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21.11.1989
ОглавлениеLieber, verehrter Herr Z.,
Ihrer Antwort vom *** entnehme ich, dass Sie mit dem Rücktritt des Staatsratsvorsitzenden, den daran anschließenden Irritationen und überstürzten Umbesetzungen in Regierung und Parlament den weltpolitischen Teil des Vorganges DDR für abgeschlossen halten. Und in der Tat dürfte sich der Vorhang alsbald senken und die Szene beenden; die Szene, nicht das ganze Stück. Das Welttheater spielt derzeit ohne Dramaturgie. Ich hätte Sie angerufen, wenn es möglich gewesen wäre, allein im Augenblick scheint alle Welt mit aller Welt telefonieren zu müssen, um den neuesten Stand der Dinge zu melden. Das hiesige, ohnehin nicht gerade leistungsfähige Netz, ist hoffnungslos überlastet, und wir begeben uns sozusagen außer Landes, will sagen, in den Westteil der Stadt, um eine Telefonverbindung nach draußen zu bekommen. Revolutionen sind bis zu einem gewissen Grade Sache der Stimmung. Davon hätte ich Ihnen immerhin einen mündlichen Bericht geben wollen; die Dinge mögen sich von Ihrer Rheinprovinz aus ein bisschen anders ausnehmen.
Zunächst haben wir hier eine neue Regierung, die freilich bisher wenig mehr als guten Willen zeigen konnte. Sie wurde eifervoll und schnell gebildet. Tag für Tag erreichen uns nun Sondermeldungen über Ab- und Umbesetzungen, über freiwilligen Rücktritt und unfreiwilligen Hinauswurf; die Tragödie wurde abgeblasen, der Hanswurst beherrscht die Bühne, das Komödienspiel, mit bitterem Ernst vorgetragene Sentenzen und unsterbliche Rodomontaden. Die Rebellanten fragen sich wohl, ob das denn alles gewesen sei. Bei Licht betrachtet, fehlt es dieser Regierung genauso an plebiszitärer Basis wie der vergangenen, das heißt, wir werden unter uns besser von einem Staatsstreich sprechen. Noch immer sind die Demonstrationen in den mitteldeutschen Zentren unerbittlich hochpolitisch, die Straßenbewegung hat einige ihrer Ziele durchgesetzt, die wesentlichen Nebenziele, da sie im Grunde genommen nicht wusste, was sie wollte. Der Höhepunkt, der Augenblick, da alles auf der Kippe stand, Kopf oder Zahl ist überschritten, es sei denn, die Volksmenge findet ihre politischen Hauptziele noch und versteht sie auch zu definieren. Die Französische Revolution, die das klassische Muster aller nachfolgenden lieferte, erfand in ihrem Fortgang die Volksgesellschaften. Das hatte seine Logik; allein wie es hier weitergeht, ist sehr fraglich. Was ich Ihnen neulich schon erklärt habe, das gilt noch heute; die neuen Gruppierungen sind bisher keinen Schritt weiter, was sie selber betrifft, und die neu gegründeten Parteien sind nichts Neues, sondern nur Abklatsch der ältesten Vorbilder, christlich-demokratisch oder sozialdemokratisch, dazwischen wuchern die buntscheckigen Sekten.
Dies gilt für die hiesige, neu formierte Sozialdemokratische Partei, die kein Programm und keine Satzung erfinden musste, sondern sich auf die wechselnden Vorstellungen vom Sozialstaat, mittlerweile sozialdemokratische Tradition, zurückziehen konnte. Dem Vernehmen nach wurde sie in allerletzter Stunde von einem kleinen Häuflein Sozis in einem Ort am Rande Berlins, also in der Provinz, gebildet, und ihr Führungspersonal scheint auch danach. Ihr Korrespondent kann es sich nur schwer vorstellen, dass ausgerechnet bei diesem Akt der Gründung einer neuen Sozialdemokratischen Partei die Staatssicherheit durch Abwesenheit geglänzt haben soll. Dass sie womöglich die Hand im Spiele hatte und sich sowohl selbstmörderisch, als auch vorausschauend, als Mitbegründer betätigt haben könnte, ist nicht auszuschließen und keineswegs so abenteuerlich, wie es sich hier liest. Bei den Christdemokraten liegt der Fall kaum anders, da die DDR selber schon eine solche christlich-bürgerliche Auffangpartei aus den Tagen des Überganges 1945 bis 1949 ins Leben gerufen hatte.
Alle aber fordern jetzt Neuwahlen, wie es nur natürlich scheint; denn das wichtigste gemeinsame Nahziel dürfte die Errichtung einer durch Wahlen legitimierten Kammer sein, ein Parlament. Es wäre schon viel, wenn man sich auf einen nahen Termin einigen könnte, obschon ein solcher die noch gut intakten Parteien der Blockzeit in der Vorhand sähe; denn von einem Umsturz oder gar einer Revolution sieht Ihr Korrespondent heute bereits weithin kaum noch einen Ansatz.
Der Rubikon aller Ängste und Sorgen war mit dem Zusammenbruch des Warschauer Bündnisses überschritten. Hat jetzt die Konsolidierung der kommunistischen Reformkräfte, die sehr spät zur Volksbewegung stießen, sich nur träge bewegten, aber einen Beitrag zu den Veränderungen geleistet haben, wie man einräumen muss, begonnen? Und wie könnte im staatlichen und politischen Raum aussehen, was nach der Reform entsteht, sollte sie kommen, was keineswegs vorhersehbar ist? Vermutlich würde sich wenig ändern bei einer nachfolgenden pro-sozialistischen Regierung, bei verewigter deutscher Teilung und der Treue oder Wiederbelebung des alten Bündnisses. Die wirtschaftliche Agonie wäre vielleicht um einige Jahre verzögert, an dem Zusammenbruch ist indessen nicht zu zweifeln, weil die Ansätze zur Erneuerung zu schwach wären. Wir hätten es mit einer abgemilderten DDR zu tun, weniger waldursprünglich, in einer Mittlerrolle zwischen Ost und West günstigenfalls, einem Staat, der den Anschluss an den Westen sucht, ohne die Bindung zur UdSSR ganz aufzugeben. Dies gilt solange, wie sich die Union als Führungs- und Großmacht in Europa behaupten kann; wirtschaftlich bleibt eine wie auch immer geprägte DDR vollkommen abhängig, und sie wird ganz einfach dem zufallen, der sie bezahlen kann. Aber das ist die Papierform des Rennpferdes, das erst noch aufs Geläuf geschickt werden soll. Dem Zusammenbruch des Staates DDR könnte der sturzartige Infarkt ihrer schwachen Wirtschaft folgen, deren wahrer Zustand allmählich aufgedeckt wird, was furchtbare Folgen hätte.
Massenausreisen und Massenbesuchsreisen - es wurden bis jetzt rund 10,5 Mio. Visa ausgegeben, so die amtliche Mitteilung - stehen im reziproken Verhältnis zur Absicht der geordneten Grenzöffnung; anders ausgedrückt, es sind innerhalb weniger Wochen fast zwei Drittel der Bevölkerung hin- und hergereist, eine gewaltige Zahl, wenn man bedenkt, dass eine wahrscheinlich ziemlich große Gruppe gar nicht reisen kann, aus Alters- und Krankheitsgründen oder auch wegen persönlicher Verpflichtungen.
Im Grunde genommen stehen wir beim Ausgangspunkt, zurück bis in das Jahr 1961; die Situation heute ist ähnlich, nur mit dem Unterschied, dass die Gesellschaften diesseits und jenseits der Elbe sich voneinander weg entwickelt haben, wie sehr, das wird sich zeigen und hoffentlich nicht zur Katastrophe führen.
Damals, vor nunmehr knapp dreißig Jahren, konnte der Ostflüchtling noch leicht integriert werden. Die jetzt offenbar mehrmals oder gar regelmäßig hin- und herfahren, werden von einem unstillbaren, einem manischen Hunger nach Waren, der Gier nach Teilnahme an den Formen westlichen Lebens, dem Konsum und der Sucht nach Erleben getrieben. Das knappe Begrüßungsgeld von rund hundert Mark hat sie nur noch gieriger gemacht. Sie verkloppen hier, was sich verkaufen lässt, tauschen wie besessen zu fast jedem, auch dem höchsten Wechselkurs ihr Geld in West-Mark, wie die Mark hier noch immer respektvoll und hartnäckig genannt wird, und das, obwohl die Generation, die den Begriff als Gegensatz zur Ostmark geprägt hat, in der Mehrheit längst ausgestorben sein dürfte. Das geht also bis weit in die Tage der beiden Währungsreformen zurück. Noch sind die Preise hier staatlich festgesetzt, aber unter der Hand inflationiert die Mark der DDR; die drüben gekauften Gegenstände, meist der Unterhaltungselektronik, werden hier wieder an den Mann gebracht, um mit dem kleinen Gewinn das Geschäft weiter anzukurbeln. Das betrifft den kleineren, den gewiefteren Teil der hiesigen mitgelaufenen Revolutionäre. Irgendwann landen die Sachen natürlich beim Endverbraucher und gehen ihrer endgültigen Bestimmung entgegen, nämlich der zu verschleißen und das möglichst rasch. Auch Gebrauchtwagen werden herübergebracht, freilich in geringerem Umfang und unter Duldung der Behörden, hüben wie drüben. Sollte es zum Umzug in das "Haus Europa" kommen, werden die hiesigen Wohnungen darin ziemlich ausgeleert sein.
Nun zeigt es sich, dass die herben Vorstellungen Walter Ulbrichts von der ökonomischen Natur des östlichen Sieges über den Westen den Kern des Problems gut beschrieben haben. Erinnern Sie sich an die Losung eines der frühen Parteitage zur Wirtschaftspolitik der SED? Da hieß es doch: "Überholen, ohne einzuholen", was dem Eingeständnis gleichkam, mit einer mehr oder minder offenen Marktwirtschaft nicht Schritt halten zu können, und der Versuch war, eine andere Lebensweise als Ersatz für den dauerhaft installierten Mangel (oder einen höheren Grad Menschlichkeit und Weisheit, als uns die Schöpfung zu bieten hat) zu empfehlen. Konsequenzen wurden allerdings daraus nie gezogen, im Gegenteil, der Druck auf die Gesellschaft im ganzen wurde noch erhöht, einmal abgesehen davon, dass die SED ihrerseits unter einem hohen Druck der Besatzungsmacht gestanden hat. Und so gesehen wurzelt das, was sich jetzt im kleinen Grenzverkehr tut, all die Überhitzung, die Maßlosigkeit und die ökonomische Unvernunft, tief in der Vergangenheit. Andererseits spürt Ihr Korrespondent auch erste, ernüchternde Sorgen. Sollte die Entwicklung ungebremst und ungesteuert im Selbstlauf weitergehen, so dürften die geringen Reserven bald aufgebraucht sein. Viele fürchten um den Verlust sozialer Besitzstände, um ihre billige, vielleicht nicht gute, aber bezahlbare Wohnung, die dem Mietwucher zum Opfer fallen könnte. Sie sorgen sich um den Arbeitsplatz, um die Sozialversicherung, um die, wenn auch jämmerlich geringe Rente, fürchten, dass ihr Erspartes abgewertet wird, sollte die Ost-Mark frei gehandelt werden. Mein Gewährsmann aus der Kneipe des Volkes interpretierte alle diese komplizierten Fragen auf seine Weise, einfach und schlicht: "Der Kurs is uff zehn jeklettert; so war det seinazeit schon mal, so um neunundvierzich rum. Manche jeben heute schon dreißich, Varückte jibt et eben imma ... wie irre ... immahin, hundert Mark Bejrüßungsjeld könn dausend Ost werden. Noch könn Se unta Umständen dadavon anderthalb Jahre lang de Miete bezahlen. Fracht sich wie lange." In der Tat, so ist es, wenige Wochen nach der Maueröffnung.
Sie fragen mich, ob und wie sich die Leute hier die Wiedervereinigung vorstellen. Zurückgefragt, kennen Sie jemand in Ihrem rheinischen Kreis, der die Wiedervereinigung noch für denkbar, erstrebenswert und möglich hält, geschweige denn eine Vorstellung von der eigentlichen Prozedur hat, der sie heute unterliegen würde, träte dieser Fall wirklich ein? Wüssten Sie einen Politiker aus Ihrer näheren Umgebung, dem nicht die Haare zu Berge stehen bei dem Gedanken, die Geschichte hätte ausgerechnet ihn dazu ausersehen, vierzig oder fünfzig Millionen auf Marktwirtschaft dressierte Bundesbürger mit zehn oder siebzehn Millionen realer Sozialisten zu vereinigen, er müsste sich denn einreden es handele sich bei den Westdeutschen um trefflich umerzogene, in Wettbewerbskategorien denkende Musterknaben der Demokratie und bei der restlichen Zahl Deutscher um so etwas wie zu kolonisierende weiße Neger, an denen vor der Vereinigung erst noch eine beinharte Firmierung vorzunehmen ist. Außerdem würde die freie Kapitalmasse natürlich in das "unterentwickelte Land" strömen, mit Gewalt Eigentum bilden, und das heißt, die Ansässigen, die keine Rücklagen besitzen, kein Kapital sammeln konnten, denen durch eine Währungsreform noch genommen würde, wären auf Generationen hinaus in der Hinterhand. Nehmen Sie den einfachen Fall, den eines sogenannten volkseigenen Werkes von, sagen wir, fünfzigtausend Beschäftigten. Ein solches Werk, das meist strukturbestimmend sein dürfte, ist unverkäuflich, wie auf der Hand liegt. Natürlich werden die einen wie die anderen Narren trotzdem versuchen, es zu verkaufen. Ihr Korrespondent, der den Wahrscheinlichkeiten bei der Neuverteilung Ostdeutschlands allein deshalb nicht vorgreift, weil ihn Ängste bei der Vorstellung schütteln, es könnten die realen Praktiken der Wirtschaftsprozesse aus vierzig Jahren westlichen Teildeutschlands in Bausch und Bogen auf die zu kolonisierenden, die eroberten Teile im Osten ohne Rücksicht auf die Verhältnisse angewendet werden. Und so wird es doch mit hoher Wahrscheinlichkeit kommen.
Die DDR war kein Nationalstaat; sie hätte es nach dem Willen ihrer frühen Führer vielleicht sein oder werden sollen, aber sie wurde es eben nicht. Vor ihrer Gründung und in ihren ersten Jahren propagierten diese Führer so etwas wie das Prinzip eines deutsch-sozialistischen Nationalgedanken, wobei es keineswegs ganz ausgemacht ist, ob es sich hierbei lediglich um taktische Winkelzüge zur Verhinderung der NATO gehandelt hat. Denken Sie an die Sammlungsversuche und den östlichen Volkskongress, vielmehr die verschiedenen Volkskongresse aus jener Zeit. Auf das ganze Deutschland Anspruch zu erheben, dafür gab es etliche gute Gründe historischer, sozialer und politischer Art. War die DDR also kein Nationalstaat - und ein solcher hätte vorerst selbstredend als sozialistischer Staat von Moskaus Gnaden gedacht werden müssen -, so konnte er sich noch weniger auf ethnische oder rassische Grundlagen berufen. Mecklenburger, Preußen, Pommern und Sachsen und Thüringer bildeten zusammen mit dem Heer der Flüchtlinge aus dem deutschen Osten im Laufe der Entwicklung wohl einen bestimmten staatlichen Zusammenhang, aber sie waren nicht das deutsche Volk.
Wir müssen weit zurückgreifen, wenn wir die Ursprünge der deutschen Teilung begreifen und mit den heutigen Zuständen verbinden wollen. Mit dem Sieg der Alliierten über Deutschland beginnt das Dilemma. Einen Volksstaat auf revolutionärer Grundlage zu bilden, dessen Angehörige auf Verfassung und Gesellschaftsvertrag, wenn Sie so wollen, vereidigt werden sollten, eben das Staatsvolk, dieser Gedanke konnte nie verwirklicht werden, falls ihn überhaupt einer gedacht haben sollte, und falls die Nachkriegspolitik, soweit sie in deutschen Händen lag, nicht ein Durchwursteln, ein Anpassen und Aufarbeiten war. Die zwei deutschen Staaten stellten einen bloßen Kompromiss unter den Siegern dar, unter Zustimmung und in Gemeinschaft mit Stalinisten und stalinistisch eingestimmten deutschen und jüdischen Emigranten plus den Glaubensdemokraten, die im parlamentarisch regierten Mehrparteienstaat das Non plus ultra der Regierungskunst und im Liberalismus die Verwirklichung der allgemeinen Freiheit erblickten. Zwischen diesen Extremen und deren Schattierungen bewegte sich die Volksmasse, ohne eine Ahnung zu haben, was mit ihr demnächst geschehen würde, naturgemäß an seinem nächsten Schicksal interessiert und dem Grundsatz lebend: Zuerst kommt das Fressen, dann kommt die Moral!
Der wirkliche Volksstaat sollte ein Traum bleiben, ohne ein zustimmendes Volk war er eben nicht zu machen. Daher mussten die Ostdeutschen zu dauernder Demonstration ihres Staatsbewusstseins angehalten werden. Selbst Leute, denen ausnahmsweise die Besuchsreise gestattet wurde, mussten sich darüber befragen lassen, ob ihr Auftreten auch jederzeit dem eines Bürgers der DDR würdig gewesen sei, als ob es eine Auszeichnung gewesen wäre, ihr anzugehören. Der Staat hatte in seinen Flegeljahren sogar einen Nationaldichter, Becher, zu einer eigenen Hymne veranlassen können.
Die ganze Staatsaffäre reicht bis weit ins vergangene Jahrhundert zurück, als sich die proletarische Klasse ihre Befreiung nur als gesamtnationale und revolutionäre Tat vorstellen konnte. Paradoxerweise fällt die Formierung der Sozialdemokratie mit dem Aufstieg des wilhelminischen Kaiserreiches zusammen, als ob der Nationalstaat den marxistischen Internationalismus revisionieren wollte oder musste. Auch aus wirtschaftspolitischen Gründen hätte das Volk der DDR ein zu heroischen Leistungen und zur Hinnahme von Mängeln befähigtes Staatsvolk sein müssen, aber Zulauf hatte die junge DDR vor allem unter zwei Aspekten:
Ein Staat der in weiter Zukunft - etwa um das Jahr 1990 - Freien und Gleichen wäre zu begründen; jeder sollte dann im Genuss der selben Rechte und Pflichten sein. Dies war unmittelbar nach dem Zusammenbruch eine ungeheuer große Verlockung, ein geistiges wie politisches Abenteuer, die unser deutsches Volk mehr als andere Völker stets bereit ist einzugehen, mögen auch alle geschichtlichen Erfahrungen dagegenstehen, und wenn alle Klugscheißer zur praktischen Vernunft raten.
Der zweite Gesichtspunkt bestand in einem großen Komplex, dem Antifaschismus der unterschiedlichsten Prägung. Das - Nie wieder! oder das - Wenigstens nicht gleich! beherrschte das öffentliche Denken namentlich unter den Angehörigen der jungen Generation, die den Krieg noch in seiner härtesten Form kennengelernt hatten, und die ihren Glauben an Hitler, an die deutsche Sendung mit Gefangenschaft, mit Krankheit und Verarmung bezahlen mussten. Sehen Sie sich um, mein werter Herr Verleger! Sie werden in Ihrem Bekanntenkreis einige typische Vertreter dieser Schicht treffen, und zwar in allen Lagern. Ein gut Teil der uns heute, Ihnen wie mir, so unverständlichen Akte des Byzantinismus, der Unterwerfung unter die Sieger und der öffentlichen Selbstkritik, der Denunziation und der Mimikry, der Verbiegungen und Verbeugungen geht mit Sicherheit auf den Komplex der Verpflichtung zurück, gegenüber der eigenen Geschichte etwas gut machen zu müssen. Und dieses deutsche Volk ist sicherlich wie kein zweites zur kollektiven Selbstreinigung bereit gewesen, entgegen allem Zweckgerede der Altemigranten, die nicht genug bekommen können an Sühne und deren Rachegelüste unbefriedigt geblieben sind.
Auf eines können Sie sich immer verlassen: dieses Volk will es stets besonders gut machen, und so wird auch die jetzt fällige Phase der Bestrafung, Entsühnung und Belohnung für wirkliche oder eingebildete Standhaftigkeit wie für den bezahlten Verrat eine unmäßig große Dimension bekommen, wenn nicht alles täuscht, und wenn es das ostdeutsche Volk nicht tatsächlich fertig bringt, verspätet noch Staatsvolk zu werden, das heißt, politisch handeln lernt.
Irgendwo auf dem Wege in die Utopie geriet der Staat dann allerdings in die Stagnation, verlor seine Ziele aus den Augen oder reduzierte sie auf wechselnde Objekte, versachlichte seine Politik, in der verzweifelten Hoffnung, endlich aus den ökonomischen Zwängen herauszukommen. Eskalierender Altersstarrsinn und störrischer Machtwahn, so stellt sich die Führungsclique dem Beobachter nicht erst seit heute dar. Hinzu kam die Unverhältnismäßigkeit der Mittel im Kampf gegen Staatsfeinde und Dissidenten, bei Korrumpierung großer Teile des als dienend gedachten Apparates. Die Dissidenten stellen naturgemäß den kleinsten aktiven Teil der Bürgerrechtler, Dissidenz setzt die Zugehörigkeit zu einer Glaubensgemeinschaft voraus, aus der man sich löst. Damit hat das Volk aber nichts zu tun. Als Gruppe sind Dissidenten auch nicht zu beschreiben, da sie sich regelmäßig bekämpfen. Sie sind bloß dissident, das ist alles. Diese Männer und Frauen wurden geduldet, aber kaum verstanden, wie ich Ihnen schon mit Blick auf den Stadtbezirk Prenzlauer Berg beschrieben habe. Nachsichtige Duldung aber heißt noch lange nicht, dass man ihnen auch die Fähigkeit zur politischen Führung zutraut, eher das Gegenteil ist der Fall.
Um auf Ihre Frage zurückzukommen, ob sich die deutsche Einheit am Himmel Europas abzeichnet; bedenken Sie eines: Der Osten hat heute keine andere Alternative als den Anschluss an das, was die Leute hier instinktiv als Deutschland bezeichnen. Sollten sie sich an Polen oder Dänemark anschließen? Zweitens handelt es sich um etwas historisch Begründetes. Der Reichsgedanke hat in den Köpfen der Sachsen und Mecklenburger, der Pommern und Thüringer in der Form des modernen Staates, eines Rechtsstaates, vielleicht unklar, aber umso sicherer Platz gehabt. Viel schwieriger scheint Ihrem Korrespondenten eine Antwort auf die Frage, wie der Westen mit dem Problem eines einzigen deutschen Staates in Europa umgehen wird, angesichts einer NATO, die alsbald ohne einen sie stabilisierenden bewaffneten Gegner an ihrer Ostgrenze leben muss, und einer Bundesregierung, deren Politik, ob sie es will oder nicht, sich notwendigerweise nach Osten zu richten hat, und zwar aus der gleichen Ursache, die der DDR zum Verhängnis wurde, der Wirtschaft, dem Handel. Die Welt beginnt, sich sichtbar zu verändern. Wir werden, soweit es die Staatsstreichregierung Modrow betrifft, mit einem kurzen Interim rechnen müssen, denke ich, deren Aufgabe bloß darin besteht, die Diktatur abzulösen und die DDR fix in einen Mehrparteienstaat umzubauen, mit einem Parlament, einer neuen oder leicht überarbeiteten Verfassung. Das wird verhältnismäßig schnell gelingen, weil es die leichtere Arbeit ist, und weil nichts ganz neu erfunden, sondern nur angepasst werden muss.
Wir werden also demnächst viele, sehr viele politische Reden vor dem Hohen Haus Volkskammer zu hören kriegen, aber nur wenig Praktikables zur Wirtschaft. Darin nämlich liegt bei dem Interim der Staatsstreichregierung das Handicap. Und die Leute werden das Unvermögen der neuen Herren, eine auf Wachstum gerichtete Industriepolitik einzuleiten, geradezu riechen.
Aber diese künftige DDR des kurzen Interims wird ein Staat sein, in dem jeder frei reden und schreiben kann, um alsbald zu merken, wie wenig Einfluss diese Art Freiheit im beschränkten bürgerlichen Leben auf die gesellschaftliche Entwicklung wie auf die Politik wirklich hat. Wer tatsächlich im Besitz der Macht ist, dem sind diese demokratischen Vehikel Mittel, jedoch nicht Zweck. Es werden sich die Leute frei bewegen können, bei etwas höherem Konsum und mit allen kulturzerstörerischen Nachteilen dieses Gesellschaftstyps. Mehrere Eigentumsformen werden eine kurze Frist lang vielleicht nebeneinander existieren können, aber später, als die Entwicklung behindernd, aufgegeben werden, unter großen Opfern der Gesellschaft und mit Schmerzen für den Einzelnen. Das Niveau der allgemeinen Standards, vor allem im Bereich der sozialen Versorgung, muss zwangsläufig und längerfristig niedriger liegen als in der Bundesrepublik. Und es wird später allgemein sinken müssen, nach der Logik, dass weniger unter einer größeren Masse aufgeteilt werden muss.
Heute noch mag manch einer der Staatsstreichler von einer Föderation zwischen zwei deutschen Staaten und verschiedenen Wirtschaftsverfassungen als dauerhaft nebeneinander bestehend, träumen, auch davon, dass er seine Haut unbeschädigt in dieses heraufziehende Zeitalter hinüberretten werde.
Nächtens tagen im Grand Hotel die neuen Herrschaften mit den Vertretern des Westens. Pläne werden im Dutzend angeboten; wer sie liest, wie wir es gelegentlich tun dürfen, wenn uns einer in die streng geheimen ökonomischen Papiere einen Blick gestattet, der versteht das diskrete Lächeln des Bourgeois, eines Bank-Managers, Industrieführers angesichts solch bodenloser Einfalt und oft sympathischer Phantasien nur zu gut.
Man rüstet sich zur Reise nach Bonn; man, das ist eine Regierungsdelegation, und sie hofft auf ein Gnadengeschenk von einigen Zig-Millionen; die Summe ist derart lächerlich hoch, dass die Bankiers am Frühstückstbuffet, von dem sie sich nur sparsam bedienen, wegen ihrer meist angegriffenen oder auch schwachen Gesundheit, darüber in bestürztes Schweigen fallen, Leute, die ihr Kleingeld zählen und zwar täglich. An und für sich würden die Kosten ja aufzubringen sein, wären nicht die Nebenumstände.
Sie werden Ihrem Korrespondenten entgegen halten, es handele sich um trübe Aussichten, ganz richtig. Sie werden die Ihnen so teure rheinische Republik in einigen Jahrzehnten voraussichtlich nicht wiedererkennen. Hier jedenfalls wird es nicht mehr ganz so stürmisch weitergehen, aber mit umso nachhaltigeren Veränderungen. Finden die neu gewendeten Parteien erst einmal den Anschluss, so wird das Feld nach der Mitte gleiten, nicht erdrutschartig, aber in der Tendenz, weil gar nichts anderes bleibt, es sei denn der nationale Verrat, den wir aber vorerst ausschließen wollen. Ob Sie einen deutschen Nationalstaat, eine vergrößerte Bundesrepublik, wovon sicherlich nicht wenige träumen, oder eine Föderation mit einem quasi-sozialistischen Einsprengsel am Tropf des deutschen Steuerzahlers haben werden, das kann Ihnen zur Stunde keiner genau vorhersagen, nicht einmal die Vertrauensleute der Banken mit dem schwachen Magen.
Was jedoch eines Tages wieder aufflammen kann, ist die Sehnsucht nach einem besseren Staat; denn was vor uns liegt, wird unvollkommen sein, wie jede Republik, weshalb auch Robespierre nicht bei der Verfassung anfing - er ließ sie gar nicht erst in Kraft setzen -, sondern beim Menschen, nach dem Motto: Ein guter Republikaner ist ein guillotinierter Republikaner. Ein guter Dissident ist ein kaltgestellter Dissident. Das wird unsere Enkel angehen. Wir haben nur den Schlussakt einer Utopie zu beschreiben.
Mit vorzüglicher Hochachtung vor der verlegerischen Leistung und dem höchsten Respekt vor Ihrer menschlichen Größe bin ich
Ihr ***