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Night Ride

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Ein dezentes Ping aus den Bordlautsprechern kündigte an, dass das Flugzeug seine Reiseflughöhe erreicht habe. Katharina löste ihren Sicherheitsgurt und fischte ihre Handtasche unter dem Sitz hervor. Sie wollte nach den Ohrhörern ihres MP3-Players suchen, doch stattdessen zogen ihre Hände die Akte hervor: die Fallakte zum Mord an ihrer Familie.

Sie hielt den schweren Hefter auf dem Schoß und starrte ihn an, als würde er so von selbst seine Geheimnisse preisgeben.

»Nun schlag die Akte endlich auf, du Feigling.« Katharina meinte, Susanne sprechen zu hören. Ihre tote Schwester. »Du hast es versprochen!«

Susanne hatte recht. Katharina atmete tief und langsam ein und aus. Als ihr Herz endlich nicht mehr bis zum Hals schlug, öffnete sie den braunen Papphefter.

Die Akte begann mit einem Protokoll des Notrufs. Der Anrufer hatte seinen Namen nicht genannt. Immer wieder hatte er völlig verstört wiederholt: »Etwas Schreckliches ist passiert.« Der diensthabende Beamte hatte mehrere Anläufe gebraucht, um ihm wenigstens die Adresse zu entlocken.

Neben dem Anruf-Protokoll fand sich eine Notiz. Katharina kannte die kleine, gestochene Handschrift. Sie gehörte Thomas, ihrem Partner. Einen Augenblick lang dachte Katharina an den vergangenen Sonntag. An Thomas’ Beerdigung, auf der ihr seine Witwe die Akte zugesteckt hatte. Sie biss sich auf die Lippen, um die Tränen wieder zu vertreiben. Nicht heulen! Nicht jetzt!

Was hatte Thomas notiert? »Anruf durch wen? A.A.?« A.A.? Andreas Amendt?

Sie blätterte weiter.

»Einsatzbericht / Erster Angriff« war die nächste Seite überschrieben. »Erster Angriff« – so nannte man die ersten Arbeiten der Polizei vor Ort: Tatort sichern, Verletzte versorgen, mögliche Verdächtige festnehmen, Zeugen finden und so weiter. Früher hatte Katharina diese Bezeichnung immer komisch gefunden.

Sie vertiefte sich in die Lektüre des Berichts:

Die Streifenbeamten hatten die Haustür offen vorgefunden. Wegen möglicher Gefahr im Verzug hatten sie das Haus betreten: im Wohnzimmer drei leblose Personen, die Scheibe des Panoramafensters eingeschlagen.

Dann hatte einer der Beamten Geräusche gehört, »die auf verdächtige Aktivitäten schließen ließen«. Das stand da wirklich so. Beamtendeutsch war schrecklich prosaisch.

Aber Katharina kannte die Situation: Den Augenblick, in dem man feststellte, dass man nicht alleine am Tatort ist. Den bitter-metallischen Geschmack des Adrenalins im Mund. Das Pochen des eigenen Herzschlags. Sie konnte die beiden Streifenbeamten vor sich sehen, wie sie mit gezogenen Dienstwaffen den Geräuschen nachgegangen waren. Ins obere Stockwerk. Ins Badezimmer. Dort hatten sie ihn vorgefunden: »eine verdächtige, hilflose Person«. Nackt unter der Dusche kauernd. Der Bericht vermerkte, die Beamten hätten das »auf sehr hohe Temperatur eingestellte Wasser« abgedreht. Dann hatten sie die »hilflose Person« in Gewahrsam genommen. Aufgrund der deutlich sichtbaren Blutspuren auf der im Bad vorgefundenen Kleidung hatten sie der Person »Behelfskleidung zur Verfügung gestellt«: Einwegoveralls aus weißem, knittrigen Kunststoff gehörten Grundausstattung von Polizeifahrzeugen. Dann hatten sie die Person in ihren Streifenwagen verbracht.

Zuletzt fand sich noch ein Vermerk: Die hilflose Person »konnte als Andreas Amendt, Assistenzarzt in der neurologischen Abteilung des Universitätsklinikums Frankfurt am Main, identifiziert werden«.

Richtig. Amendt war nicht nur Rechtsmediziner, sondern auch Neurologe. Ein Wunderkind. Medizinstudium und zwei Facharztausbildungen in Rekordzeit. Standen Wunderkinder nicht auch oft am Rand des Wahnsinns? Katharina meinte, gelesen zu haben, dass hohe Intelligenz und Schizophrenie genetisch oft Hand in Hand gingen. Und Amendt war erblich belastet. Das hatte ihr Professor Paul Leydth, sein Ziehvater, in einem etwas surrealen Gespräch erzählt. Leydth hatte nur sehr kryptisch von einem Mord gesprochen, an dessen Tatort Amendt gewesen sei. Und dann hatte der Professor Katharina gebeten, die Wahrheit über diesen Mord herauszufinden. Vorausgesetzt, Andreas Amendt zog sie ins Vertrauen. Nun ja, zu spät.

Neben dem Bericht der Polizisten fand sich wieder ein Vermerk: »Schock?« Außerdem hatte Thomas mit einer Büroklammer die Kopie eines Lexikonartikels an die Seite geheftet: »Retrograde Amnesie«. Rückwirkender Gedächtnisverlust.

Was hatte Paul Leydth gesagt? »Er hat keine Erinnerungen an die Tat.« Aber war Amnesie nicht oft zeitlich begrenzt? Kamen die Erinnerungen nicht irgendwann zurück? Thomas hatte die entsprechenden Sätze in dem Artikel mit einem Textmarker angestrichen und notiert: »Weiß er heute mehr?«

Katharina hörte ihren toten Partner beinahe sprechen. Das war seine Art gewesen: Fragen zu stellen. Immer wieder und wieder. Manchmal hatte er Katharina damit fast zum Wahnsinn getrieben.

Die nächsten Seiten der Akte enthielten den Bericht der Spurensicherung, eine endlose Auflistung: Fingerabdrücke, ein paar Fußspuren im Garten. Das meiste davon war nicht verwertbar. Katharina überflog die Liste, bis ihr Blick an der sichergestellten Kleidung aus dem Badezimmer hängenblieb: Baumwollhemd, Baumwollhose, hellblau. Krankenhauskleidung. Darauf Blutspritzer und Wischspuren – Blutgruppe Null.

Katharina dachte daran, dass Susanne, als sie mit dem Medizinstudium anfing, aus Spaß die Blutgruppen ihrer Familie bestimmt hatte. Sie alle hatten Blutgruppe Null. In dieser Häufung eine sehr seltene Anomalie. Ihr Vater hatte gesagt, er habe immer gewusst, dass seine Familie etwas ganz Besonderes sei.

Die Fotos auf der nächsten Seite zwangen Katharina zum Durchatmen. Bilder vom Tatort. Sie zwang sich, die Bilder anzusehen: Ihre Eltern saßen auf dem Sofa. Ihre Schwester Susanne lag auf dem Boden. Auf dem Rücken.

Katharina stutzte. Susanne hatte vermutlich in ihrem Lieblingssessel gesessen. War sie aufgestanden, um sich schützend vor ihre Eltern zu stellen? Selbst dann hätte sie so nicht liegen dürfen. Nicht so gerade ausgestreckt und mit dem Kopf in die falsche Richtung.

Auch Thomas hatte diese Diskrepanz bemerkt und am Rand notiert: »Wer hat die Leiche bewegt?«

Katharina versuchte, sich den Hergang vorzustellen: Es muss sehr schnell gegangen sein. Ihre Familie sitzt beim Kaffee. Der Täter springt durch die Scheibe des Wohnzimmers und schießt. Die tödlichen Schüsse fallen innerhalb weniger Sekunden. Und dann?

Ein Foto zeigte den gedeckten Kaffeetisch. Feines Porzellan, eine Leidenschaft ihrer Mutter. Marmorkuchen. Susanne war süchtig danach gewesen. Das Bild wirkte friedlich. Unberührt. Fast. Ein paar Pfeile dokumentierten Blutspritzer. Blutgruppe Null.

Den Tatortfotos folgten Seiten um Seiten mit Vernehmungsprotokollen. Vor allem mit Amendt.

Immer wieder die gleiche Frage: »Was ist passiert?«

Immer wieder die gleiche Antwort: Er sei nach der Arbeit von der Klinik zu seiner Verlobten gefahren. Da er sehr erschöpft gewesen sei, habe Susanne ihm angeboten, sich in ihrem Zimmer ein wenig hinzulegen. Danach wisse er nichts mehr. Die »Ich erinnere mich an nichts«-Strategie: der erste Schritt in Richtung Freispruch wegen Unzurechnungsfähigkeit.

Andreas Amendt war mit der Strategie durchgekommen. Ein Gutachten, das sich gleichfalls in der Akte befand, bestätigte die Amnesie. Gutachter war … Professor Paul Leydth. Amendts Ziehvater. Ein Freundschaftsdienst? Das wäre strafbar gewesen.

Allerdings bestätigte ein zweiter Arzt die Diagnose; dessen Name sagte Katharina nichts. Das Gutachten enthielt auch einen Hinweis auf die familiäre Vorbelastung: Amendts Mutter war schizophren gewesen. Sie hatte seinen Vater getötet und sich dann das Leben genommen. Auch das hatte Paul Leydth Katharina erzählt.

Katharina kramte in ihrem Gedächtnis. Was wusste sie über Schizophrenie? Sie erinnerte sich noch gut daran, was der Gerichtspsychiater mit dem schweren Tick, der ihn immer seinen Kopf ruckartig zur Seite werfen ließ, in seiner Vorlesung »Psychische Erkrankungen in der polizeilichen Praxis« betont hatte, damals auf der Polizeihochschule: Schizophrene seien selten gewalttätig, seltener als der Durchschnitt der Bevölkerung. Und wenn doch, benötigten sie einen sogenannten Trigger, ein starkes auslösendes Moment. Was war dieser Trigger gewesen?

Grübeln würde sie nicht weiterbringen. Also zurück zu den Spuren und Indizien. Katharina schlug den Bericht der Ballistik auf: Acht Schüsse waren abgegeben worden. Aus einer Entfernung von fünfzig bis achtzig Zentimetern. Alle acht Geschosse konnten sichergestellt werden. Kaliber 7.65 Millimeter Browning. Die Spuren an den Geschossen waren konsistent mit einer Tatwaffe des Typs Walther PPK. Die Akte vermerkte, dass eine Waffe dieses Typs auf Diether Klein, Katharinas Vater, registriert war. Doch die Pistole war nicht auffindbar.

Katharina knabberte nachdenklich an ihrer Unterlippe: Ihr Vater war immer sehr vorsichtig gewesen und hatte die Waffe im Tresor seines Arbeitszimmers verwahrt. Ungeladen. Wo war sie? War es die Tatwaffe? Und wenn ja: Wie war Amendt an sie herangekommen?

Katharina wollte schon weiterblättern, als sie noch einmal stutzte. Sie blätterte zurück. Doch. Acht Geschosse. Und keine Patronenhülsen. Nahm sich jemand in einem Wahnanfall wirklich die Zeit, seine Spuren derart gründlich zu beseitigen?

Und: Acht Geschosse? Das Magazin einer PPK fasste sieben Patronen. Wo kam die Achte her? Natürlich konnte man eine Pistole überladen: Durchladen, das Magazin entnehmen und auffüllen. Sieben Patronen im Magazin und eine im Lauf. Aber das war schon ziemlich spezielles Fachwissen, über das nur ein geübter Schütze verfügte. Außerdem verlangte es Planung. Planung und Wahnsinn?

Oder lud ihr Vater seine Pistole so? Katharina glaubte es nicht, denn es hätte bedeutet, das Magazin bei entsicherter Waffe und gespanntem Hahn zu entnehmen und wieder einzusetzen. Das Risiko, dass sich dabei ein Schuss löste, war groß. Ihr Vater wäre dafür zu vorsichtig gewesen.

Neben der Zusammenfassung am Ende des Ballistikberichts fand sich eine Notiz von Thomas: »TT? Autopsiebericht, S. 8«

TT? Was sollte das denn heißen? Katharina blätterte auf die angegebene Stelle vor: Es handelte sich um den abschließenden Bericht des Rechtsmediziners mit einer Zusammenfassung der Verletzungen. Auf ihre Mutter und ihren Vater war je dreimal geschossen worden. Zweimal in die Brust, einmal in den Kopf. Susanne wies zwei Schussverletzungen auf, beide in die Brust. Jeder einzelne der Schüsse wäre tödlich gewesen.

Drei Schüsse? TT? Klar. Das hieß »Triple Tagging«! Zwei Schüsse in die Brust. Fangschuss in den Kopf. So schossen Menschen, die mit einer Waffe umzugehen wussten und kaltblütig genug waren, um zu töten. Passte das zu Andreas Amendt? Und woher konnte er überhaupt so gut schießen? Acht Schüsse in so kurzer Zeit abzugeben und genau zu treffen, verlangte auch auf die kurze Distanz Übung und Präzision.

Andererseits: Andreas Amendt hatte Katharina das Leben gerettet und dabei vor ihren Augen einen Menschen erschossen. Mit einem einzigen Schuss, der beide Oberschenkel-Arterien zerfetzt hatte. War das wirklich nur ein Zufallstreffer gewesen?

Katharina rieb sich die Schläfen. Diese Akte war ein einziges Puzzle. Sie würde ein ganzes Team brauchen, um sie zu verstehen. Aber sie wollte wenigstens noch lesen, was Polanski selbst sagte. Sie blätterte vor zum vorläufigen Abschlussbericht am Ende der Akte.

Wie alle Berichte von Polanski war auch dieser knapp und präzise. Er formulierte als Schlussfolgerung:

Es ist davon auszugehen, dass Andreas Amendt der Täter ist. Die Suche nach weiteren Verdächtigen oder Mittätern verlief bisher erfolglos. Auch die Untersuchungen des Umfelds sowie der Lebensumstände der Geschädigten haben keine Hinweise auf mögliche weitere Verdächtige erbracht.

Eine psychiatrische Evaluation muss zeigen, ob Andreas Amendt in einem akuten und transienten psychotischen Schub gehandelt hat, wie es die Beweislage vermuten lässt.

Die »Wer sollte es sonst gewesen sein?«-Strategie? Katharina war erstaunt, dass Polanski sich dazu hinreißen ließ.

An die letzte Seite des Berichts war wie zum Hohn ein Schreiben geheftet, in dem der zuständige Staatsanwalt nach Konsultation mit Amendts Anwalt Polanskis Fall in Stücke riss. Katharina konnte nicht umhin, ihm recht zu geben. Die Indizienkette war nicht geschlossen. Die Tatwaffe fehlte. Man konnte Amendt nicht nachweisen, überhaupt geschossen zu haben. Es gab weder Zeugen noch ein Geständnis. Und es fehlte jedes Motiv.

Motiv! Richtig. Auch Psychotiker brauchten ein Motiv. Oder zumindest einen Trigger.

Warum sollte Andreas Amendt so eine Tat begehen? Vielleicht Susannes Schwangerschaft? War er damit überfordert gewesen?

»Das ist Blödsinn. Und das weißt du!« Katharina sah erschrocken auf. Susanne schaute über die Kante des Vordersitzes auf sie herab. Ihre Augen funkelten ärgerlich. »Andreas liebt Kinder! Das hast du ja nun weiß Gott selbst erlebt!«

Na klasse! Die Gespenster der Vergangenheit. Sie musste über der Akte eingenickt sein – unmerklich hinübergeglitten in einen jener Träume, die von der Wirklichkeit kaum zu unterscheiden waren. Aber Traum-Susanne hatte recht. Amendt war ein Kindernarr. Auch schon damals?

»Natürlich. Das habe ich dir doch geschrieben«, beantwortete Susanne die unausgesprochene Frage. Richtig. Susanne hatte sich immer Kinder gewünscht. Mindestens drei. Begeistert hatte sie Katharina in ihrem letzten Brief berichtet, dass sie endlich einen Mann kennengelernt habe, der ein noch größerer Kindernarr sei als sie.

»Weißt du, was er gemacht hat, als er erfahren hat, dass ich schwanger bin?«, fragte Susanne. »Er hat einen Kinderwagen gekauft. Einen richtig schönen. Und das von seinem Assistenzarzt-Gehalt.«

»Begeisterung und Wahn liegen nahe zusammen oder nicht?«, sagte eine männliche Stimme neben Katharina. Thomas saß auf der Armlehne ihres Sitzes – wie üblich overdressed: Dreiteiler, Hemd und Krawatte in farblich perfekt aufeinander abgestimmten Grautönen, weinrotes Einstecktuch.

»Vor lauter Begeisterung bringt er seine Verlobte um und ihre Eltern gleich mit, oder was?«, fauchte Susanne ihn zornig an.

»Warum nicht? Einerseits der Kinderwunsch. Auf der anderen Seite die Angst, die Krankheit seiner Mutter geerbt zu haben und jetzt womöglich weiterzugeben. Die Spannung baut sich immer mehr auf und – Bamm!« Thomas stieß die Faust in seine Hand.

»Blödsinn.« Susannes Augen hatten sich mit Tränen gefüllt.

»Was denkst du denn, Katharina?«, fragte Thomas.

Sie wusste es nicht. Die Spuren ergaben keinen Sinn. Zumindest nicht, wenn man von einer spontanen Wahnsinnstat ausging.

»Ganz richtig«, sagte Susanne trotzig. »Welcher Wahnsinnige nimmt sich denn die Zeit, seine ganzen Spuren so zu verwischen? Und die Pistole? Denk an die Pistole!«

»Was soll damit sein?«, fragte Thomas zurück.

»Wie soll er daran gekommen sein?«

»Vielleicht war euer Vater ausnahmsweise mal leichtsinnig? Hat sie auf seinem Schreibtisch liegen lassen? Und wer sagt denn, dass die Pistole eures Vaters überhaupt die Tatwaffe war? Walther PPKs bekommt man auf dem Schwarzmarkt nachgeschmissen.«

Da hatte Thomas allerdings recht. Fast jeder kleine Dealer auf der Konstablerwache kannte jemanden, der jemanden kannte, der …

»Und einen Schießkurs hat er da auch gleich absolviert?«, fragte Susanne giftig.

»Darf ich auch was beitragen?« Im Gang neben Katharinas Sitz stand Miquel de Vega. Was hatte der denn in ihrem Traum zu suchen?

»Was?«, fragte sie.

»Wenn ich ’nen Mordauftrag an einer Familie hätte: So würde ich es machen. Rein. Bammbammbammbammbamm. Und Feierabend.«

Thomas fragte: »Und das hilft uns jetzt wie weiter?«

»Vielleicht guckt ihr auf den falschen Verdächtigen. Mein ja nur. Triple Tagging. Keine Patronenhülsen. Für mich sieht das nach ’nem Profi-Job aus.«

»Und der Profi lässt einen potenziellen Zeugen am Leben?«, fragte Thomas irritiert.

»Toller Zeuge. Ohne Gedächtnis. Und wenn er es doch wiederfindet … Wer glaubt ihm schon? Am Tatort aufgegriffen? Blutverschmiert? Wahnsinn in der Familie? Und plötzlich will er einen unbekannten Dritten gesehen haben?« Miguel de Vega grinste triumphierend. »Der perfekte Sündenbock.«

»Und wer sollte den Auftrag gegeben haben?«, fragte Thomas.

»Keine Ahnung. Jeder hat Feinde.« Miquel de Vega zuckte mit den Achseln. »Und wer hat denn hier den Patenonkel bei der Mafia?«

»Kurtz?« Katharina schluckte.

»Oder jemand, der sich an Kurtz rächen wollte und an ihn nicht rangekommen ist. Vielleicht hat euer Vater hat auch in irgendwelchen krummen Geschäften mit drinsteckt.«

Katharina biss sich auf die Lippen. Sie musste zugeben, dass sie daran auch schon gedacht hatte. Aber Kurtz hatte es ja vehement abgestritten. Anderseits: Kunsthandel wurde oft zur Geldwäsche genutzt. Außerdem hatten arrivierte Kunsthändler gute Beziehungen zum Zoll. Sie konnten, theoretisch, alles Mögliche über die Grenze bringen, vielleicht sogar, ohne es zu wissen.

Susanne räusperte sich: »In den Rahmen und Röhren kann man außerdem allerhand verstecken. Mikrofilme. Dokumente.«

»Euer Vater war Kunsthändler und nicht Null Null Sieben.« Thomas’ troff vor Sarkasmus.

»Und wenn er nichts davon wusste? Wenn er nur der unwissende Zwischenhändler war?«

Susanne hatte recht. Ob nun Schmuggel oder Geldwäsche: Ein unwissender Dritter schaffte oft einen zusätzlichen Sicherheitspuffer.

Und: Was hatte Kurtz gesagt? Damals hätte er seine eukalyptusbonbonlutschende Unscheinbarkeit zum ersten Mal gesehen? Immerhin war es dieser Mann gewesen, der Thomas die Akte zugespielt hatte. Der, wie er sagte, darauf baute, dass Katharina den Fall aufklärte. Warum sonst sollte er ein Interesse an dem Fall haben?

»Katharina, das ist nun wirklich ganz einfach«, sagte Thomas. »Dein Vater war kein Ansichtskarten-Verkäufer. Er hat Kunst in die höchsten Kreise der Stadt verkauft. Der Mord an seiner Familie muss wahnsinniges Aufsehen erregt haben.«

Das stimmte. Die Zeitungen waren damals voll davon. Katharina war damals so bedrängt worden, dass Kurtz sie rasch wieder nach Südafrika hatte zurückbringen lassen. Zu ihrer Austauschfamilie. Bekannte ihres Vaters, die sie bis zu ihrem Abitur aufgenommen hatten. Aber was hatte das mit dem Mann mit den Eukalyptuspastillen zu tun?

»Stell dich nicht dumm.« Seit wann war Thomas so garstig? »Irgendwer wird ihn aktiviert haben, weil ihm die Aufklärung nicht schnell genug ging.«

»Und warum hat er dann noch immer Interesse an dem Fall? Nach sechzehn Jahren?«, fragte Susanne dazwischen.

»Noch einfacher. Eitelkeit. Der Fall ist offiziell nicht aufgeklärt. Das kann ihm Ärger eingebracht haben. Oder er mag einfach keine losen Enden. Würde doch passen, oder?«

Katharina seufzte. Thomas hatte recht. Aber hatte der Mann nicht gesagt, dass er an die Theorien Polanskis nicht glaube?

»Vielleicht wollte er, dass du mit frischen Augen draufschaust und Amendt so wirklich hinter Gitter bringst?«, fragte Thomas unbeeindruckt. »Oder er ist genauso ein paranoider Verschwörungstheoretiker wie ihr gerade.« Er lehnte sich zurück. »Ich meine: Was ist wahrscheinlicher? Das irgendein unbekannter Dritter einen raffinierten Mord begeht und dafür sorgt, dass sogar noch ein Verdächtiger ohne Gedächtnis am Tatort zurückbleibt? Oder dass der Verdächtige tatsächlich der Täter ist? Ockhams Rasiermesser!«

Das war nun wirklich nicht fair von Thomas. Genau das hatte Katharina öfter zu ihm gesagt: Wenn mehrere Theorien ein Fallgeschehen erklären können, ist die einfachste höchstwahrscheinlich die Wahrheit. Andererseits hatte er recht.

Susanne gab sich noch nicht geschlagen. »Papa hatte vielleicht wirklich Feinde. Galeristen. Andere Kunsthändler.«

Katharina erinnerte sich, dass ein Konkurrent den Wagen ihres Vaters einmal mit Farbe übergossen hatte. Ausgerechnet wegen eines Streits um ein Bild von Jackson Pollock. Ihr Vater hatte sich über die Ironie sehr amüsiert.

»Siehst du?«, triumphierte Susanne.

»Polanski wird das alles untersucht haben«, warf Thomas ein.

»Und wenn nicht? Vielleicht war Polanski ja froh, einen Täter gefunden zu haben?«

Schwer vorstellbar. Polanski drehte jeden Stein dreimal um und hinterfragte alles. War er damals auch schon so? Bestimmt.

»Und wenn es Verbindungen gab, die er nicht kennen konnte? Was, wenn es gar nicht um Papa ging?«, bohrte Susanne weiter.

»Und um wen dann?« Thomas wirkte genervt.

»Ich weiß nicht. Vielleicht um mich?«

»Um dich?«, fragte Katharina.

»Vielleicht hatte ich Feinde? Ich weiß es nicht. Ich meine, ich hatte ja nicht immer ein glückliches Händchen mit Männern, oder?«

Katharina versetzte diese Bemerkung einen Stich. Ausgerechnet Susannes liebenswerteste Eigenschaft, in jedem Menschen das Gute zu sehen, war nicht sehr hilfreich bei der Partnerwahl gewesen. Dummköpfe, Karrieristen, …

»Irre wie der Amendt«, setzte Thomas die Reihe fort. Das war zu viel für Susanne. Sie sprang auf, packte Thomas am Revers und schüttelte ihn: »Er ist es aber nicht gewesen!«

»Natürlich war er es!« Thomas und Susanne rangen wie zwei kleine Kinder auf dem Pausenhof. Katharina drängte sich zwischen die beiden: »Jetzt hört aber auf!«

Es half nichts. Im Gegenteil. Thomas und Susanne packten sie an den Armen. Hilflos schleuderte sie hin und her. Dann gab der Boden nach und Katharine kippte nach vorne.

***

Als sie sich wieder gefangen hatte, waren Thomas und Susanne verschwunden. Eine Stewardess hielt Katharina an einem Arm fest. Auf der anderen Seite stützte sie der kleine Mann vom Nachbarsitz.

»Vorsicht.« Die Stewardess drückte Katharina sanft, aber bestimmt auf ihren Sitz zurück. »Sie waren eingeschlafen. Aber wir erwarten Turbulenzen. Und da müssen Sie sich anschnallen. – Tut mir leid, ich wollte Sie nicht erschrecken.«

Katharina zurrte beschämt den Gurt über ihrem Bauch fest. Sie blickte zur Stewardess auf: »Kein Problem. Und verzeihen Sie, aber …«

Die Stewardess nickte verzeihend. »Ein Albtraum? Kommt manchmal vor. Der Luftdruck.« Sie betrachtete Katharina kritisch. »Sie sind ja völlig nass geschwitzt. Ich hole Ihnen ein Handtuch. – Sie sind doch nicht krank?«

»Nein, nein. Nur etwas viel Stress.« Sie zeigte auf ihr lädiertes Auge. »Streit mit meinem Ex-Freund.«

»Aha! Ich … Ich bringe Ihnen mal etwas Eis für Ihr Auge.«

»Danke!«

»Bringen Sie ihr einen Whiskey mit«, mischte sich der kleine Mann ein, der sich gleichfalls wieder hingesetzt hatte. »Mir auch. Und vielleicht was zu essen?« Er drehte sich zu Katharina. »Sie haben das Essen verschlafen.«

»Ich fürchte, wir haben nur noch den Nachtisch übrig. Mousse au Chocolat.« Schokolade. Die Stewardess musste das begeisterte Blitzen in Katharinas Augen gesehen haben. »Ich bringe Ihnen mal zwei Portionen.«

»Danke. Und verzeihen Sie noch mal …«

»Ach, ein Albtraum ist doch gar nichts. – Ich bin gleich wieder da.«

Von allen Turbulenzen unbeeindruckt, schwebte die Stewardess durch den Gang davon. Katharinas Sitznachbar sah ihr begeistert hinterher. Dann bemerkte er, dass Katharina ihn beobachtete, und richtete sich schulterzuckend auf: »Sorry. Aber … wie eine Prinzessin aus Tausendundeiner Nacht.«

Der Mann bückte sich nach etwas, das auf dem Gang lag: die Akte. Katharina griff rasch danach, zog sie weg und steckte sie in ihre Handtasche. »Ein geheimer Geschäftsbericht. Ich komme schon in Teufels Küche, wenn jemand erfährt, dass ich über der Lektüre eingeschlafen bin und ihn nicht wieder sicher verwahrt habe.«

»Verstehe. Müssen ja Höllenzahlen sein, wenn die Albträume auslösen.«

Was würde ein Unternehmensberater sagen? »Na ja, eher ein Höllen-Klient.«

»Lassen Sie mich raten: Beratungsresistent, aber er gibt Ihnen an allem die Schuld?«

»So ungefähr. Er weigert sich, alte Schulden zu begleichen, weil er sich nicht daran erinnert.« Das war wenigstens die halbe Wahrheit. Und sie würde den Amendt schon drankriegen. »Und wenn er es nicht war?«, hallte Susannes Stimme in Katharinas Kopf nach. Unsinn!

***

Katharina verstand zwar nicht, warum, aber die Stewardess musste sie ins Herz geschlossen haben. Sie hatte ihr nicht nur einen Whiskey, eine Flasche Wasser, ein Handtuch und ein kleines Schälchen mit Eiswürfeln gebracht, sondern gleich drei Schälchen mit Mousse au Chocolat.

»Fliegen Sie auch nach Dubai?«, fragte ihr Sitznachbar.

»Nein, nach Dar es Salam.« Verdammt. Verplappert. Katharina beruhigte sich gleich wieder. Wer sollte schon davon erfahren?

»Tansania. Schönes Land.«

»Wenn Sie das sagen. Ich war noch nie dort.«

»Na, dann haben Sie ein Traumerlebnis vor sich.« Er musterte sie kurz. »Verzeihung. Ich wollte nicht …«

Katharina winkte ab. »Keine Ursache.«

»Und … Ich will ja nicht persönlich werden, aber haben Sie solche Albträume häufiger?«

»Manchmal«, antwortete Katharina knapp.

»Ich glaube, dann habe ich etwas für Sie.« Der Mann angelte nach dem Aktenkoffer, den er unter seinen Sitz geschoben hatte. Er legte ihn auf seinen Schoß und klappte ihn auf. Der Koffer war voller Medikamentenpackungen. »Wo haben wir denn …? Ach da.« Der Mann zog eine Schachtel hervor und drehte sie stolz zwischen seinen Fingern. »Ganz neu entwickelt. Keine Überdosierung. Keine Abhängigkeit. Und es stört nicht die REM-Phasen; ein mildes Euphorikum vertreibt böse Träume. Morph-OX.«

Jetzt hielt der Mann Katharina die Schachtel hin.

Katharina packte die Panik. Es wäre einfach, ihr so eine Giftpille zu verabreichen. Sie zwang sich zur Ruhe. »Ministro?«, fragte sie.

Der Mann blickte sie irritiert an: »Nein, Morph-OX.«

Okay. Da war sie wieder, die Paranoia. Katharina nahm die Schachtel und besah sie sich von allen Seiten. Sie war versiegelt.

»Danke. – Sind Sie Pharmakologe?«

»Schön wär’s.« Der Mann lachte. »Ich bin nur ein einfacher Pillen-Vertreter. Na ja, nicht ganz einfach. Ich bin Vertriebschef für den EMEA-Raum.«

»Fliegen Sie deswegen nach Dubai?«

»Natürlich. Ein echter Boom-Markt. Mit etwas Glück mache ich da morgen den Deal meines Lebens. Und dann hänge ich noch ein paar Tage Dubai dran. Tolle Stadt.«

»Wenn Sie meinen …«

»Doch, immer einen Trip wert. – Apropos: Haben Sie an alle Schutzimpfungen gedacht?«

»Schutzimpfungen?«

»Für Tansania. Schönes Land. Aber das Gesundheitssystem ist eine Katastrophe. Besser, wenn man da nicht krank wird.«

Oh je. Der Mann hatte recht. Sie hatte sich darüber keine Gedanken gemacht. Andererseits war sie als Polizistin so ziemlich gegen alles und jedes geimpft. Außer …

»Ist Tansania eigentlich Malaria-Gebiet?«, fragte sie.

»Natürlich. Unser wichtigster Absatzmarkt für Resolariam. Sie haben doch an die Malariaprophylaxe gedacht?«

Katharina schüttelte den Kopf.

»Na, das ist aber leichtsinnig.« Der Mann wühlte in seinem Koffer und zog eine weitere Schachtel hervor. »Hier. Nehmen Sie das. Einmal pro Woche eine Tablette.«

»Gibt es da Nebenwirkungen?«

»Wie man’s nimmt. Resolariam wurde im Auftrag der amerikanischen Armee entwickelt. Hebt die Laune und stärkt den Kampfgeist. Und vor Malaria schützt es natürlich auch.«

Bessere Laune, mehr Kampfgeist: Das konnte sie wirklich brauchen. Katharina steckte die Schachteln in ihre Handtasche.

»Und Sie?«, fragte der Mann. »Sie sind eher im asiatischen Raum unterwegs, was?«

Das war jetzt etwas peinlich. Aber besser nicht lügen und sich dabei erwischen lassen. »Na ja, in den letzten Jahren bin ich nicht so oft aus Deutschland rausgekommen. Nur nach Südafrika und in die USA. In Asien war ich noch nie.«

»Südafrika!«, schwärmte der Mann. »Fantastische Krankenhäuser. – Echt? Sie waren noch nie in Asien? Aber Sie sind doch …?«

»Halbk…« Fast hätte sich Katharina erneut verplappert. »Halbjapanerin. Aber ich bin in Deutschland aufgewachsen.«

»Noch nie in Asien! Das ist wirklich ein Verlust. Hongkong ist eine tolle Stadt. Die hübschesten Ärztinnen auf der Welt.«

Der Mann schwärmte weiter von den Ländern, die er bereist hatte: Australien – »die fünfzig giftigsten Schlangenarten der Erde. Ein Traum für unser Geschäft mit Antiseren«, China – »nirgendwo setzen wir mehr Amphetamine ab«, Los Angeles – »jede Schlankheitspille, die Sie sich nur denken können.«

Katharina ließ ihn reden.

***

Mitten in der Nacht waren sie in Dubai gelandet. Der Mann hatte sich freundlich verabschiedet, wohl im festen Glauben, eine Freundin fürs Leben oder zumindest eine treue Kundin gewonnen zu haben. Vermutlich seine ganz persönliche Variante des Miles High Club.

Neben ihr saß jetzt ein schweigsamer Araber im Maßanzug. Seine Finger spielten nervös mit einer Zigarettenschachtel, während er ein Kaugummi nach dem anderen kaute.

Als das Flugzeug wieder abgehoben hatte, schob Katharina die Akte tief in ihre Handtasche, fischte endlich ihre Walkman-Kopfhörer heraus, kippte ihren Sitz in die Liegeposition und schaltete den Videomonitor vor ihr ein.

Auf dem Zeichentrickkanal lief »Shrek«. Den Film hatte sie mit Laura gesehen. Der Tochter ihrer Nachbarin. In ihrer Wohnung. Pizza-essend. Bevor ihre Welt Stück für Stück in Scherben gegangen war.

Irgendwann schlief sie ein. Träumte von grünen Monstern und sprechenden Eseln. Keine maskierten Pistolenschützen. Keine hoffnungslosen Versuche, ihre Eltern zu retten. Warum konnten ihre Träume nicht immer so sein?

***

African Boogie

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