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Auf der Flucht
ОглавлениеMachmud. Die Füße, sie tragen uns weg aus unsrer Stadt.
Achmed. An beiden Seiten der durchlöcherten Straße liegen die Körper, die es nicht mehr schafften.
Machmud. Sie zu begraben, dazu fehlt die Zeit.
Beide. Denn geschossen wird aus vollen Rohren, und vielen fehlt das Wasser und die Kraft, den letzten Dienst zu tun.
Achmed. Der Schmerz brennt uns unter den Füßen.
Machmud. Und in den Köpfen klopft die Angst.
Chor (unsichtbar). Wir ziehen in Kolonnen bei Tag und bei Nacht und wissen nicht, wohin können wir die erschöpften Körper legen. Das was uns geblieben ist, tragen wir auf der Haut, und der Schweiß tropft vor der letzten Trockenheit.
Sirna. Die Beine werden schwach auf dem langen Marsch, Kinder gibt’s, die erschöpft am Straßenrand liegen, weil die Mütter mehr als zwei nicht tragen können. Schwer lasten die Leiden und Verluste, die Stimmen schluchzen in den Zeitenlauf hinein.
Machmud. Sand schlägt in die Gesichter, dass die Augen erblinden. Ringsherum reihen sich die Trichter, in deren Tiefen wir die Toten finden.
Achmed. Nicht nur unter den Füßen brennt der Schmerz, es brennt die ganze Stadt mit unserm Herz. Es brennt und bombt und donnert durch Tag und Nacht, Dächer stürzen von den Wänden. Was an den Enden soll dann noch stehen?
Machmud. Angst und Sorgen wachsen über den Morgen hinaus, es zerschlägt, was Generationen bauten und schafften. Wer soll die Verantwortung tragen, wenn es keinen gibt, der davon etwas versteht?
Achmed. Die Eintracht der Jahre ist zerrissen, nun ist sie nicht mehr wert als ein Fetzen Tuch. Dächer stürzen, fliegen durch die Stadt, Mord und Tod hausieren im wilden Wahn.
Sirna. Was wir in den Köpfen mit uns tragen, es sind Schmerz und Trauer und die vielen Fragen. Was wir in den Händen halten, wird den Tag nicht überdauern, wenn das Wasser fehlt und die Schwäche uns befällt und Kinder aus letzter Kraft den weiten Weg folgen. Möge es der Herrgott in seiner Gnade bewirken, dass es das junge Leben bis ans Ende schafft.
Machmud. Der Tag geht zur Neige, und ich blicke auf, dass mir der große Führer zeige, wo wir die Nacht verbringen können ohne Mord und Tod. Denn die Menschen sind erschöpft vom langen Marsch, dass sie das Ruhelager für ein paar Stunden brauchen.
Sirna. Die Finger krampfen im Schmerz der Sehnsucht, wund haben sich die Füße gelaufen.
Achmed. Was gestern war, es zählt nicht mehr, zerschossen liegt das Haus in Trümmern.
Sirna. Mit den Alten, die sich nicht wehren können, mit dem Lehrer, dem wir so vieles verdanken.
Machmud. Zerschossen mit all den Werken bleibt zurück, was unsere Erinnerungen zeitlebens bindet.
Achmed. Es sind Freundschaften von Kindesbeinen an, von denen viele ihr Leben verloren.
Sirna. Die ersten Sterne leuchten auf, und wir sehnen uns nach einem Platz der Ruhe.
Machmud. Wir brauchen die Ruhe für die Nacht.
Achmed. Wir brauchen das Wasser für den Durst.
Sirna. Und das so viel mehr brauchen die Kinder, die mit uns gehen und die ganze Sache nicht verstehen.
Chor (unsichtbar). Tränen der weggerissenen Liebe begleiten den Marsch, an ihr haften die Erinnerungen des hoffnungsvollen Lebens. Sie bleiben zurück und liegen gestapelt zwischen bemalten Wänden, gefaltet und zusammengelegt und verknüpft an beiden Enden. War einst und trotz der Armut das Zusammenleben doch friedlich, gepflegt wurde die Nachbarschaft durch Hilfe und Verständnis. Nun ist die Wärme dieses Geistes erkaltet, Geiz und Neid zerstören, was an Gutem durch Generationen gewachsen war.
Fürwahr, der Glaube führte die Herzen auf den Wegen der Bescheiden- und Zufriedenheit, er war der Führer des Zuhörens und der Stille im Denken. Achtung durch die Jahre des Lebens fand, was die Alten der Jugend lehrte, denn wir begriffen mit den Herzen, dass Weisheit in der Tiefe lag, was sie an Abenden erzählten in der Dämmerung der ausgehenden Tage und geduldig auf die Fragen warteten und in der Antwort das Leben erklärten. Sie sprachen in der Orientierung, die sie von ihren Vorvätern erworben hatten und ließen keinen Zweifel an der Wahrheit, diesen Lebensweg fortzusetzen.
Achmed. Wie finster ist es um die Herzen dann geworden, als Menschen das beiseite schoben, was ihnen als Weisheit gegeben wurde.
Machmud. Sie waren geblendet und ertaubt, dass sie es nicht verstanden, was in schlichter Rede ihnen von Jugend an vorgetragen wurde.
Achmed. Darum kann es kein gutes Ende nehmen, wenn Überheblichkeit die gute alte Wahrheit verlacht und schließlich verschüttet und verwirft. Denn die Wahrheit trägt gebündelt die großen Werte im Mantel der Weisheit.
Machmud. Doch weder die Augen der Jugend noch ihre Herzen erkennen die Größe, sie sind gefesselt durch die Kleinigkeiten der äußeren Dinge und lassen sich von innen heraus nicht belehren. Sie meinen, dass sie die Dinge des Lebens besser verstehen.
Achmed. Und in ihrer Dickköpfigkeit erleben sie nun das Blasenlaufen der wunden Füße und sehen hinter sich die schwarzen Schwaden der in Trümmer fallenden Städte.
Machmud. Nun sagen sie, dass der Zerfall weder beabsichtigt noch vorauszusehen war, dass es fremde Mächte sind, die im Wahnsinn des Hasses plündern, schänden und morden. Es geht soweit, dass sie unersetzbare Kulturgüter mit Hämmern und Äxten zerschlagen, dass sie mit Bulldozern und Tanks die geheiligten Stätten zerbrechen und zerwalzen.
Achmed. Das kann doch nur das Ende sein, dem wir zu entkommen suchen, wenn hinter uns Stadt und Dörfer im Erdboden versinken, Frauen und Kinder geschändet und die Männer enthauptet werden. Was bleibt dann für uns noch übrig?
Machmud. Es ist die große Frage: Was wird uns die Zukunft vorhalten? Ich fürchte, dass uns der Schreck durch die Glieder fahren wird.
Chor (unsichtbar). Fürchterlich schlägt der Donner nieder, wir zittern in den Köpfen und in den Gliedern, heulend fegt der Sturm als der große Rächer, krachend bersten Wände, stürzen Dächer. Verstaubt kommen die Körper mit eingefallenen Gesichtern, die Zeichen der Erschöpfung sind tief eingegraben. Es blitzt mit donnernden Salven über den Lichtern, dass kaum noch Leben in den Gemäuern zu erwarten ist.
Was mit guten Geistern durch die Jahre ging, es ist vergangen und kommt nicht wieder trotz größtem Verlangen. Vom Wege ab formieren sich die Menschen, sie stehen mit Frauen und Kindern und den Alten. Sie alle stehen erschöpft mit Wunden an den Füßen, und in den Augen vergraben sind Schmerz und Trauer. Was noch vor ihnen liegt, sie wissen es nicht, so bleibt die Furcht, dass es schlechter nicht werden kann.
Sirna. Hier passt mein Leben gar nicht her, wo einst Frieden durch die Gassen zog. Hass und Feindschaft machen’s schwer, wo in Jahren milde Güte leicht und freudig wog. Es gab die engen Bande des Für- und Miteinanders, als Not und Krankheit am Menschen zehrten. Es gab das Helfen mit dem Beistand von Herz und Hand, was alle selbstlos taten, eine Sitte, sie war altbekannt.
Dass es dann so anders kam mit Gewalt und Hass, so unerwartet anders wurde alles über Nacht, dass Menschen geschlagen und gefoltert wurden, dass der Friede mit den Dächern niederbrannte. Ich begann die Gesichter genauer zu betrachten und sah die Angst und Hoffnungslosigkeit in ihren Augen, da spürte ich den brennenden Schmerz zutiefst in mir, dass ich stand und erstarrte mit jagendem Herz.
Es brauchte seine Zeit, die Eigenatmung zu bemerken, die Minuten vergingen, den Willen zu stärken, was nicht geschah bis in die letzten Stunden hinein. Es zieht sich in die Monate und Jahre mit dem Ringen, um ein Leben mit mehr Reife und Erkenntnis gründiger zu verstehen, warum es kommt, dass große Werte so sinnlos zerschlagen werden.