Читать книгу Briefe aus dem Grand Hotel - Helmut H. Schulz - Страница 8

15.01.1990

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Mein Herr Z.,

mit diesem Brief melde ich mich bei Ihnen zurück; die Ruhetage haben mir wohlgetan. Mit einer Betrachtung über das Berliner Wiedervereinigungssilvester liefere ich Ihnen einiges nach, das lehrreich und stimmungsvoll ist. Die Straße Unter den Linden war bekanntlich vor dem Brandenburger Tor quer abgesperrt, das Tor selber geschlossen. Diesseits wie jenseits erhoben sich Beobachtungstürme, von denen aus das feindliche Lager tief eingesehen werden konnte. Das siegreiche Volk hatte sich vor dem Tor, besser auf dem alten Pariser Platz, versammeln dürfen um diszipliniert zu feiern, das heißt, den Erbauungsreden der Politiker zu lauschen, Liederchen zu trällern, zu tanzen und zu trinken und was dergleichen mehr Belustigungen sind. Das sollte nicht ohne Mitwirkung der Institution Fernsehen abgehen. Ich nehme an, dass einige Stunden lang fröhlich getollt werden sollte, später wären die Reden zu verdauen und ganz zuletzt ein Feuerwerk mitsamt den Feierglocken zu absolvieren gewesen. Es kam anders. Auf dem Platz war ein mächtiges Gerüst mit einer Projektionswand errichtet worden; darauf hätte sich das Volk selber sehen und zujubeln können. Ich denke, dass zu diesem Zeitpunkt die Macher, die professionellen Drahtzieher das Steuer übernommen hatten, die Manipulation begann. Um es kurz zu machen, das Fernsehgerüst hielt dem Druck der Straße nicht stand, es knickte ein, verwegene junge Menschen hatten das Brandenburger Tor erklommen und damit begonnen, die Quadriga zu demontieren. In dem Menschengewoge feuerwerkelten einige Amateure, und die schnellen medizinischen Dienste pflügten sich zu den Verwundeten dieses Freudenkrieges Gassen auf. Dann kam der Neujahrstag, still und grau, und zeigte einen leeren Platz, mit Unrat übersät; es war die graue und triste Stimmung, wie sie für das Klima hier typisch ist. Zu hören ist, dass die Quadriga auf dem Brandenburger Tor ruiniert worden sei und ihrer kostspieligen Restaurierung entgegensehe. Dazu wird sie heruntergenommen und in eine Spezialwerkstatt gebracht. Über die Wiederaufstellung - wann, das ist noch unklar - ist ein Krach unter Berliner Lokalhistorikern darüber entstanden, in welche Richtung die Göttin das Gespann denn nun ursprünglich gelenkt habe, ob in Richtung Alexanderplatz oder in Richtung Siegessäule. Das Problem ist von brennendem öffentlichen Interesse und beschäftigt die hiesigen Zeitungen ganz erheblich. Sie wissen vielleicht, dass die Quadriga ein Symbol des Sieges ist, von Franzosen geraubt und von Deutschen wieder zurückerobert und erneut aufgestellt wurde. Alle Kenner des Problems erklären, dass die Quadriga von West nach Ost (oder eben umgekehrt) gedreht und gewendet wurde, alles unter Assistenz neidischer Außenmächte. Stellt man sie jetzt in Ostrichtung auf, könnte der weitere Osten dies als Drohung oder als einen Affront auffassen; macht man es umgekehrt, würden sich unter Umständen die uns lieben Franzosen beschwert fühlen. Sie sehen, es ist das alte Lied. Die Deutschen machen es keinem ihrer Nachbarn recht. Ihr Korrespondent las kürzlich sogar einen Vorschlag, um des lieben Friedens willen auf das Wunderding Quadriga überhaupt zu verzichten und den Wagen mitsamt Göttin und Gespann in einem Museum zu deponieren. Dann wäre allerdings das Brandenburgische Tor oben kahl, was auch nicht schön aussieht.

Sollten Sie jetzt auf die Idee kommen, hier würde sonst nichts von Bedeutung geschehen, so täuschen Sie sich. Hinter den Kulissen wird gewaltig Politik gemacht. Auch das Grand Hotel steht noch und die Gäste sind nach anfänglichem Schreck über die Eroberung des Brandenburger Tors wieder an die Basis zurückgekehrt. Lassen Sie uns also weiter an dem Faden spinnen, gleich der Parze, der mit dem Ende dieses Kleinstaates zu tun hat; dieses Ende ist mittlerweile schon sichtbarer geworden. Mir fallen eben einige liegen gebliebene Papiere in die Hände, deren Gehalt ich Ihnen nicht vorenthalten darf. Hätten Sie es gedacht und für möglich gehalten, dass vierundzwanzig Stunden nach Annullierung der Mauer rund zweieinhalb Millionen Visa ausgegeben worden sind? Es darf als eine ganz erhebliche physische Leistung angesehen werden, in so kurzer Zeit zweieinhalb Millionen mal die Stempelhand zu heben und zu senken, selbst wenn Sie sich diese Arbeit als einen freiwilligen Beitrag der Behörden zu den Montagsforderungen denken. Nach Auskunft offizieller Stellen sind es wirklich so viele Stempeleien gewesen, die sich das ungeduldige Volk entweder in den Pass oder in den Personalausweis, den man hier mit vierzehntem Lebensjahr ausgestellt bekommt, verpassen ließ. Inzwischen ist auch eine wichtige finanzpolitische Entscheidung getroffen worden, um dem Geldmangel der Ost-West-Reisenden abzuhelfen, nachdem die kommunalen Kassen durch die Auszahlung der Begrüßungsgelder erschöpft sein dürften. Dieses Begrüßungsgeld wurde ja übrigens dem Wirtschaftskreislauf umgehend wieder zugeführt, was sich an den Umsätzen des Mittelstandes wie der Warenhäuser leicht ablesen lassen wird. Es handelte sich bei der Auszahlung an jeden einzelnen Begrüßten um Summen in einer Größenordnung, die niedriger liegt, als wir dem hiesigen Portier für die Besorgung eines Taxis anzubieten wagen. Also, es wurde ein Valutafonds gebildet, in den Ost und West, Bundesrepublik und DDR, Geld einschießen werden. Das warenhungrige Volk darf sich nunmehr in den Besitz von zweihundert Westmark setzen, wie die D-Mark hier noch immer eigensinnig genannt wird. Die ersten einhundert Mark bekommt man beim Umtausch wie eins zu eins, die zweiten zum Kurse von eins zu fünf, macht Summa summarum, sechshundert Ostmark. Man muss diese allerdings haben, um in den Genuss der zweihundert Westmark zu gelangen. Sechshundert Mark sind hier etwa ein mittlerer monatlicher Durchschnittsverdienst, so mögen die Konstrukteure dieses Verfahrens gedacht haben. Wie wir aus Erfahrung wissen, setzt jede finanzpolitische staatliche Maßnahme solcher Art sogleich ein großes schöpferisch ökonomisches Potenzial frei; denn der tatsächliche Kurs richtet sich keineswegs nach den Einfällen akademischer Volkswirte oder nach dem Finanzbedarf des Fiskus, sondern nach den schwer kalkulierbaren Bedürfnissen der Leute, eben der Umtauscher.

Eine Variante kann Ihnen Ihr Korrespondent empfehlen: Sie könnten, erstens, aus Ihren Ersparnissen sechshundert Ostmark realisieren und in zweihundert Westmark umwandeln. Diese in Ostmark zurückverwandelt, hätten Sie tausend Ost zu weiterer Disposition, und so weiter. Bei einer Durchschnittsmiete von einhundertzwanzig Mark - und das wäre eine hohe Miete etwa in einem der Hochhäuser am Alex, für ein Loch am Prenzlauer Berg zahlen Sie vielleicht dreißig oder vierzig Mark - könnten Sie immerhin fast ein Jahr lang Miete zahlen. Vor zwanzig Jahren hat es hier gelegentlich der Fertigstellung der Appartmenthäuser den Vorschlag gegeben, die Mieten sozial zu staffeln, daraus wurde nie etwas. Die Wohlhabenden zahlen genau soviel wie die Armen in ihren Löchern. In der Statistik gab es freilich gar keine. Oder Sie machen es noch anders, Sie entnehmen Ihrem Konto zehntausend Ostmark, suchen sich einige arme Hunde, denen fünfhundert an den sechshundert fehlen, und machen halbe-halbe, wenn jene sich die zweiten hundert Westmark mit Ihrem Geld ertauscht haben, und so weiter, solange der Vorrat reicht. Glauben Sie nicht, dass ich Sie mit erfundenen Scherzen unterhalte.

Vor den Bankschaltern bilden sich lange Schlangen, können erhebliche Umsätze in Gewinn und Verlust gemacht werden. Vorausblickende Leute beginnen damit, ihr Geld in Warenfonds anzulegen; die Deichsel steht auf Marktwirtschaft, zunächst auf der des Kleinhandels, und Sie dürfen davon überzeugt sein, dass die Leute hier nicht viel dümmer sein werden, als die Kleinhändler in der Periode nach der Währungsreform in der vereinigten Rheinprovinz. Da fing es ähnlich an. Aber ohne Zweifel ist diese Maßnahme noch nicht das letzte Wort in Sachen Währung.

Seit der ersten Januarwoche ist der kleine Grenzverkehr normal geworden; man gewöhnt sich fast zu schnell an solche Normalität, die noch vor wenigen Wochen undenkbar gewesen wäre. Ab ersten Januar müssen nämlich Deutsche ihre Fahrten mit den öffentlichen Verkehrsmitteln der Stadt Berlin auch dann bezahlen, wenn sie bloß arme Brüder oder Schwestern sind. Viel reicher sind sie zwar jetzt auch noch nicht, aber man muss sie langsam an die neuen Verhältnisse heranführen. Schmerzliche Erfahrung muss gemacht werden. Freilich wird der Obolus einsichtigerweise vorerst in Ostgeld erhoben, die Fahrt zu rund 2,50 als Einheitstarif; früher zahlte das revolutionäre Volk der DDR nur 0,20 Ostmark als untersten Tarif auf der S-Bahn und als Einheitspreis bei U-Bahn, Straßenbahn und Bus. Es wird Ihnen vielleicht ganz lehrreich sein, zu hören, dass der S-Bahn-Tarif seit den zwanziger Jahren fast gleich geblieben war, was immer sich die Volkswirte der DDR bei diesem ökonomischen Unsinn gedacht haben mögen. Für einen Einkaufsausflug in die freie Welt, ausgestattet mit den bei der Bank rechtmäßig ertauschten und erwarteten oder erstandenen zweihundert Mark, könnte eine vierköpfige Familie runde 20 Ost an Fahrgeld loswerden. Ihr Korrespondent nimmt an, dass diese Regelung der Reiserei einen Dämpfer aufgesetzt hat. Menschenströme sieht man am 15 Januar 1990 jedenfalls nicht mehr in Westrichtung fahren oder aus ihr ankommen.

Wir müssen noch beim lieben Geld bleiben. In dieser Woche hat die Staatsstreichregierung mit einer Preisreform begonnen. Wie es heißt, war Kinderbekleidung zu hoch subventioniert, nämlich mit zwei Millionen (ich habe diese Zahl ungeprüft aus einer Zeitung übernommen, gebe sie jedoch mit Zurückhaltung weiter. Zwei Millionen hat Ihre Yacht gekostet, wie man hört, will sagen, dass wir höher hinaufgehen müssen). Diese Preisstützungen sollen nunmehr wegfallen, oder sie sind es schon. Ersatzweise bekommt die Familie, die sich Kinder leistet - hier noch vergleichsweise sehr viele, trotz liberaler Abtreibungsgesetze -, fünfundvierzig Mark monatlich. Ob das wirklich reicht, um die gestrichenen Subventionierungen auszugleichen, um die lieben Kinderchen, die unvernünftigerweise in diese neue eisigkalte Welt gesetzt wurden, zu kleiden und zu beschuhen, werden die Familienväter und vor allem die Vielzahl der alleinstehenden Mütter feststellen müssen. Ferner sind schon Mieterhöhungen angekündigt, und die niedrigen Energiepreise sollen bedeutend angehoben werden; alles das sind Kleinigkeiten gegenüber den wirklichen Problemen, die eine Umwandlung öffentlichen Besitzes in Eigentum mit sich bringen wird; es würde sich um die enteigneten Liegenschaften, Häuser und Grundstücke in und um Berlin, in ganz erheblicher, heute kaum zu schätzender Anzahl, drehen. Hier zieht ein Dauerkonflikt am Himmel der Wiedervereinigung auf; denn ohne Frage werden die Westeigentümer mit dem Hinweis, dass ihnen auch Unrecht geschah, unbarmherzig zuschlagen, schon deshalb, weil sie in vielen Jahren der Umerziehung zum Geldverdiener gelernt haben, dass Freundschaft und Bruderliebe die eine und Geschäft eine ganz andere Sache sind. Warten wir es ab, ob die Politiker das Problem überhaupt begreifen, und wenn sie wider Erwarten begreifen sollten, wie werden sie es lösen?

Aber fleißig ist die hiesige Volkskammer, das muss ihr der Neid lassen. Ab heute sind nämlich die Gesetze über „Joint Ventures" in Kraft. Wer will, der kann bis zu neunundvierzig Prozent Anteile an einem volkseigenen Betrieb erwerben, wer nicht will, könnte es auch. In Einzelfällen soll sogar ein höherer Kauf möglich gemacht werden. Sie erinnern sich vielleicht an eine meiner Bemerkungen, dass man auf Biegen und Brechen versuchen werde, zu verkaufen, was unverkäuflich. Im Grand Hotel, das mittlerweile zur Zentrale aller Wirtschaftsverhandlungen zwischen neutralen und weniger neutralen Unterhändlern geworden ist, mit kostspieligen Arbeitsessen und allem, was zu einem ordentlichen Umgang von Leuten gehört, die wirklich was zu sagen haben, also den Stillen im Lande, ist die Meinung unter Bankiers und Finanzmaklern über diese „Joint Ventures" geteilt. Leute, die ihr Kleingeld zählen sind skeptisch und unterziehen den Leichnam einer eingehenden Prüfung, ehe sie ihm einen Sarg zumessen. Diese Probleme sind nur politisch zu lösen, wird Ihrem Korrespondenten bedeutet, und keineswegs durch freundschaftliches Küssen auf Mund und Wangen, wie es gelegentlich dezent geübt wird, nicht hier, nicht im Foyer des Grand Hotel. Bankiers, pardon, diese Leute heißen nun schon Banker, küssen nicht. Unglaublich schnell reißen jetzt die Dämme der Unterwerfung, zuerst in der Sprache, aber die Volksbewegung war ja auch eine Befreiung der Sprache. Also? Vortrefflich. Es sind Leute wie Edzard Reuter hier gewesen, die sich gewiss nicht auf die Socken machen mit dem Ziel, eine Wüste fruchtbar zu machen; so ist er auch bald wieder abgereist.

Ihr, wie immer, wohlaffektionierter ***


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