Читать книгу Briefe aus dem Grand Hotel - Helmut H. Schulz - Страница 4
09.10.1989
ОглавлениеSehr geehrter, lieber Herr Z., geschätzter Verleger,
Ihr Korrespondent ist nicht sicher, ob diese Zeilen noch das Papier wert sind, auf dem sie geschrieben werden, nämlich auf dem Papier eines Ostberliner Nobelhotels, vor wenigen Jahren erbaut, in der, heute müsste ich sagen, Honecker-Ära. Grand Hotel ist ein hübsches Quartier für Valuta-Gäste, zumal für Ihren schwer arbeitenden Berichterstatter. Wohl möglich, dass ein hier beheimateter Bürger der Durchschnittsklasse den Prachtbau mit scheelen Augen ansieht; er wurde nicht für seinesgleichen errichtet. Der Eintritt ist ihm verwehrt. Jedenfalls aber hat Ihr Korrespondent einen vortrefflichen Blick auf die Mauer-Metro-pole mit ihren besonderen Lebensbedingungen. Verleger werfen ihr Geld nicht zum Fenster hinaus; kommen wir also zur Sache.
Bis zur Stunde werden die Leute diesseits und jenseits der Grenze und wir mit ihnen durch Kurzfilme der westlichen Medien über die Lage unterrichtet. Es mag Leute geben, die an den geschnittenen Film glauben wie an geoffenbarte Religion; Ihr Korrespondent gehört nicht zu ihnen. Wir haben noch die empörte Feststellung des Staatschefs im Ohr, von einer beispiellosen Hetze, die gegen die DDR entfacht worden sei, eine Bemerkung aus der - vermutlich letzten - Rede anlässlich des obligatorischen Staatsaktes zum Gründungstag. Dieser Auffassung kann sich Ihr Korrespondent noch weniger anschließen. Wir müssen wohl zustimmen. Die mehr oder minder gewissenhaften Recherchen unserer Kollegen an den TV-Sendern spielen eine wichtige Rolle bei der Unterrichtung der Leute über das sie Angehende, angesichts der dauernden Abwesenheit ihrer eigenen Journaille. Enthüllungen mögen für den Apparat der DDR alles andere als angenehm sein, gleichwohl sind sie keine Hetze. Unser Herr Pleitgen ermahnte denn auch alle zu größter Sorgfalt, weil das Westfernsehen in der DDR die höchste Glaubwürdigkeit genieße. In der Tat steht der Klassenkämpfer hüben wie drüben vor einer neuen Situation; durch die Präsenz und den Einfallsreichtum nimmermüder Neuigkeitenjäger hat er so etwas wie einen Gegenspieler vor sich, dessen Waffen er nie genau einschätzen kann.
Der Abend scheint heute ruhig, nach dem Fackelzug vorgestern und einigen Straßenfesten unter stiller Teilhaberschaft der Polizei. Über die sicherlich abgehörten Telefone, solche Finessen sind heute weltweit üblich und dem Korrespondenten gewohnt wie die tägliche Rasur, hörten wir, dass zu Leipzig die bisher größte Demonstration ablaufe, bei der sich die Streitkräfte überdies maßvoller verhalten sollen, als an den Vortagen. Genaueres wissen wir nicht. Korrespondenten dürfen nicht nach Leipzig hinein. Sie sehen, dass wir so etwas wie den kleinen Belagerungszustand haben, einen, den niemand mehr ausruft, der dennoch besteht. Die Filme aus der Stadt Leipzig sind Videos; fragt sich, wie lange diese Verbindungen noch ungestört bleiben. Im Grand Hotel leben wir also wie in einer belagerten Festung, weniger in Wirklichkeit, als in unserer Einbildung. Die Stimmung ist panisch-gedrückt, man ist bereit zur Flucht, als könnte das Haus jederzeit gesprengt werden, und ist andererseits begierig, Augenzeuge einer Katastrophe zu sein, die sich auch noch über Druckpressen und Schneidetische trefflich zu Geld machen lässt. Die älteren Herrschaften unter uns entsinnen sich noch der Tage des 17. Juni 1953 und halten es nicht für ausgeschlossen, von ihren Fenstern aus einen guten Schnappschuss zu machen, wenn ein russischer Panzer zum Beispiel einen jugendlichen Steinewerfer zu Brei zermalmt, was ein hoch bezahltes Fotodokument ergeben könnte. Nur dürfen Sie dabei nichts Schlechtes denken, denn es geht natürlich um die Menschenwürde, nicht um die des Zermalmten, sondern um die Abstraktion dieser Würde. Nicht zum ersten Mal beobachte ich, wie schwer man sich als Miterlebender dem Ereignis, über das nüchtern reflektiert werden soll, auf Dauer entziehen kann. Bürgerkriegsähnliche Zustände herrschten an den Vortagen, als sich der greise Führer, Generalsekretär, Staatsratsvorsitzende und Chef aller Sicherheitsorgane des kleinen Landes vor einem Dutzend geladener Partei- und Landesfürsten als erfolgreichen Staatsmann feiern ließ. Unter der Hand ist hier ein anachronistischer Personalkult am Leben erhalten worden, nicht weit entfernt vom Pomp des rumänischen Theokraten. Deshalb versagten wir es uns auch, dem Fackelzug aus Anlass des Jahrestages der DDR beizuwohnen. Es handelt sich um ein bei uns in Deutschland höchst beliebtes Ritual, mit einem Beigeschmack von düsterer Verschwörung, von reinigendem Feuer. Ihr Korrespondent hat sich umgesehen in der Welt, und er müsste lange suchen, um ein ähnliches Szenarium beschreiben zu können. Einer unserer Chauffeure, die für Leute wie uns beschäftigt werden, um uns herumzufahren und unter Kontrolle zu halten, erklärte am Tag nach der heroischen Fackelei diplomatisch: "Da ham Se watt vasäumt!" Leider ist beim Berliner nie auszumachen, wann er seine Empfindung ausdrückt und wann er die Clownsgrimasse zieht; wer das Temperament der Leute kennt, der stellt sich darauf ein. Es handelt sich um eine tief sitzende Skepsis, die sich von Generation zu Generation vererbt und an der keine Ideologie bislang etwas zu ändern vermocht hat. Fontane nennt den sprachlichen Ausdruck dieser Haltung gelegentlich: Berlinismen.
Als Gast des Hauses Grand Hotel kann man sich nicht beklagen; die Küche blieb gut, der Service auch, aber es ist das alte Lied, und es klingt überall gleich: Solange kein Kanonendonner gehört wird, ist alles im Lot. Dennoch zogen wir uns lieber auf unsere Zimmer zurück, belauerten die Bildschirme und Telefone, hoffend, dass die Nacht für eine Überraschung gut war. Bei unserem Whisky oder Cognac verspürten wir ein aufgeregtes Unbehagen, aber es fielen in der Nacht vom 9. zum 10. Oktober keine Schüsse, nicht in Nähe des Grand Hotel, und übrigens hätte man uns wohl im Ernstfall gebeten, das Haus zu räumen, und uns in sicheren Fahrzeugen bis an die nahe Grenze, als der Peripherie der ganzen Aufführung, expediert. So wird es bei einigermaßen diszipliniert veranstalteten Revolutionen und Konterrevolutionen in der Regel gehalten. Die Mehrzahl der Theater spielen, die Cafés sind durchgehend geöffnet, und früher kam sogar noch der Milchmann ins Haus, brachte der Lehrjunge des Bäckers den Beutel mit Brötchen, während draußen eine Epoche zu Ende ging, für die gerade Herrschenden immer eine Bel-Epoque. Immerhin schätzen Augenzeugen, dass zu Leipzig mehrere Hunderttausend Menschen auf den Beinen waren; kein Zweifel, es ist kurz vor zwölf für das neue Tausendjährige Reich Honeckers, oder es ist sogar schon später. Ich halte Sie auf dem Laufenden; die Sache ist spannend genug.
Es grüßt Sie, Ihr ***