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16.01.1990

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Mein werter Herr Verleger,

wundern Sie sich nicht, wie unregelmäßig meine Briefe bei Ihnen eintreffen? Das liegt nicht an der Post, der Deutschen, die Lenin, der Große, als Vorbild für den Aufbau des sowjetrussischen Kommunismus auserkoren hatte, sondern daran, wie Ihrem Korrespondenten die Einfälle zuwachsen. So habe ich eben den Stand der Entwicklung resümiert, allein für mich. Was denken die Leute, denkt das Volk, über alle diese Bewegungen, das freie Spiel der politischen Kräfte im plötzlich grenzenlosen Raum?

Zunächst einmal ist deutlich an den Tag getreten, was Ihr Korrespondent mit seiner guten Nase am Abend des 4. November 1989 voraussah, die große Ernüchterung, und zwar auf beiden Seiten. Das Ausmaß ist aber doch erstaunlich, und ich hätte es nicht für möglich gehalten. Die lieben Brüder und Schwestern sind bei den Verwandten sozusagen in die Scheuer eingefallen und machen keine Anstalten, das im Wohnzimmer aufgeschlagene Notbett zu räumen, höchstens um den Nachfolger anzukündigen. Während diese armen Verwandten finden, dass sich die reichen Verwandten doch recht aufgeblasen bewegen, kommt man sich näher. Nimmt die Liebe im Bruder-und-Schwester-Bereich ab, so steigt der Sympathiepegel bei den Politikern, die in allen Lagern an den neuen Ketten schmieden, für die einen Brüder wie für die anderen. Die Volksbewegung zerfällt beschleunigter in zahllose Gruppen unterschiedlicher Interessen; die einen streben nach der liberalen Wirtschaftsfreiheit, andere, ängstlichere, wollen mit dirigistischen Mitteln den befürchteten Absturz dämpfen oder überhaupt eine neuartige Wirtschafts- und Sozialstruktur, nennen wir es Idee, installieren. Wieder andere möchten ungeschehen machen, was sie angerichtet haben. Die Zeit scheint den Aktiveren günstig, da der Westen bereit ist, sich seinen Sieg über den utopischen Ideenstaat, heiße er nun Sozialismus, Kommunismus, Diktatur des Proletariates oder die Diktatur der dominierenden Rasse, etwas kosten zu lassen. Die bis vor Kurzem noch schrittmachende Intelligenz, längst untermischt mit obskuren Kräften und zwielichtigen Figuren, erlebte wohl wieder einmal den Aufzug eines völlig neuen Zeitalters, mit herrlich freien Menschen. Sie sieht sich heute vom habgierigen Volk isoliert und ist von ihm abgestoßen. Sie sind nicht die Ersten, die das Volk enttäuscht hat, und sie werden nicht die letzten sein. Werfen Sie gefälligst einen Blick auf die Revolutionen, an denen wir als Europäer die westliche Sphäre des Kontinentes immer mal wieder und seit dem Zerfall des Ancien Regime genesen lassen wollten, so fällt die Mangelhaftigkeit all dieser Versuche leider sehr auf. Der gemischte Chor hiesiger in Panik geratener Revolutionseliten hat deshalb eine neue Tagessatzung erlassen. Sie lautet: Rettet die DDR! (sic!) Es soll eine Sammlungsbewegung entstehen. Was Gott mit Blick auf die Urheber dieser Parole verhindern wird. In unserem Falle wächst also die Kluft zwischen dem Mann auf der Straße und dem Wollen der Eliten. Das tritt nicht so leicht offen zutage, schon gar nicht spiegelt es sich in der Presse und in den Medien, aber im Hintergrund organisieren und formieren sich die Erben der kleinen Rebellion, der elende Bodensatz schäbiger Nutznießer, und die werden dann auch kassieren und Karrieren machen. Sie werden sich an das schon durchgebildete System anschmiegen und anlecken, dem Geschmeiß der Berufspolitiker, der Kaste, in die man aus dem Sumpf eines Kreis- oder Landesverbandes nach oben treibt, wie die Blase aus dem gärenden Morast. Versteht man sich zu halten, so bleibt man bis an das Ende seiner Tage in höchst angenehmen Lebensumständen. Und Sie kennen die fetten und älter werdenden Fressen, die uns von den Kathedern der Wahlveranstaltungen angrinsen, die vorsichtig lavierenden und grimassierenden, die schimpfenden und tröstenden, die uns gefährlich einschläfernden Clowns!

Zu allem Unglück ist dieses Handwerk leicht zu erlernen. Der intellektuelle liberale Kern der Bewegung, das Neue Forum und die sektiererische Linke, oder sagen wir lieber, einige Gruppen dieses Spektrums, Gruppen, die vielleicht gerade soviel Mitglieder zählen, wie ich Finger an einer Hand habe, haben keineswegs vor, die ihm im Grunde doch liebe und teure DDR einem kapitalistischen Markt zu überlassen. Er sucht nach eigenen Formen, betrachtet sich als Erbe genau des Staates, den er nicht gewollt hat. Es ist eine unglaubliche Paradoxie eingetreten. Das Volk aber will keine selbständige DDR oder auch bloß einen reformierten Nachfolgestaat, nicht einmal den losen Verbund mit dem anderen deutschen Teilstaat will es. Vor allem will es keinen sozialistischen Staat, und diese Grundhaltung könnte die Sozialdemokratie bei den bevorstehenden Wahlen noch zu spüren bekommen, eine SPD, die mit irgendeiner Art Sozialismus nichts mehr am Hut hat. "Lieber Kohl-Plantage, als sozialistische Versuchsfarm" schreit es jetzt von den Plakaten der Demonstranten. Die Altparteien, wie SED/PDS, auf diesen Wandel werden wir noch zu sprechen kommen, die Freien Demokraten, die Christdemokraten, die Nationaldemokraten und einige andere Organisationen mit Parteien- und Fraktionsstatus, durchlaufen das, was sie selber als Reformprozesse anpreisen. Sie suchen nach dem nahtlosen Übergang in den künftigen Staat. Dass etwas Durchgreifendes in diesem Jahr 1990 geschehen wird, ist indessen allen klar die an den Vorgängen teilhaben. Lm Augenblick herrscht Ruhe, vielmehr der Alltag eines sich scheinbar konsolidierenden Regimes. Die Kammer peitscht in rascher Folge Gesetze durch und setzt sie blitzschnell in Kraft, die Mehrzahl zielt auf Umwandlung der Besitzstände oder auf deren neuerliche Sicherung. Wie das, fragen Sie? 0 ja, Sie werden es nicht für möglich halten. Sie werden fragen, haben die keine anderen Sorgen? Gleichwohl ist es wahr: In den wenigen Wochen seit dem Untergang des Honeckerstaates wechselten eine ganze Reihe von Liegenschaften die Besitzer, gingen in die Hände verschiedener Wende-Politiker über, keineswegs nur den neuen Spitzen der PDS oder ihrer Vertreter in Regierung und Kammer. Sie haben dort die Mehrheit. Das alles ging freilich mit den vollständig und vorläufig rechten Dingen des Rechtsstaates zu, der Gesetze, die er macht, nur durchsetzen muss, um für wirkliches Recht ausgeben zu können, was notdürftig als Gesetz gelten kann. Es gingen also für ein Kick und ein Ei die Häuser und Lustvillen der alten abgetretenen Führungsschicht in die Hände der neuen Führungsschicht über, der Eppelmänner und der anderen christlichen Männer, alle im Besitz der frommen Geldgier. Wie es scheint, setzen die neuen Herrschaften alles daran, möglichst schnell den gleichen Grad an Korrumpierbarkeit zu erreichen, wie sie den westlichen Parlamentarier und Regierer zieren. Beati possidentes! Glücklich sind die Besitzenden!

Die alte SED hinterlässt der neuen SED, jetzt genannt PDS, ein beträchtliches Vermögen, dessen Höhe bis heute kaum bekannt ist. Dazu gehören Mengen von Grundstücken und viele lauschige Plätze, Erholungsheime allein an die siebenundzwanzig und natürlich reserviert für bestimmte Schichten in der Partei selbst. Die PDS sagte zwar, dass sie nur diejenigen Objekte behalten werde, die von der SED rechtmäßig erworben wurden, aber wie macht man das, etwas rechtmäßig zu erwerben, wenn man allein regierende Partei war, wenn man alle Gesetze machen konnte, die Kauf und Verkauf von Liegenschaften im allerweitesten Sinne beeinflusst hat? Inzwischen weiß man, was noch alles zum Wirtschaftsimperium der Partei gehört, eine Vielzahl von Zeitungen und Druckereien, womit die Partei zwei Fliegen mit einer Klappe schlug. Dazu kommen eine Menge Betriebe, zentral geleitete Wirtschaftszweige, deren Erlöse, falls es Erträge gab, in die Parteikassen flossen. Von einem Herren, der so etwas wie ein Cagliostro des Vereins gewesen zu sein scheint, werden Sie noch des öfteren hören. Er heißt Schalck-Golodkowski und gehört als Figur in den Personalbestand einer südamerikanischen Kleinrepublik. Ihr Korrespondent möchte für jetzt nur fragen, wie es denn eigentlich kommt, dass diese Partei derart katastrophal im großen gewirtschaftet hat, wenn sie es doch zugleich verstand, sich einen eigenen Hausbetrieb zur Kapital und Warenbeschaffung in solchem Umfange zu organisieren. War den Herrschaften eigentlich alles Wurst? Und zuletzt, es sollte ja immerhin besonders wissenschaftlich in der sozialistischen Wirtschaft zugehen, im Gegensatz zur chaotischen Marktwirtschaft kapitalistischer Provenienz; da wäre doch zu erwarten, dass die aktuelle Lage in der Wirtschaft bekannt gewesen ist. Leute, die zwei Dutzend Jahre politische Ökonomie unterrichteten und Legionen von Wirtschaftswissenschaftlern, die mit der Lösung verschiedener "Hauptaufgaben" beschäftigt waren, wo hielten sie sich eigentlich auf? Denn es ist nicht länger zu verheimlichen: miserabler hat kein Unternehmer je gewirtschaftet, schon deshalb nicht, weil er die Pleite, wenn er sie geschoben hatte, nicht überlebte. Seine Dummheit wird stante pede bestraft, und er kann keinen anderen als sich selbst für den Schaden haftbar machen, den sein Unvermögen verursachte.

Also, die Entflechtung von Partei und Wirtschaft ist nur ein Anfang, und selbst dieser bescheidene Beitrag zur Lösung der Wirtschaftskrise muss der jetzigen ökonomischen Führung stückweise abgerungen werden. "Sei im Besitze und du bist im Recht", diese Lehre aus dem "Wallenstein" ist den hiesigen Ökonomen mit der Muttermilch eingeflößt worden. Alles, was in der Wirtschaft geschieht, sehen sie vorrangig aus dem Blickwinkel des politischen Ökonomen, das heißt, der Macht. So tagten in der vergangenen Woche die Direktoren aller Parteiunternehmen und empfahlen die Fortdauer des Imperiums, freilich ohne zu sagen, wer denn nun bezahlen soll, was sie bis heute angerichtet haben. Das "mündige Volk" ist unterdessen zu Warnstreiks übergegangen und schreibt bittere Worte auf die Transparente. Ihr Korrespondent muss Ihnen gestehen, dass er nicht ganz begriffen hat, um was da im einzelnen gestreikt wird. Im Großen und Ganzen wohl um Besitzstände. Nun, das ist klar, aber die Staatsstreichregierung ist bis jetzt eher zu vorsichtig bei Eingriffen ins Sozialgefüge gewesen, als dass sie leichtfertig einen Konflikt mit der Masse suchte. Vielleicht aber sind diese Streiks auch nur ritualisierte Muskelspiele, der Versuch, auszuprobieren, wie das zugeht, wenn man im Streik steht, nämlich im Kampf.

Gestern waren wir in Leipzig, in der verbotenen Stadt, dem Zentrum des Aufstandes. Was wir gesehen und erlebt haben, davon morgen. Das Nachdenken über die Wirtschaft hat Ihren Korrespondenten sehr erschöpft.

Mit Respekt, Ihr ***


Briefe aus dem Grand Hotel

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