reden. Sie hörten mit offenen Mündern zu.

Katharina war wider besseres Wissen erstaunt. »Lutz spricht … was eigentlich?«

»Mandarin.«

»Lutz spricht Mandarin?« Kaum zu glauben. Der bullige Mann war sehr einsilbig – wenn er überhaupt sprach.

»Lutz schweigt in acht Sprachen fließend. Englisch, Russisch, Spanisch, Französisch, Italienisch und … hab’ ich vergessen. Auf jeden Fall auch Mandarin.«

***

Was war das nur mit Frauen und Kleidern? Und mit Schuhen? Vor allem mit Schuhen?

Die beiden Mädchen hatten sich begeistert auf Katharinas Kleiderschrank gestürzt. Nur mit Mühe hatte Katharina ihnen ein schwarzes Samtkleid und ihr Leder-Outfit entreißen können. Auch um ihre hohen Stiefel hatte es ein kurzes Tauziehen gegeben. Jetzt standen die beiden vor ihr – tief enttäuscht, aber passend gekleidet: Jeans, Sweatshirt mit Kapuze, schwarze Halbschuhe.

Auch Katharina hatte sich umgezogen. Sie trug einen Anzug, Anthrazit mit Nadelstreifen, zu dem sie ihr Partner Thomas einmal überredet hatte, eine schlichte weiße Bluse, ein schmales Halstuch. Ihr Haar hatte sie zu einem Dutt hochgesteckt. Außerdem trug sie eine Brille mit eckigem, schwarzem Gestell. Nicht, dass sie eine Sehhilfe brauchte. Die Fassung enthielt nur Fensterglas. Doch die Brille leistete ihr gute Dienste, wenn sie besonders seriös auftreten musste. Wie zum Beispiel diesmal. Schließlich war sie laut ihren neuen Papieren »Zoë Yamamoto, Halbjapanerin, Geschäftsfrau«.

Katharina betrachte sich im großen Spiegel an der Tür ihres Schlafzimmerschrankes: Ja, so konnte sie gehen.

Die Flucht konnte beginnen.

***

Gemeinsam löschten sie alle Lichter. Dann setzte sich der erste Trupp in Bewegung. Die BKA-Beamten hatten sofort bessere Laune bekommen, als sie erfahren hatten, was sie tun sollten: Betont militärisch und auffällig stiegen die Beamten und eines der Mädchen in den vor dem Haus bereitstehenden SUV – schweifende Blicke, Hände an den Waffen, kryptische Handzeichen. Der Wagen setzte sich in Bewegung. Ein am Straßenrand geparktes Auto startete und fuhr ihnen nach.

Fünfzehn Minuten später verließen Kurtz, Hans und Lutz mit dem zweiten Mädchen die Wohnung. Leise huschten sie die Treppe hinunter, schlichen verstohlen zu Kurtz’ Maybach, stiegen unauffällig hinein und fuhren ebenfalls ab. Diesmal war es ein Motorrad, das aus einer Hauseinfahrt bog und ihnen folgte.

Katharina wartete noch eine halbe Stunde, die Straße von ihrem Schlafzimmer-Fenster aus im Blick. Ein Mann, der im Halbschatten zwischen zwei Straßenlaternen an einer Hauswand gelehnt und geraucht hatte, trat seine Zigarette aus und ging. Dann passierte nichts mehr.

Zeit zum Aufbruch.

Hans hatte bereits ihre Reisetasche und den Kosmetikkoffer zum auf dem Nachbarhof wartenden Fluchtauto gebracht. Katharina hängte sich ihre Handtasche über die Schulter. Ihre Pistole nahm sie in die Hand.

Sie schlich die Treppe hinunter, ohne das Licht anzuschalten, und glitt durch die Verbindungstür zum Keller des Nachbarhauses. Bevor sie auf den Hof trat, sah sie sich noch einmal um. Keine Menschenseele zu sehen.

***

Die Türen des alten, roten Golfs waren offen, der Schlüssel steckte in der Zündung. Katharina stieg ein und legte die Pistole griffbereit auf den Beifahrersitz. Langsam ließ sie den Wagen aus der Einfahrt auf die Straße rollen, als von links ein Auto kam. Der Fahrer bremste ab und blinkte höflich mit der Lichthupe: Sie möge doch fahren.

Der Wagen blieb eine ganze Weile hinter ihr. Ein Verfolger? Als sie auf die Friedrich-Ebert-Anlage einbog, verschwand der Wagen im Verkehr.

Dennoch: Sicher war sicher. Sie würde das Verkehrsmittel noch einmal wechseln. Anstatt in Richtung Stadtautobahn abzubiegen, fuhr sie weiter geradeaus zum Hauptbahnhof.

***

Katharina steuerte den Wagen in die Tiefgarage an der Nordseite des Bahnhofs. Sie entschied sich, endlich einmal die Frauen-Bonuskarte auszuspielen – etwas, das ihr ansonsten zuwider war – und auf dem Frauenparkplatz in der Nähe des Ausgangs zu parken. Dort fand sich tatsächlich auch noch eine freie Parklücke: Sie zwängte den Golf zwischen zwei BMW X3, auf deren Rückscheiben Aufkleber verkündeten, sie hätten Xander-Olivier beziehungsweise Clarrisa-Franzi an Bord.

Sie nahm ihr Gepäck aus dem Kofferraum, ließ ihre Pistole in der Manteltasche verschwinden und legte den Autoschlüssel unter den Fahrersitz. Kurtz würde den Wagen schon finden.

Als aus dem Halbdunkel der Tiefgarage ein Mann auftauchte, ließ Katharina ängstlich die Hand in die Manteltasche gleiten. Doch der Mann ging an ihr vorüber. Offenbar wollte er nur zum Ausgang. Als er fast schon an ihr vorbei war, dreht er sich doch zu ihr um: ein Südländer. Mittelgroß. Verdammt!

Katharina wollte schon ihre Pistole ziehen, als der Mann freundlich fragte: »Brauchst du konkret Hilfe oder was?«

Er zeigte auf ihre Reisetasche.

Katharina zwang sich zu einem höflichen Lächeln, während sie den Griff ihrer Pistole fest umklammert hielt. Sie verneinte und deutete mit einem Kopfnicken auf die Tasche: »Hat Räder!«

»Sorry ey, hab’ ich dich erschreckt oder was?«

Katharina schüttelte den Kopf. Der Mann brummte etwas Unverständliches, drehte sich um und ging durch die Stahltür des Ausgangs.

***

Auf den Bahnsteigen herrschte Trubel wie immer. Katharina tauchte in die Menge ein: eine Reisende unter vielen. Und unter lauter mittelgroßen Südländern. Wie sagte man doch? Es ist keine Paranoia, wenn wirklich jemand hinter dir her ist.

Scheinbar ziellos wanderte sie an den Geschäften vorbei, um etwaige Verfolger zu verwirren. An einem Stand kaufte sie einen Kaffee. Dann schlenderte sie langsam zum Eingang des Tiefbahnhofs. Sie fuhr die Rolltreppen hinab zu den S-Bahngleisen. Eine S8 fuhr eben ein. Katharina stieg ein, blieb aber mit ihrem Gepäck neben der Tür stehen. Ihr fiel ein, dass sie gar keinen gültigen Fahrschein hatte: Mit ihrem Polizeiausweis hatte sie sonst freie Fahrt. Doch der lag in ihrem Tresor – ebenso wie all ihre anderen echten Papiere. Hoffentlich kam keine Kontrolle.

***

Im Terminal 1 des Frankfurter Flughafens herrschte Hochbetrieb. Menschen mit Koffern eilten an Katharina vorbei, vor den Check-in-Schaltern warteten Reisende in langen Schlangen auf ihre Abfertigung. Das hieß, dass sie eine gute Chance hatte, an diesem Abend noch einen Flug zu ergattern. Wenigstens etwas.

Der Mann auf dem etwas erhöhten Infostand schaute genervt auf, als Katharina auf ihn zumarschierte. Deshalb setzte sie ihr freundlichstes Lächeln auf: »Sagen Sie, hier gibt es doch irgendwo ein Last-Minute-Reisebüro, oder?«

Erstaunlicherweise lächelte der Mann zurück. Vermutlich war er froh, sich nicht mit Beschwerden, verlorenen Kindern oder gestohlenem Gepäck rumärgern zu müssen.

»Da hammwa sogar zwei von. Das da ist ganz neu.« Er deutete zu einer Seite der Halle. Dort leuchtete ein rotes Neonschild: Last-Minute Tours. »Aber wennse ’nen Tipp wollen?«

Katharina nickte höflich.

»Dann gehnse am besten zum andern. Da machense wirklich ein Schnäppchen.« Er zog einen Plan des Terminals hervor und kreuzte mit seinem Kugelschreiber an, wo das Reisebüro lag. Katharina nahm den Plan und bedankte sich.

***

»Buchen bis zur letzten Minute. Und dann ganz schnell raus aus der Stadt!«, stand auf dem Schaufenster. Katharina betrat das kleine Ladengeschäft. In den Regalen stapelten sich die Reiseprospekte bis zur Decke.

Hinter einem verkramten Schreibtisch saß ein blondes Mädchen, vielleicht Anfang zwanzig. Sie strahlte, als sie Katharina hereinkommen sah, und deutete auf den Besucherstuhl.

»Was kann ich für Sie tun?«

»Ich, ich … brauche eine Reise.«

Das Mädchen war wohl an solch vage Angaben gewöhnt: »Hm, ich verstehe. Ganz schnell raus aus der Stadt, wie? Haben Sie ein bestimmtes Ziel im Kopf?«

Was sollte sie darauf antworten? Irgendwohin, wo mich kein Profikiller findet? »Vielleicht … irgendwohin, wo schönes Wetter ist? Sonne? Und Meer?«

Das Mädchen nickte verständig: »Das lässt sich machen. Und wann?« Dann entdeckte sie Katharinas Gepäck. »Möglichst bald, oder? – Na, dann wollen wir mal schauen!« Sie tippte auf der Tastatur ihres Computers. »Hm, Kenia. Aber erst in drei Tagen. Seychellen übermorgen. Kolumbien ginge heute noch.«

In die Höhle des Löwen? Direkt in das Land des Menschen, der ihr Rache geschworen hatte? Keine gute Idee. »Nein, nicht Südamerika.«

»Gut. Also nicht Südamerika … was haben wir denn noch?« Das Mädchen schaute wieder auf den Schirm. Plötzlich rief sie begeistert: »Mafia!«

Katharinas Gesicht wurde eiskalt. Zitternd tastete sie nach der Pistole in ihrer Manteltasche.

Doch das Mädchen fuhr fort: »Mafia Island! Absoluter Geheimtipp. Ein richtiges Tropenparadies!«

Katharina zwang sich zum Durchatmen. »Wo ist das denn?«

»Vor der Küste von Tansania. Eine knappe Flugstunde von Dar es Salam. Traumhaft schön. Und das Resort ist ganz neu. Hat erst im März aufgemacht. Fünf Sterne. Und dafür supergünstig.«

»Das klingt doch gut.«

»Und wie lange wollen Sie bleiben?«

Ja, wie lange? Wie lange würde der Mann mit den Eukalyptuspastillen brauchen, Felipe de Vega davon zu überzeugen, Ministro zurückzupfeifen? Sicher war sicher.

»Am liebsten sechs Wochen!«

»Sechs Wochen!« Dem Mädchen blieb der Mund offen stehen.

»Ja, ich habe schon seit einer Ewigkeit keinen Urlaub mehr gehabt«, erklärte Katharina schnell.

»Und Sie wollen eine Weile von der Bildfläche verschwinden, oder?« Das Mädchen musterte sie kritisch. »Beziehungsstress?«

»Wie kommen Sie da drauf?«

»Na ja, mir ist aufgefallen, dass Sie … da am Auge …«

Oh Hilfe, daran hatte Katharina gar nicht mehr gedacht: Sie hatte ja bei ihrem letzten Fall ein paar Blessuren davongetragen. Nachdenklich betrachtete sie ihre verbundene Hand: eine Schnittwunde. Selbst zugefügt, als sie eine große Scheibe eingeschlagen hatte.

Und das Veilchen hatte sie sich eingefangen, als der Mörder, gegen den sie ermittelte, sie überwältigt hatte. Beinahe hätten er und sein Partner sie umgebracht. Wenn Andreas Amendt nicht rechtzeitig zu Hilfe gekommen wäre. War das wirklich erst gestern gewesen?

»Na ja, es geht mich ja auch nichts an«, entschuldigte sich das Mädchen eilig.

Doch Katharina hatte eine Idee, für die sie sich gleich darauf schämte: Wie oft hatte sie schon in irgendwelchen Küchen, Schlafzimmern oder Wohnungsfluren gestanden – über eine Leiche gebeugt, der Mann oder der Freund der Toten in Handschellen im Streifenwagen, immer noch fassungslos von seiner eigenen Tat?

Dennoch war das der einzige Weg, das Mädchen zum Schweigen zu überreden. »Ja. Ich habe mich getrennt. Carlos hat das nicht so gut verkraftet und …« Sie deutete auf ihre Wange.

»Das kenne ich leider auch. Trennung ist da wirklich das Beste«, sagte das Mädchen mitleidig.

»Stimmt. Und deswegen will ich jetzt auch ein paar Wochen weg. Untertauchen, bis er sich beruhigt hat.«

Das Mädchen wandte sich dem Computer zu: »Dann wollen wir mal! – Doch, sechs Wochen sind kein Problem. Und Sie können auch vor Ort bequem verlängern, wenn Sie das wollen. Vollpension?«

Katharina bejahte.

»Also: Der Flug mit der Lufthansa geht morgen früh um sieben Uhr fünfunddreißig und –«

»Gibt es keinen früheren?«

»Oh je. Mal schauen.« Das Mädchen befragte wieder ihren Computer. »Also direkt nach Dar es Salam nicht … Oder, warten Sie, doch: Emirates Airlines mit einem Zwischenstopp in Dubai. Der Weiterflug ist aber die gleiche Maschine. Der geht um zehn nach neun, also in einer knappen Stunde. Das sollten Sie schaffen. Aber, Moment …«

»Ja?«

»Der Flieger ist fast ausgebucht. Da ist nur noch ein Platz in der ersten Klasse.«

»Was kostet das Ganze denn dann?«

Das Mädchen nannte ihr eine exorbitante Summe. Dennoch nicht mal ein Viertel dessen, was Katharina in ihrer Handtasche mit sich trug. Doch, das konnte sie sich leisten. »Den nehme ich!«

»Sehr schön.« Das Mädchen strahlte wieder. Kein Wunder, denn sie hatte vermutlich gerade eine fette Provision verdient. »Dann brauche ich Ihren Pass.«

Katharina gab ihn ihr und das Mädchen begann zu tippen.

»Gut, Frau Yamamoto …«

Frau Yama … Ach ja, richtig, ihr Tarnname. Katharina musste sich schnell daran gewöhnen, so genannt zu werden.

»Wie wollen Sie zahlen?«, fragte das Mädchen.

»Bar. Wenn Sie nichts dagegen haben.« Katharina öffnete ihre Handtasche, zog den Reißverschluss des Innenfachs auf und entnahm ein Bündel Geldscheine.

»Nein, nein. Das ist kein Problem«, das Mädchen wurde misstrauisch, »nur ungewöhnlich. Das ist doch kein …?«

Schnell, eine Ausrede! Katharina sagte das Erste, was ihr durch den Kopf schoss: »Nein, kein Falschgeld. Keine Sorge. Ich … nun ja, ich habe mich für das Veilchen gerächt und Carlos’ nagelneuen Porsche verkauft. Pech, wenn er ihn aus steuerlichen Gründen auf mich eintragen lässt.«

Das Mädchen stimmte mit einem verschwörerischen »Wir Frauen müssen zusammenhalten«-Grinsen zu: »Richtig. Pech.«

Katharina zählte den Betrag ab. Das Mädchen nahm das Geld und verschloss es in einer Kassette. Dann gab sie Katharina einen Umschlag mit ihren Reiseunterlagen. Katharina verstaute ihn in ihrer Handtasche und wollte aufstehen.

»Moment!« Das Mädchen durchsuchte die Regale, bis sie endlich drei Prospekte hervorzog, die sie Katharina reichte: »Damit Sie auch wissen, wohin Sie fliegen.« Tansania, Mafia Island … und ein Prospekt, der »Golden Rock. Das Paradies in der Brandung« betitelt war.

»Golden Rock ist das Resort. Sie werden einen echten Traumurlaub haben! Erholen Sie sich gut.«

Das Mädchen gab Katharina die Hand. Dann öffnete sie ihr die Tür. Katharina nahm ihr Gepäck und ging hinaus. Dann drehte sie sich noch einmal zu dem Mädchen um: »Ach ja, wenn jemand nach mir fragen sollte … vor allem ein mittelgroßer Südländer …«

»Jaja, die hitzigen Südländer. Ich kenne das. Keine Sorge, ich werde schweigen wie ein Grab.« Das Mädchen deutete an, wie sie einen Reißverschluss über ihrem Mund zuzog.

Grab. Dort konnte es für das Mädchen leicht enden. Ministro war bestimmt nicht besonders rücksichtsvoll bei der Informationsbeschaffung. Hoffentlich hatte er ihre Spur verloren.

***

Katharina ging mit zügigen Schritten los. Doch wohin musste sie eigentlich? Eine Anzeigetafel verriet es ihr: »Emirates Airlines Flug 2804. Dubai / Dar es Salam. Departure Time 21:10. Terminal 2. Gate 13.«

Terminal 2. Das bedeutete, das Gebäude zu wechseln. Frankfurt Airport, der Flughafen der kurzen Wege. Sie fuhr mit der Rolltreppe eine Etage nach oben zur Station der Skyline genannten Magnetbahn, die die beiden Terminals miteinander verband.

***

Am Bahnsteig stand bereits eine Bahn.

Ein Mann sah, wie Katharina ihre Schritte beschleunigte, und stellte den Fuß in die automatische Tür, damit sie noch einsteigen konnte. Er hob ihr auch die Reisetasche in die Kabine. Katharina bedankte sich. Der Mann winkte ab und wandte sich dann wieder seiner Begleitung zu, einer jungen Frau mit langen, blonden, gelockten Haaren. Hübsches, rundliches Gesicht. Auf der Nase das gleiche eckige Designer-Brillenmodell, das auch Katharina im Moment trug. Es passte eigentlich gar nicht zu dem Mädchen.

Das Blondlöckchen wuschelte ihrem Begleiter über die kurzen Haare: »Immer galant und hilfsbereit, Dirk-Marjan!«

Der Mann – schlank, Dreitagebart, dunkelblondes Haar, vielleicht ein bisschen zu bemüht, gut auszusehen – winkte ab: »Ach, du weißt ja, Kristina. Was du willst, dass man dir tut …«

Die Bahn setzte sich in Bewegung. Die Frau nutzte die Gelegenheit, die Balance zu verlieren und sich von ihrer Begleitung auffangen zu lassen.

»Hinein in deine starken Arme, mein Ritter!«, dachte Katharina und verkniff sich ein Lachen.

Der Mann stellte die Frau wieder aufrecht hin. Sie strahlte ihn an: »Danke. Und das mit dem Early Check-in ist eine prima Idee von dir. Dann brauchen wir uns morgen nicht so abzuhetzen und mit dem ganzen Gepäck abzuschleppen. Wusste gar nicht, dass das geht.«

»Na ja, ich mache das immer so, wenn es möglich ist.«

»Und du hättest wirklich keine zwei Einzelzimmer nehmen müssen. Wir sind doch gut genug befreundet.«

Wie? Die beiden waren kein Paar?

»Wir hätten uns wirklich ein Zimmer teilen können. Wo das Sheraton hier am Flughafen doch so teuer ist«, fuhr die Frau fort. Sie war einen kleinen Schritt an ihren Begleiter herangetreten, doch der reagierte nicht. Vielleicht schwul, dachte Katharina. Vom Aussehen her kam es hin.

»Ach, erstens kann ich mir das leisten. Und zweitens ist die Reise umsonst, wie du weißt«, antwortete er gönnerhaft.

»Und du hast wirklich noch immer keine Ahnung, wer dir die Tickets geschickt hat?«, fragte die Frau mit großen, staunenden, blauen Augen.

»Nein. War nicht mal ein Begleitschreiben dabei.«

»Das ist bestimmt ein Trick. Die sind bestimmt von einer schönen Frau, die dich auf eine einsame Insel locken will –«

»Kristina, du liest zu viele Krimis. – Ich wette mit dir: Da sucht ein Projekt Investoren. Vermutlich so eine neue Ferienanlage. Oder eines von diesen Timesharing-Modellen.«

Davon hatte auch Katharina schon gehört: Man investierte in eine Immobilie und konnte sie dafür einen Teil des Jahres nutzen.

Die junge Frau lachte eine Nuance zu laut: »Bist du denn so wohlhabend? Hast du im Lotto gewonnen?«

»Nicht direkt, aber ich habe einige gute Aufträge in der Pipeline. Seitdem ist auch meine Bank ständig mit Investment-Plänen hinter mir her. – Aber ich habe bisher nur etwas Gold gekauft.«

Die junge Frau sah unwillkürlich auf den leeren Ringfinger an ihrer rechten Hand.

»Ach, können wir noch an einem Buchladen vorbei, wenn wir das Gepäck losgeworden sind?«, fragte sie viel zu fröhlich.

»Lass mich raten, Krimis kaufen?« Jetzt war es der Mann, der der Frau über die Haare strich. Es sah ein wenig grob aus, doch die Frau schloss die Augen und schmiegte sich in die Hand.

Dann ließ der Mann los. Gleichzeitig öffnete die Frau die Augen wieder: »Klar. Was denn sonst?«

***

Auf dem Skyline-Bahnsteig im Terminal 2 trennten sich ihre Wege. Der Mann hob Katharina noch die Tasche aus der Kabine, was die Frau mit einem verschwörerischen »Mein Ritter!« in Katharinas Richtung quittierte.

Katharina sah den beiden nach. Früher hatte sie Frauen immer belächelt, die unwillige Männer umschwärmten. Doch jetzt? Schließlich hatte sie sich ebenfalls in den falschen Mann verliebt. So was von falsch. Mörderisch falsch. Seufzend machte sie sich auf den Weg ins Terminal.

***

Am Fuß der Rolltreppe passierte sie eine Toilette: Genau, was sie jetzt brauchte. Rasch ging sie hinein. Der Raum war leer, keine Kabine besetzt. Sie sah sich um. Keine Videoüberwachung. Sehr gut.

Katharina schloss sich mit dem Kosmetikkoffer in einer Kabine ein und zog ihre Pistole aus der Manteltasche: Eine handgefertigte Stockert&Rohrbacher Modell 1, die ihr Antonio Kurtz zum Geburtstag geschenkt hatte. Auf dem Schlitten war das Wort »Killer Queen« eingraviert. Und auf dem Griff prangten zwei goldene Kerben für die beiden Drogendealer, die sie in Notwehr erschossen hatte. Und um ihren Partner Thomas zu rächen, der in der gleichen Schießerei ums Leben gekommen war. Dummerweise war einer der beiden Drogendealer Miguel de Vega gewesen. Sohn von Felipe de Vega. Und deshalb war sie jetzt auf der Flucht.

Rasch zerlegte Katharina die Waffe. Dann verstaute sie die Einzelteile sorgfältig in den dafür vorgesehenen Geheimfächern. Sie drapierte den Gurken-Vibrator so, dass er gut sichtbar obenauf lag. Das sollte lästige Nachfragen beim Zoll ganz schnell unterbinden. Dann schloss sie den Kosmetikkoffer sorgfältig ab und verließ die Kabine wieder.

Sie wusch sich vorsichtig die Hände, um den Verband nicht zu beschädigen und sah in den Spiegel. Im Neonlicht trat ihr Veilchen wirklich deutlich hervor. Komisch, das war ihr zu Hause gar nicht aufgefallen. Kein Wunder, dass die Blondmaus im Reisebüro seltsame Schlüsse zog. Rasch nahm sie ihre Puderdose aus der Handtasche und versuchte, die Schäden abzudecken. Besser als gar nichts.

Die Tür zur Toilette wurde aufgerissen. Katharina griff in ihre Manteltasche. Wo war …? Verdammt, ihre Waffe hatte sie eben zerlegt. Katharina stellte einen Fuß vor. Kampfposition. Ministro würde auch so sein blaues Wunder erleben.

Doch es kam nur eine Frau in die Toilette gestürmt. Sie rannte schnurstracks in eine Kabine, schlug die Tür zu, ließ den Riegel einschnappen.

»Nie wieder Fisch im Flugzeug!« Würgen. Erbrochenes, das in eine Kloschüssel platschte. Oh Gott, so fangen Katastrophenfilme an.

Katharina konnte nicht anders. Sie klopfte an die Kabinentür. »Geht es Ihnen gut? Brauchen Sie Hilfe?«

Einmal freundlich helfende Staatsmacht, immer freundlich helfende Staatsmacht. Polanski, der ihr immer vorwarf, sie sei zwar eine ausgezeichnete Ermittlerin, aber keine gute Polizeibeamtin, wäre stolz auf sie.

»Nein«, kam es zurück. »Jetzt ist alles draußen.«

»Wirklich nicht? Ich kann den ärztlichen Dienst rufen.«

»Wirklich nicht. Ist nur … morgendliche Übelkeit. Sie wissen schon. Verdammte Zeitverschiebung.«

Aha, die Frau war schwanger. »Ganz sicher?«

»Ganz sicher. Geht gleich wieder. Ich mache das schon eine Weile.« Wieder Würgen und Platschen. »Und das war das Abendessen. Das müsste es jetzt aber wirklich gewesen sein. Gehen Sie ruhig.«

»Okay.« Wenn die Frau es so wollte. Katharina nahm ihr Gepäck und verließ die Toilette. Erst jetzt merkte sie, dass ihre Beine zitterten. Es ist keine Paranoia, wenn wirklich jemand hinter dir her ist …

***

Am Emirates-Schalter stand eine endlose Schlange. Verdammt. Hoffentlich schaffte sie das rechtzeitig. Aber …

Einer der Schalter war leer. Über dem Schalter stand »First Class«.

Doch! Damit war sie gemeint. Vergnügt spazierte sie an den neidischen Blicken der Wartenden vorbei, während sie den Umschlag mit den Reiseunterlagen hervorzog. Die Schönheit aus Tausendundeinernacht, die hinter dem Schalter stand, nahm Ticket und Reisepass entgegen, tippte auf ihrem Computer, sah Katharina wieder an und sagte etwas. Das Einzige, was Katharina verstand, war das Wort Yamamoto.

»Ich … äh … könnten Sie noch einmal …«

Der Blick der Schönheit kühlte ab. »Ich habe Sie gefragt, wo Sie sitzen möchten. Am Fenster oder am Gang?«

»Verzeihung, aber ich spreche kein Arabisch.«

»Ich hatte Sie auf Japanisch gefragt«, sagte die Schönheit hochnäsig.

»Oh!« Was jetzt? Okay, die ungefähr hundertste Notlüge an diesem Tag. »Ich spreche auch kein Japanisch. Ich … ich bin in Deutschland aufgewachsen.«

»Aha!«, sagte die Schönheit herablassend. »Also? Wo möchten Sie sitzen? Gang oder Fenster?«

»Fenster bitte.«

»Aber gerne«, kam es frostig zurück. »Stellen Sie bitte Ihr Gepäck auf das Band.«

Katharina gehorchte. Endlich gab die Schönheit ihr den Boarding-Pass, während ihre Reisetasche und der Kosmetikkoffer auf dem Laufband davonfuhren. Hoffentlich war beides jetzt nicht auf dem Weg nach Wladiwostok.

***

Passkontrolle, Sicherheitsschleuse, Gate, Boarding, Abflug – noch fünf Stationen bis zur Sicherheit!

Katharinas Herz schlug bis zum Hals, ihr Mund war trocken und ihre Hände feucht. Sie ging zielstrebig und schnell, ohne nach rechts und links zu schauen und –

Sie prallte gegen etwas, stolperte, fiel hin. Der Inhalt ihrer Handtasche ergoss sich über den Fußboden. Ein starker Arm packte sie.

Verdammt! Sie hatte nicht aufgepasst. Jetzt würde sie die Quittung bekommen: die Schärfe eines Messerstichs, den harten Schlag eines schallgedämpften Schusses, den Stich einer Spritze.

Doch eine sanfte Stimme neben ihr sagte nur: »Um Himmels willen, das tut mir leid.«

Der Mann, mit dem sie zusammengeprallt war, kniete neben ihr und fasste sie an der Schulter.

»Haben Sie sich wehgetan?« Er blickte sie besorgt an. Fein geschnittenes Gesicht. Graue Haare, gepflegter Vollbart. Freundliche graue Augen. Einen kurzen Augenblick stutzte Katharina, von einem Déjà-vu gepackt. Sie meinte, die Augen zu kennen. Doch woher? Sie musste sich täuschen.

Der Mann reichte ihr die Hand und half ihr aufzustehen: »Es tut mir wirklich entsetzlich leid. Wo habe ich heute nur meine Augen?«

»Kein Problem. Ich war ja auch abgelenkt.« Katharina bückte sich nach ihrer Handtasche. Die Prospekte und der Umschlag mit ihren Reiseunterlagen waren herausgerutscht. Und sonst noch ein paar Kleinigkeiten. Sie wollte alles wieder in die Tasche stopfen.

»Erlauben Sie?« Der Mann sammelte die Reiseprospekte auf, während Katharina hektisch die Kosmetikartikel und das Reserveset Unterwäsche verschwinden ließ. Beim Aufrichten stießen sie beinahe wieder gegeneinander. Katharina stolperte zurück, doch der Mann packte sie noch einmal am Arm und fing sie auf. Dafür, dass er nicht besonders groß war, war er ziemlich kräftig.

Der Mann reichte ihr die Prospekte und den Umschlag: »Sie fliegen nach Tansania? Mafia Island? – Eine Trauminsel! Ich bin übrigens auch –«

»Ja, ja, danke«, schnitt Katharina ihm das Wort ab. Sie nahm die Unterlagen und schob sie zurück in ihre Handtasche. Sie wollte endlich weitergehen.

»Guten Flug. Und Gott sei mit Ihnen.«

Erstaunt über diesen frommen Wunsch drehte sich Katharina noch einmal zu dem Mann um. Erst jetzt bemerkte sie, dass er unter seinem Jackett ein schwarzes Hemd mit Priesterkragen trug.

Er nickte ihr noch einmal zu: »Adeus!«

Dann ging er in Richtung der Rolltreppen davon.

Gute Figur, dachte Katharina unwillkürlich. Sie musste hysterisch kichern: Südländer. Mittelgroß. Und war »Ministro« nicht auch das spanische Wort für Priester? Katharina war sich sicher, dass der Mann nicht einmal Hölle, Feuer und Schwefel predigen konnte. Geschweige denn regnen lassen.

***

Die Schlange vor der Passkontrolle war kurz. Gott sei Dank. Die Uniform des Beamten hinter dem Schalter ließ Katharinas Herz wieder bis zum Hals schlagen. Bundespolizei! Wenn er sie nun erkannte? Doch er blickte nicht mal auf. Er nahm ihren Pass, blätterte, ohne darin zu lesen und reichte ihn zurück. »Guten Flug.«

Katharina dankte knapp und ging weiter.

Sie legte ihre Handtasche und den Mantel auf das Laufband der Sicherheitsschleuse. Dann ging sie durch den Metalldetektor, der nicht anschlug. Entsprechend behutsam wedelte sie der Mann hinter dem Detektor mit seinem Handprüfgerät ab und winkte sie weiter.

Sie trat an das Laufband hinter dem Röntgengerät. Aus dem Augenwinkel sah sie, wie eine rote Lampe neben dem Schirm blinkte. Was war denn?

Eine Beamtin stoppte Katharinas Gepäck. »Tut mir leid, ich muss einen Blick in Ihre Handtasche werfen.«

Katharina wusste, dass jede Widerrede die Prozedur nur verlängern würde. Außerdem hatte sie nichts Kompromittierendes dabei. Oder doch?

Die Beamtin zog das Notebook hervor: »Würden Sie den Computer bitte kurz anschalten?«

Ach ja, richtig: Notebooks galten als gute Verstecke für Sprengstoff. Also nahm Katharina das Gerät aus seiner Hülle, klappte es auf und drückte eine Taste. Der Rechner erwachte zum Leben. »Auch einloggen?«

»Nicht nötig.«

Während Katharina den Computer abschaltete und zuklappte, warf die Beamtin noch einen kritischen Blick auf das Röntgenbild. Katharina beugte sich vor, um selbst zu sehen, was die Beamtin betrachtete: einen hellen Fleck am Boden der Handtasche. Hilfe, das hatte sie ja völlig vergessen.

»Warten Sie, ich kann das erklären.« Katharina griff in die Handtasche und öffnete zwei Sicherheitsnadeln; dann zog sie den eingelegten Boden der Handtasche hervor: zwei dünne Stoffbahnen, in die mehrere Reihen Bleigewichte eingenäht waren. Sie reichte den Boden der Beamtin, die ihn misstrauisch zwischen den Fingern drehte: »Was ist das denn?«

Ja, was? Am besten die Wahrheit. Na ja, die halbe Wahrheit. »Ein Bleiboden. – Wissen Sie, äh …?«

Mit einer kalkulierten Geste, die hoffentlich trotzdem zufällig aussah, wischte sich Katharina über das Gesicht. Sie hoffte, den eben aufgetragenen Puder abzuwischen und ihre Blessuren wieder zum Vorschein kommen zu lassen.

»Das ist so. Ich … mein Ex-Freund …«

Die Beamtin hob wissend die Hand: »Verstehe. – Ich hoffe, Sie haben dem Kerl mit der Handtasche ordentlich eins übergezogen.«

»Nein, ich –«

»Häusliche Gewalt ist kein Kavaliersdelikt, wissen Sie? Haben Sie Anzeige erstattet?«, fragte die Beamtin fürsorglich-streng.

»Nein, ich …« Katharina schämte sich. Genau diese Frage würde sie auch stellen.

»Das sollten Sie aber. – Warten Sie.« Die Beamtin zog ihre Brieftasche hervor und nahm eine Visitenkarte heraus. »Die hier können Ihnen weiterhelfen.«

Eine Karte vom »Weißen Ring«. Katharina hatte solche Karten selbst schon oft verteilt.

»Aber Sie verstehen, dass Sie das hier nicht mit ins Flugzeug nehmen dürfen?« Die Beamtin hielt den Boden in die Höhe.

»Klar. Ich habe auch nur vergessen, ihn herauszunehmen. Könnten Sie …?«

»Natürlich.« Die Polizistin warf den Boden in einen bereitstehenden Container und wandte sich dem nächsten Fluggast zu.

***

»Meine Damen und Herren, eine Durchsage für den Flug Emirates Airlines 2804 nach Dubai und Dar es Salam: Leider verzögert sich das Boarding um etwa zwanzig Minuten. Wir bitten Sie um etwas Geduld und danken für Ihr Verständnis. – Ladies and Gentlemen, the boarding of flight Emirates Airlines 2804 …«

Verdammt! Noch eine Verzögerung!

Katharina zwang sich zur Ruhe. Sie war im Sicherheitsbereich des Flughafens. Die Dichte von mittelgroßen Südländern um sie herum hatte deutlich abgenommen. Sie nahm die unbequeme Brille ab und verbannte sie in die Handtasche. Vor einem spiegelnden Schaufenster zog sie die beiden Essstäbchen heraus, die ihren Haarknoten zusammenhielten. Sie schüttelte ihre Haare aus, dann band sie sich einen Pferdeschwanz. Das war doch gleich sehr viel bequemer.

Sie stutzte: War es leichtsinnig, jetzt schon so viel von ihrer Verkleidung abzulegen? Andererseits: Wer sollte sie hier noch erkennen?

***

»Guck mal, das ist ja Katharina!«

Katharinas Herz tat einen mächtigen Satz. Doch die Stimme war jung … und klang vertraut. Das war …

Laura! Tatsächlich! Das kleine Mädchen, das sie zehn Tage beherbergt hatte, nachdem ihre Mutter getötet worden war, kam freudestrahlend auf sie zugesprungen, ihren Vater, Tom Wahrig, an der Hand hinter sich her schleifend. Was machten die denn hier?

Katharina konnte trotzdem nicht anders. Sie ging in die Hocke und ließ zu, dass das Mädchen ihr um den Hals fiel. Schließlich hatten sie eine Menge miteinander erlebt. Und …

Wann hatten sie sich verabschiedet? Das war erst am Vormittag dieses Tages gewesen. Es kam Katharina wie eine Ewigkeit vor.

»Kommst du doch mit nach Brasilien?«, fragte Laura begeistert.

»Ach nein, Laura. Ich fliege wo anders hin.«

»Echt? Schade!« Laura schob traurig die Unterlippe vor. Katharina konnte es ihr nachfühlen. Sie würde das kleine Mädchen vermissen. Ihr Vater würde mit Laura nach Brasilien gehen, weg aus Frankfurt. Weg von den Erinnerungen an ihre ermordete Mutter. Es war sicher besser so. Aber Katharina hätte nie gedacht, dass sie sich so an ein Kind gewöhnen konnte.

»Wo fliegst du denn hin?«, wollte Laura wissen.

Fast hätte es Katharina verraten. Aber sicher war sicher: »Das kann ich dir nicht sagen. Das ist geheim. Du weißt doch, ich bin …«

»Polizistin!«, rief Laura, bevor Katharina ihr den Finger auf den Mund legen konnte. Sie sah sich besorgt um, aber niemand nahm Notiz von ihnen.

»Und da muss man manchmal Dinge machen, die niemand wissen darf«, erklärte sie dem Mädchen.

»Schon klar«, sagte Laura mit der endlosen Weisheit einer fast Fünfjährigen. »Kommst du uns besuchen?«

»Das habe ich dir doch versprochen. Sobald ich Zeit habe.«

Tom Wahrig räusperte sich: »Laura, unser Flug …«

Katharina nahm Laura fest in den Arm. Das Mädchen erwiderte die Umarmung. Endlich ließen sie einander los.

Laura nahm ihren Vater wieder an die Hand und winkte noch einmal über die Schulter.

Katharina winkte zurück. Sie sah ihnen nach, bis sie in der Menge verschwunden waren. Sie würde Laura besuchen. Doch, ganz bestimmt.

***

Wie es der Zufall wollte, befand sich die Emirates-Lounge direkt gegenüber von Katharinas Gate, bewacht von einer ganzen Armada von bulligen Sicherheitskräften.

Katharina ließ sich in einen Sessel fallen: ihre erste echte Ruhepause an diesem Tag. Vielleicht sogar seit zwei Wochen. Seit ihr Leben langsam, aber sicher aus dem Ruder gelaufen war.

Sie sah auf die Uhr: kurz vor neun. Vor vierzehn Tagen um diese Uhrzeit hatte sie verzweifelt zu Hause auf ihrem Sofa gesessen. Polanski, ihr Chef, hatte sie eben nach Hause gebracht. Gegen ihren Willen. Thomas, ihr langjähriger Partner und bester Freund, war keine vier Stunden zuvor getötet worden. Und sie selbst hatte zwei Menschen erschossen. Drogenhändler, die einen Kollegen und vier Jugendliche als Geiseln genommen hatten.

So hatte es begonnen. Und dann war das Schicksal auf den Geschmack gekommen. Hatte mit dem Hammer auf ihr Leben eingeschlagen. Immer und immer wieder. Bis nichts als ein Scherbenhaufen übriggeblieben war: Vor vierzehn Tagen war sie Kriminalhauptkommissarin im KK 11 gewesen, dem Frankfurter Kommissariat für Kapitalverbrechen. Vielleicht nicht die beliebteste Kollegin, aber die erfolgreichste. Und dann hatten sie und ihr Partner ausgerechnet an diesem Nachmittag den Entschluss gefasst, Karten für die Oper zu kaufen. Dabei mochte Katharina die Oper eigentlich gar nicht. Aber Thomas hatte sie gebeten mitzukommen. Damit seine Frau sie besser kennenlernen konnte; sie war immer eifersüchtig auf Katharina gewesen.

Ausgerechnet im Parkhaus an der Oper, diesem Palast der Spießbürgerlichkeit, mussten sie in eine Geiselnahme geraten. Miguel de Vega hatte Thomas erschossen. Katharina dafür ihn. Und so hatte es begonnen: Ein Kollege hatte Katharina angeschwärzt, sie hatte sich einer Mordanklage gegenübergesehen und war vom Dienst suspendiert worden.

Und dann hatte ihr das Schicksal auch noch Laura in den Schoß geworfen – und gleichzeitig einen neuen Fall: Lauras Mutter, ihre Nachbarin, war Opfer eines Gewaltverbrechens geworden.

Kurz darauf war er in ihr Leben getreten: Dr. Andreas Amendt. Der neue, arrogante Rechtsmediziner, den niemand leiden konnte. Der sanftmütige, kinderliebe Gitarrenspieler. Auch er war suspendiert worden, weil er einen verdienten Arzt des Uni-Klinikums des Mordes bezichtigt hatte. Er und Katharina hatten sich zusammengerauft und gemeinsam beide Morde aufgeklärt. Katharina war in die Fänge der Mörder geraten. Dr. Amendt hatte ihr das Leben gerettet. Und sie hatte sich in ihn verliebt.

Gleichzeitig hatten sie beide ihren Job verloren: Sie waren weggelobt worden zu einer Kamikaze-Einheit. Doch Katharina hatte geglaubt, dass es gut gehen würde, solange es drei Menschen auf der Welt gab, denen sie wirklich vertrauen konnte: Polanski, ihrem Chef; Kurtz, ihrem Patenonkel; und Andreas Amendt.

Aber das Schicksal hatte ihr erneut ins Genick getreten. Es lag eine bittere Ironie darin, dass dieser Tritt gleichzeitig das größte Rätsel in ihrem Leben löste: Sie erfuhr, wer ihre Eltern und ihre Schwester umgebracht hatte. Aber sagte man nicht: Wen die Götter vernichten wollen, dem erfüllen sie einen Herzenswunsch?

Sie hatte erfahren, dass Andreas Amendt der Verlobte ihrer Schwester gewesen war. Und Polanskis Hauptverdächtiger. Polanski! Der fast wie ein Vater zu ihr war. Schon damals, als er der leitende Ermittler gewesen war. Und doch hatte er kein Sterbenswörtchen gesagt. Klar, er durfte nicht. Aber er musste doch gesehen haben, was sich zwischen ihr und Amendt abspielte. Das Gleiche galt für Kurtz, ihren Patenonkel. Beide hatten Katharina ins offene Messer laufen lassen.

Katharina spürte einen Stich im Magen: Sie hatte jetzt niemanden mehr, dem sie vertrauen konnte: Thomas, ihr bester Freund, war tot. Polanski und Kurtz hatten sie angelogen – und der Mann, der ihr das Leben gerettet und in den sie sich verliebt hatte …

Dieser Mann war Andreas Amendt. Der Mörder ihrer Familie.

***

»Meine Damen und Herren«, riss eine freundliche, rauchige Frauenstimme Katharina aus ihren Grübeleien. »Wir beginnen nun mit dem Boarding für Emirates Airlines, Flug 2804 …«

Das war ihre Maschine.

»Wir bitten zunächst die Passagiere der ersten Klasse, sowie Gehbehinderte und Familien mit Kindern …«

Okay, das galt ihr. »Passagier der ersten Klasse«. Das fühlte sich doch gut an. Unter den neidischen Blicken der anderen Reisenden überreichte Katharina ihre Bordkarte und ging durch den stählernen Tunnel der Gangway zum Flugzeug.

Eine weitere arabische Schönheit, diesmal jedoch von ausgesuchter Höflichkeit, nahm sie am Eingang des Flugzeugs in Empfang und geleitete sie zu ihrem Sitz. Katharina ließ sich hineinfallen. Der Sitz war weich, groß und mit hellem Leder bezogen. Zwei Armlehnen ganz für sie alleine. Genug Freiheit, um ihre Beine ganz auszustrecken. Die Stewardess half ihr mit dem Sicherheitsgurt. Dann fragte sie Katharina: »Möchten Sie vor dem Abflug ein Glas Champagner?«

***

Die Maschine rollte gemächlich über den Flughafen zur Startbahn. Auf dem Platz jenseits des Ganges hatte ein kleiner, kugelrund-vergnügter Mann Platz genommen. Auch er hatte sich ein Glas Champagner bringen lassen und Katharina über den Gang hinweg zugeprostet.

Jetzt war der Champagner getrunken und die Stewardess hatte die Kelche wieder eingesammelt. Katharina fühlte sich angenehm leicht.

Endlich hatte die Maschine ihre Startposition erreicht. Der Pilot stellte sich vor und wiederholte noch einmal den Hinweis, sich jetzt anzuschnallen und den Sicherheitsgurt erst zu lösen, wenn die Maschine ihre Reiseflughöhe erreicht habe.

Die Motoren der großen Boeing heulten auf. Die Maschine beschleunigte, Katharina wurde in ihren Sitz gepresst. Dann hob das Flugzeug ab und nahm Kurs in den schwarzen Nachthimmel.

***

African Boogie

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