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Vom kurzen Steg

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"Diese Menschen haben nichts gelernt", fuhr der betagte Pater mit dem leicht nach vorn gekrümmten Rücken fort. "Sie sind trotz Schule böse Menschen geworden, weil sie das Wort Gottes entweder nicht verstanden oder verworfen haben. Sie hätten nach seinem Wort fragen sollen. Sie taten es nicht und verluderten in ihrer geistigen Beengtheit mit der Folge, dass sie das fünfte und die anderen Gebote gedanken- und bedenkenlos übertreten. Das konnte ich damals ihren Kindergesichtern nicht ablesen, als sie vor mir auf der Schulbank sassen. Hätte ich es damals geahnt, ich hätte sie als unbelehrbar nach Hause geschickt, denn so viele Kinder warteten vergeblich auf einen Platz in der Schule, um im Lesen und Schreiben unterrichtet zu werden. Dafür reichten die Räumlichkeiten der Schule nicht, und ich war der einzige Lehrer." Das ging Dr. Ferdinand gründlich durch den Kopf, weil er sich fragte, ob ein Lehrer es erwarten dürfe, dass alle Kinder gute Menschen werden, wenn sie Unterricht bekämen und noch gute Noten in der Schule schrieben. Die Welt müsste dann doch viel besser sein, wenn die Schule in der Lage wäre, gute Menschen heranzubilden. Doch der Teufel in der Welt ist kein Dummkopf, er führt seine Leute mit blendender Bildung, hoher Intelligenz und einer fertigen Sprache vor, in der hypnotische Kräfte stecken, die die menschliche Vernunft ins Verderben schickt. Er fragte deshalb den Pater, ob er das nicht zu pessimistisch sieht. "Mag sein", antwortete er, "aber glauben Sie mir, ich sage es aus meiner langjährigen Erfahrung, der Spalt zwischen Pessimismus und Optimismus ist ein sehr schmaler. Es bedarf nur eines kurzen Steges, den schmalen Spalt der Realität nach beiden Seiten hin zu überqueren, weil die Realität in einer tiefen Schlucht schlummert und nur wie die Spitze des Eisbergs hervortritt. Natürlich sieht die Eisbergspitze anders aus, je nachdem wie sie von der Sonne beleuchtet wird, weil eine Seite im Licht und dafür die andere Seite im Schatten ist, wo aber der ganze Eisberg nicht erst ans Tageslicht kommt. Und da liegt das Problem. Ähnlich ist es mit dem Menschen, wenn er noch auf der Schulbank sitzt, Sie sehen ihm in die Augen und glauben seinen Charakter zu erkennen und können es nicht begreifen, wenn er sich ganz anders entpuppt."

Dr. Ferdinand stieg der Schluchtabbildung nach und fragte ihn, wie er sagen konnte, jene Kinder, die sich später nicht zum reifen Menschen entpuppt hatten, als unbelehrbar nach Hause zu schicken, wenn er es damals geahnt hätte. "Sehen Sie", sagte der alte Pater, "das Leben ist kurz, und so gibt es nur wenige Chancen, ein Mensch zu werden, während für den Unmenschen die Chancen viel häufiger sind. Die Kinder mit den harmlosen Gesichtern, die den Keim zur Menschenverachtung bereits in sich trugen, verwehrten anderen Kindern mit denselben Gesichtern der Unerfahrenheit den Schulbesuch, weil es die Räumlichkeiten und ich als einziger Lehrer nicht schafften. Und da bin ich der Meinung, dass da im richtigen Augenblick die falsche Auslese getroffen wurde, weil unter diesen Kinder auch jene Kinder waren, die den Keim zur Menschlichkeit in sich trugen und bedauerlicherweise vom Bildungsprozess ausgeschlossen wurden, weil sie keinen Unterricht im Lesen und Schreiben und der Bibelkunde bekamen. Da mache ich mir den Vorwurf der falschen Auslese, den mir keiner nehmen kann. Oder glauben Sie, dass Sie es besser gekonnt hätten?" Dr. Ferdinand schaute dem betagten Pater ins Gesicht, der sich die Brille putzte, und musste nach Worten suchen: "Nein, das mit der Auslese zur richtigen Zeit, das hätte ich mit Sicherheit nicht gekonnt, dafür verstehe ich zuwenig vom Menschen." "Sehen Sie, nun verstehen Sie mich besser, denn das war mein Problem, das ich nicht lösen konnte, und deshalb halte ich den Selbstvorwurf aufrecht", sagte der Pater. "Gibt es denn Menschen, die das mit der richtigen Auslese zur richtigen Zeit können", fragte Dr. Ferdinand naiv. Der Pater: "Das weiss ich nicht, doch entbindet mich das ungelöste Problem nicht von der übernommenen Verantwortung als Lehrer, selbst wenn es unlösbar ist." Dr. Ferdinand erwähnte in diesem Zusammenhang, dass das Problem der menschlichen Geringschätzung auch bei Ärzten vorzufinden ist, die aus egoistischen Motiven heraus an der Gemeinschaft wie Ratten nagen, die sich dem Teamgeist widersetzen, weil sie darin keinen Vorteil sehen, die ihn zerstören, weil sie den Keim der Zerstörung in sich tragen und sich um die Nöte der Patienten nicht kümmern, weil ihnen die Menschlichkeit fehlt, von der sie nur dann sprechen, wenn es sie selbst betrifft.

Das verwunderte den Pater überhaupt nicht. Er nahm es mit dem kleinen Einmaleins auf, als er sagte, dass das nur eine logische Folge sei, wenn einer das Einmaleins mit [l] nicht gelernt hatte und später die [l] nicht von der [2] unterscheiden will, weil er die [2] für unteilbar hält. Es kam der Quadratur des Kreises gleich, und so liessen sie das Problem der Auslese bei der [l] bewenden. Die Patres nahmen Dr. Ferdinand mit zum Abendessen, der Zeuge eines ergreifenden Gebetes wurde, dass Pater Huben sprach: "Herr, sieh in unsere Herzen, die versandet sind, gib uns die Kraft, die heiligen Räume vom Sand zu befrein. Sag uns, wie wir's machen sollen, denn wir sind schwach geworden, den Sand heraus zu schaufeln, weil wir das Licht der Zuversicht verloren haben. Wir sitzen beengt und gedrückt und wissen nicht, wie wir uns noch helfen sollen, weil immer wieder die Sandlawinen von oben herabdonnern und uns mit Angst und Schrecken zuschütten. Wir zittern vor Dir, weil wir dein Wort nicht befolgen und uns der Mut fehlt, dein Wort ernst zu nehmen und es ohne Wenn und Aber in die Tat umzusetzen. Gib uns die Kraft, dein Wort so aufzunehmen, wie Du es willst und nicht, wie wir es wollen, weil wir da immer etwas weglassen, und die Lüge da beginnt. Dass Du die Armen und Hungrigen, die Verstossenen und Kranken nicht vergisst, das sprechen wir dir zu; wir sind uns aber nicht sicher, ob wir an diese Menschen genug denken und für sie genug tun, wenn wir vor dem vollen Teller sitzen und ihn leeren, denn im Teilen mit den Armen, da hapert es noch, weil wir zur Nächstenliebe uns selbst überwinden müssen. Herr, stelle die Weichen für den Frieden, denn wenn Du in die Herzen siehst, dann findest Du sie aufgewühlt wie den Platz vor deiner Kirche, wo die Reifen der Gewalt mit dem groben Profil tief das Kainsmal eingefahren haben. Morgen ist das Fest der Auferstehung, und die Menschen sind voller Erwartung. Nimm uns als deine Kinder an mit all unseren Fehlern und Sünden, die wir täglich begehen, weil wir schwach sind, und verstosse uns nicht. Gib uns das rechte Wort zum Beten und die Kraft des Glaubens, dass wir den Sand aus deinen Räumen heraus schaufeln und sie sauber fegen, damit wir dein Wort besser hören und uns nicht länger hinter der Taubheit verstecken. Darum bitten wir dich im Namen des Vaters, des Sohnes und des heiligen Geistes. Amen!"

Es gab eine leichte Kost mit saurem Hering, der herzhaft schmeckte, Salzkartoffeln und in Zitrone angemachtem, grünen Salat. Dazu wurde hausgemachter Zitronensaft getrunken, der gut gesüsst und durch Eiswürfel kalt gehalten wurde. Er löschte den Durst in erfrischender Weise, wobei die Zunge auf ihre Kosten kam. Nach dem Essen erzählte Dr. Ferdinand noch einige Anekdoten aus dem Hospital, und die Patres lachten auf, als er auf den Superintendenten zu sprechen kam, der jedesmal das Taschentuch aus der Hosentasche zog und sich solange vors Gesicht hielt und hinein schnäuzte, dabei das rechte Brillenglas verdeckte, bis er meinte, dass sich eine Antwort auf die Fragen bezüglich des rüden Verhaltens der Koevoet erübrigte. Die jüngeren Patres lachten sich schief, als er ihnen die Flucht des Superintendenten aus dem Besprechungsraum schilderte, wo er vor der Tür gefallen wäre, wenn Ferdinand ihn nicht aufgefangen hätte, dann auf die Toilette rannte, um sich vom restlichen Alkohol, den er am Abend zuvor mit dem Kommandeur anlässlich eines gemeinsamen Abendessens bis zur Augenröte genossen hatte, zu befreien und auf diese Weise einer Stellungnahme zum Antrag zweier Kollegen aus dem Wege lief, dass er dem Kommandeur der Koevoet von dem rücksichtslosen Vorgehen seiner Leute den Patienten gegenüber Mitteilung geben sollte, damit das in Zukunft unterblieb. Der betagte Pater schmunzelte und machte eine fast philosophische Bemerkung, als er sagte, dass es in Zeiten wie dieser schwer sei, Verantwortung zu tragen, weil die Prinzipien von Recht und Ordnung ihre Gültigkeit verloren hätten. Dr. Ferdinand stimmte ihm zu und fügte an, dass das wahrscheinlich für den Superintendenten auch zutraf, weil der sich solange auf der Toilette versteckt hielt und sich dort entleerte, bis die Anwesenden nach zehnminütigem Warten die Besprechung für beendet erklärten und den Raum verliessen. Es gab ein lachendes "Auf Wiedersehn!", als Dr. Ferdinand in den Käfer stieg, die Scheibe runter drehte, um den Patres ein frohes Osterfest zu wünschen, und ein Pater, ähnlich wie beim letzten Mal, sagte, dass es schön und interessant war und diesmal hinzufügte: "Da haben wir ja richtig lachen können." Der andere Pater hatte das Tor schon aufgeschoben, als Dr. Ferdinand das Licht anstellte, drehte und an der Torausfahrt noch einmal anhielt, um auch diesem Pater ein frohes Osterfest zu wünschen, dann die Fahrt über den Platz fortsetzte, der von den breiten Reifenspuren der 'Casspirs' in der Nacht von Karfreitag auf Karsamstag aufgewühlt wurde, und bei der ersten Linkskurve noch hörte, wie der Pater die schwere Kette ins Tor einhängte.

Dr. Ferdinand schaukelte sich langsam über die eingefahrenen Gräben, schob das Bodenblech kratzend über die aufgeworfenen Sandhügel auf der Strasse und schlug mit den Rädern in tiefe Löcher, die nicht zu umfahren waren, als ihm eine Kolonne von 'Casspirs' mit aufgeblendetem Fernlicht entgegenkam, dass er den Käfer am leichten Abhang der Strassenseite zum Stehen brachte, den Motor laufen liess, und der Kolonne die freie Fahrt überliess, die mit Getöse und fünf Fahrzeugen an ihm vorüberraste und ihn in eine dicke Sandwolke hüllte, dass er für einige Minuten von der Strasse nichts mehr sah. Er setzte die Fahrt fort, als die Strasse wieder zum Vorschein kam, und sah einen Esel am Strassenrand mit allen vier Beinen nach oben liegen, der offenbar von einem 'Casspir' mitgerissen und in den Tod geschleudert wurde, den ein zweiter Esel beschnupperte, um sich die Gewissheit zu verschaffen, der begriffsstutzig und störrisch daneben stand und dazu das rechte Hinterbein angewinkelt hielt. Er sah das Licht auf dem abgelegenen Wasserturm und wollte es diesmal nicht auf Leben und Tod ankommen lassen. So nahm er noch vor der lang ausgezogenen Rechtskurve den schmalen, rechts abgehenden Weg zum Turm, setzte den Gang zurück, um sich mit Kraft durch die hohen Sandbänke zu schieben, und erreichte mit Mühe den Aussenposten der Kontrolle. Soldaten mit entsicherten Gewehren nahmen die Kontrolle vor, denen er das 'Permit' zeigte. Sie unterzogen den Käfer der militärischen Inspektion mit dem erwarteten Misstrauen, leuchteten den Innenraum aus, verschoben die Sitze nach hinten und vorn, fuhren mit den Händen unter den Sitzen entlang, hoben das Ersatzrad im Kofferraum hoch, besahen sich den luftgekühlten Motor und gingen einige Male um das Fahrzeug herum. Sie gaben ihm das 'Permit' zurück und fragten nach dem Grund seiner Reise durch die Dunkelheit. Er sagte ihnen, dass er die Patres in der Missionsstation besucht hatte, die ihn noch zum Abendessen eingeladen hätten, was ihnen schliesslich reichte, um ihn weiterfahren zu lassen. Dr. Ferdinand fand den Wasserturm mit der aufgesetzten MG-Stellung zur Festung ausgebaut, um die herum zwei 'Casspirs' standen, wo über der Luke der Fahrerhauses Männer MG's nach links und rechts drehten, als hätten sie was im Visier. Er setzte die Fahrt auf dem ausgefahrenen Weg mit den aufgeworfenen Sandbänken fort, wobei er steckenblieb, bevor er die Strasse mit der langgezogenen Rechtskurve erreichte. Er setzte zurück, zog den Käfer aus dem Sand, wechselte von der rechten auf die linke Spur, und drückte den Fuss aufs Gaspedal, als der Käfer sich durch die Sandbank bis zur Strasse hoch wühlte. Es war dunkel über 'Angola', wo sich die Menschen in die Hütten gepfercht hatten. Einige Hunde, denen die Rippen und Hüftknochen herausstanden, streunten ziellos auf der Strasse herum, weil sie nicht fanden, was sie suchten, und liefen, mitunter auf drei Beinen, und alle mit eingezogenen Schwänzen dem Käfer im letzten Augenblick aus dem Weg.

Auf der Strasse waren keine Menschen, als Dr. Ferdinand auf der geteerten Strasse nach links abbog, und das Leben den Geist aufgegeben hatten, bis er nach einem Kilometer nach rechts abbog, die Räder noch einmal kräftig in ein Schlagloch schlugen, und er vor der Sperrschranke anhielt, wo auf dem zurückgesetzten Wasserturm zwei MG's in Stellung gebracht waren. Sechs Wachhabende versahen hier den Dienst, von denen einer vor, der andere hinter der Schranke patrouillierte, und beide die Gewehre in den Händen hielten. Er zeigte sein 'Permit' vor, hatte mehr Geduld als Verständnis, während zwei Wachhabende das Auto auf den Kopf zu stellen versuchten und trotzdem nichts fanden, weder im Innen- noch im Kofferraum, dem sie das Reserverad herausnahmen und wieder hinein legten. Bodenblech und Kotflügel gaben ebenfalls nichts her. Er war nun im Dorf, in dem kleine Mannschaftswagen Patrouille fuhren, auf denen junge Soldaten auf längs gestellten Bänken sassen, die die Gewehre zwischen den Beinen hielten. Dr. Ferdinand zog den Zündschlüssel heraus, als der Käfer unter dem Dach des Abstellplatzes stand, streifte in der Veranda die Sandalen ab, holte sich eine Zigarette aus dem Wohnzimmer und zündete sie an, als er auf der Stufe zur Veranda sass.

Ostern stand vor der Tür. Es war nicht ein Ostern, wie er es sich wünschte, und so dachte er, was anders sein sollte, um das grosse Fest mit dem Frieden zu verbinden. Für ihn bestand kein Zweifel, dass das System abgewirtschaftet hatte, aber eben noch nicht ganz, und er rechnete mit Dingen von noch grösserer Verdorbenheit bei Menschen, die hier auftauchen werden und wie Ratten umherhuschen und nach Beute jagen. Es sind die Typen, die aus dem letzten Durcheinander ihren Vorteil ziehen, rücksichtslos vorgehen und den instinktsicheren Riecher haben, rechtzeitig vom sinkenden Schiff abzuspringen, um zu den ersten zu gehören, die in der Schlange stehn, wenn es um die Verteilung der Posten und Pöstchen im neuen System geht. Die Beute haben sie dann längst eingefahren, verscharrt und verscherbelt, so dass sie wieder das harmlose Gesicht aufsetzen, das kein Wässerchen trüben kann, wobei diese Schweinehunde immer wieder Erfolg haben, weil sie bis auf die Knochen verdorben, bis auf die Zähne skrupellos und bis unters Dach korrupt und gerissen sind. Der alte Pater hatte recht, als er sagte, dass in Zeiten, in denen die Prinzipien von Recht und Ordnung ihre Gültigkeit verloren haben, es schwer ist, Verantwortung zu tragen, oder, das hängte Dr. Ferdinand dem Satz noch an, es leicht ist, unverantwortlich zu sein. Er schaute in den Sternenhimmel und hörte Schüsse in der Ferne, dann MG's, wahrscheinlich von den Wassertürmen, die ganze Ketten verschossen. Das Militär sparte nicht mit Munition, wenn es um den Verdacht ging, es könnte ein Swapokämpfer sein. Dabei schoss es meist harmlose Zivilisten nieder, die ein weggelaufenes Rind oder paar Ziegen einfingen, weil sie auf ihr Fleisch angewiesen waren, und der Verdacht wie eine Seifenblase in der Luft zerplatzte. Der Krieg, der mit Anstand nichts zu tun hat, war auf ein Niveau gesunken, das weit unter dem Animalischen lag, wenn die Männer der Koevoet versuchten, in die kleine Kapelle einzudringen, wo die Schwestern ihre nächtlichen Exerzitien und Gebete hielten. Diese grobe Respektlosigkeit muss ein schwerer Schock für die Patres und Nonnen gewesen sein, die mit einer solchen Verrohung nicht gerechnet hatten.

Doch das konnte das Ende noch nicht sein, auch wenn die Stiefel der Gewalt schon an der Türschwelle zur Gebetskammer standen. Dr. Ferdinand, der auch schwarzmalen konnte, machte es nicht, weil er nicht gleich den ganzen Teufel an die Wand malen wollte. Ein Ostern im Krieg ist wie ein Ei über dem Feuer, dessen Schale zerspringt, den Inhalt vergiesst, die zersprungene Schale in der Flamme verrusst. Das Osterereignis und seine Bedeutung liessen sich so recht nicht finden, weil das Leben seit langem aus den Fugen geraten, die Tür zur Zivilisation aus den Angeln gerissen und zerhackt war und der menschlichen Vernunft durch das legalisierte Unrechtssystem der Boden unter den Füssen entzogen und durch Minen und Granaten verwüstet wurde. Der weisse Blick in die Zukunft hatte keine Vision, er war kurzsichtig, weil er aus Angst und nach dem Motto zusammengesetzt war: "Rette sich, wer kann!" Wie es weitergehen soll? Keiner wusste es, und böse Ahnungen gingen dem Nichtwissen voraus, weil jeder irgendwelchen, rassistischen Dreck am Stecken hatte, wenn nicht noch korrupte Machenschaften mit der Selbstbereicherung vor den traurigen Augen der Armen hinzukamen Jeder stellte seine Vermutungen an, hatte das Bild mit dem sinkenden Schiff bereits im vordersten Denkstübchen über dem Augenfenster aufgehängt, betrachtete es mit Sorge, ohne deswegen an die Schwarzen zu denken, denen es seit Generationen viel schlechter ging, gab sich selbst eine Prognose des 'Überlebens', wobei das Würfeln und Auslegen von Karten im Frage-und-Antwort-Spiel an Bedeutung gewann. Die sonntäglichen Gottesdienste waren gut besucht. Es wurde streng gepredigt und gebetet, und das noch immer in weiss. Die Tauben vor dem kleinen Glockenstuhl nahmen es gelassen hin und kackten den Kirchgängern weiterhin auf die Köpfe, wenn sie sich vor dem Eingang verredeten und nicht ins Innere eilten. Der Hellsichtige, vielleicht der Phanatasiebegabte noch, konnten diese grauweissen Kackflecken in den Haaren oder auf den sonntäglich verschönten Schultern als prophetische Zeichen der unausweichlichen Verwälzung und Umwälzung deuten. Manche dachten wahrscheinlich schon früher über die Sinnhaftigkeit der Kopfbekackung und der wirksamen Fallgesetze nach, wenn sie zum Glockenstuhl nach oben schauten und den Tauben beim Fallenlassen ihrer Botschaft das rechte oder linke Auge zudrückten. Doch von Hellsichtigkeit und Phanatasiebegabung war bei den herausragenden beziehungsweise stiernackigen Querschädeln nicht viel zu merken. So verliefen sich die vorausgedachten Gänge ohne Weitsicht, sie kreuzten und wanden sich in erstaunlicher Kurzperspektive, sie waren verbogen und mussten zum Entgleisen führen.

Das Bild der in- und durcheinander gehenden Gleise eines Güterbahnhofs war das Abbild des Durcheinanderdenkens mit seinen Verwirrungen. Die Weissen wurden geizig bezüglich des Vertrauens; sie trauten keinem mehr richtig über den Weg. Sie behielten die Sachen des Vorgedachten für sich und nahmen sich dabei noch der anderen Wertgegenstände an, deren Besitzer sie nicht waren. Mit all den eigenen und fremden Dingen dachten sie verpackungsweise den kommenden Dingen voraus und genierten sich wenig an den schwarz aufgedruckten Nummern an Stühlen, Tischen, Waschmaschinen und Eisschränken, oder dem unübersehbaren 'SWAA'-Stempel (Southwest Africa Administration), der den Bettbezügen, Decken und Handtüchern waschfest aufgedruckt und an den Unterseiten der Tassen, Untertassen und Teller eingebrannt war. Es wurde an alles gedacht und über das zulässige Mass probeverpackt, alles sollte verfrachtet werden, was nicht niet- und nagelfest war, um so für den Ernst- und Notfall gerüstet zu sein. Die Verantwortung war eben untragbar in einer Zeit, wo die Prinzipien von Recht und Ordnung ihre Gültigkeit verloren hatten, wie sich der alte Pater ausdrückte. Da war dann die Gedankenverkehrung auch nicht mehr fern, dass in einer solchen Zeit das Tragen von Verantwortung nicht nur unerträglich, sondern mit dem Leben, sprich Überleben, nicht mehr vereinbar und das Festhalten an ihr nicht mehr zu verantworten war. Die Zahl der Weissen schwand drastisch, die der Administration noch etwas zutraute, die sich der Verantwortung seit langem entledigte und die Korruption in hahnebüschendem Ausmass betrieb. Jeder wusste es, weil zu viele daran beteiligt waren. So gab es 'gute' Gründe, diese Sachen nicht noch vor Toresschluss an die grosse Glocke zu hängen. In dieser Zeit des auf- und abspringenden Durcheinanders ging der Respekt vor dem Fremdbesitz verloren, und das Stehlen des Fremdeigentums, das dem Volk gehörte, war unverkennbar.

Das Volk sah es und konnte nichts dagegen machen, weil den Menschen die Rechte der Zivilisation entzogen worden waren. Die Weissen sahen die Schwarzen nicht als ebenbürtige Menschen. Dr. Ferdinand hatte das Bild der kreisenden Geier vor sich, die sich über die vorzerlegte und angekaute Beute hermachen und sie bis auf den letzten Knochen entfleischen. Das kann nicht gutgehen, wenn es überhaupt keine Moral mehr gibt. Was nutzen da die strengen Predigten und Gebete in der weissen Kirche und die gurrenden und kackenden Tauben vor dem kleinen Glockenstuhl über dem Eingang, fragte er sich mit einem Anflug der Depression. Er verstand den Brigadier besser und glaubte ihm, was er in einer Morgenbesprechung angekündigt hatte, dass er wie die anderen Weissen auf einem Pulverfass sitzen, das jederzeit hochgehen werde. Wer sich so benimmt, hat es anders nicht verdient; einen Höhenflug, wie ihn Graf Münchhausen seinerzeit noch machte, würde es mit Sicherheit nicht geben, damit war Dr. Ferdinand auch einverstanden. Er schloss seine vorösterliche Betrachtung ab, knipste das Licht im Wohnzimmer an und machte sich einen Kaffee, las in den grossen Philosophen und nickte im Sessel ein. Später im Bett zog er sich die Decke bis unters Kinn.

Es war Ostersonntag, so liess er die Hähne krähen und sehnte sich nach der frohen Botschaft, die sie ankündigten. Matthäus spricht von einem grossen Erdbeben, vom Engel des Herrn, der vom Himmel herabkam, der den Grabstein wegwälzte und sich darauf setzte. Seine Erscheinung war wie der Blitz, und sein Kleid war weiss wie Schnee, und die Grabhüter erschraken mit Furcht. Markus berichtet von Spezereien, die Maria Magdalena und Maria, die Mutter Jakobs, und Salome nach Ablauf des Sabbats kauften, um den Herrn zu salben. Sie fanden das Grab offen und leer und konnten es nicht erklären. Sie gingen ins Grab und entsetzten sich, als sie einen Jüngling im langen, weissen Kleid drinnen sitzen sahen. Lukas berichtet von den Spezereien und von dem Stein, der vom Grab abgewälzt war, und von zwei Männern mit glänzenden Kleidern, die die Erschrockenen fragen, warum sie den Lebendigen bei den Toten suchen. Johannes spricht von Maria Magdalena, die zum Grab kam, als es noch finster war, und den Stein vom Grabe weggenommen fand. Maria weinte und schaute ins Grab, sah dort zwei Engel sitzen und fragte sie nach dem Leichnam Jesu, als der hinter ihr stand, und sie erkannte ihn an seiner Sprache. Dr. Ferdinand ging den Stationen des Kreuzweges nach und sah vor sich die Männer und Frauen in den zerlumpten, blauweiss gestreiften Jacken und Hosen mit den geschorenen Köpfen, die in Schuhresten und umgebundenen Lappen abgemagert und apathisch durch den Schnee schlurften und an Stöcken hinkten, um den Tod durch Genickschuss wenig später zu bekommen. Was haben die Menschen vom Kreuz gelernt, fragte er sich und konnte sich keine Antwort geben. Das Töten war zum Gewerbe geworden, das professionell getrieben wird, weil es so noch einträglicher ist. In den Türmen der Ministerien und Verwaltungen mit dem pyramidalen Organogramm sassen die Tötungsspezialisten in der vorletzt höchsten Etage, wenn nicht ganz oben. Mit dem guten Fensterblick übersahen und hantierten sie durch Befehle und Erlasse die riesige Tötungsmaschine mit der grossen Walze, bei der es an Sprit und Wartung nicht fehlte, und massen die Effizienz an der Anhäufung von Reichtum und Macht. Den Begriff der Auferstehung wollen sie sich nicht machen, das begreifen sie nicht, weil sie das nicht interessiert. Der Kreuzestod sollte der Menschheit dienen, und die nahm es nicht zur Kenntnis, bediente sich stattdessen der Pyramiden der Menschenverachtung und immer mehr ihrer Fensterblicke, je höher und professioneller ihr unmenschliches Gewerbe wurde.

Wieder kündigten die Hähne die frohe Botschaft des Tages an. Sie krähten sie kräftig hinaus. Dr. Ferdinand nahm das Krähen zum Anlass, über 'das neue Leben' im Römerbrief zu lesen, was Paulus da zu sagen hatte: "Wir sind durch die Taufe mit ihm begraben in den Tod, damit, gleichwie Christus durch die Herrlichkeit des Vaters von den Toten auferweckt wurde, auch wir in einem neuen Leben wandeln sollen. Denn wenn wir durch die Taufe in ihn eingepflanzt sind, den gleichen Tod zu sterben, dann werden wir ihm auch in der Auferstehung gleich sein." Was für ein glaubensstarker Mensch Paulus war, dass er so etwas sagen konnte. Verdient hatte es die Menschheit nicht, weil sie sich am Bösen verdiente. Das wusste der kämpferische Paulus auch, trotzdem machte er den Menschen Mut, besonders denen, die unter der Gewalt und Rechtlosigkeit litten und keinen Ausweg mehr sahen. Dr. Ferdinand hatte sich die Zeilen eingeprägt und stieg unter die Brause, als das Glöckchen die Burengemeinde zum Ostergottesdienst zusammenbimmelte. Er dachte sich beim Haarewaschen, dass der Schritt zum Guten nur über den Neuanfang getan, das neue Leben nur im neuen Menschen begonnen werden kann. Der Mensch musste stark genug werden, um das Alte und Verdorbene abzustreifen, sich charakterlich zu häuten und den faulen Kern aus sich herauszuschneiden. Wenn er es nur machen würde! Dabei schlug er sich kräftig gegen die eigene Brust. Er legte die Pappe unter ein Blatt Papier und schrieb ein Ostergedicht an einen Menschen, dessen Name und Adresse er nicht kannte:

Ostern an der Grenze, weil es an der Grenze ist, wo ich sitz und schreibe.

Bist du durchs Kreuz gegangen, das da in der Nacht im Süden stand und hast die Grenze überschritten, die durch Minenfelder gesichert ist?

Es ist am Ende der Welt, wo ich sitze und überlege am Ende jener Welt, wo die Grenze das Kleine versiebt, aus dem dann die Wüste wächst, Knochen und Steine verstösst. die nicht durch's Siebloch passen.

Wenn es noch den Geist an der Grenze gibt, dann soll er das Gute vom Bösen trennen, bevor sich beides in Lagen verschichtet, damit es Ausgrabungen später leichter haben.

Wenn ich's genauer besehe, was in der Nacht passierte und grenznah unbegreiflich ist, weil dort geschossen und getötet wurde, dann verschlägt es mir die Sprache, denn auf beiden Seiten stehn und liegen sie, die Menschen, als ob sie noch was sagten.

Was an die Grenze kommt, in Worte ist es nicht zu fassen, dann stehst du hinter mir und sagst, ich solle mich nicht fürchten, weil es anders kommen wird als ich es denk und schreibe.

Wenn es so ist, dass das Gute kommt, dann muss doch das andere erst gehn, was sonst soll es mit der Grenze, wo sie auf beiden Seiten standen im guten Glauben und der wenigen Habe, dass sich körnig dann versanden, wo sie in Lagen sich verschichten, in die die Zeit sie dann vergräbt mitsamt dem Schmerz und der Geschichte, die gefüllt ist von Versuchen bis zu den tiefsten Schichten, es besser zu machen, um besser zu leben, zu wollen, was sie nicht schafften, weil ihnen der Atem dazu verwehte.

Verstumpft sind die guten Ansätze, die letzten Stümpfe noch zu sehn, der Wind wird auch sie verdecken, noch bevor der zweite Tag beginnt.

Es ist Ostern an der Grenze, wo es kein Wiedersehen gibt, und der Abschied lautlos endet.

Mach du den Anfang neu, lass ihn nicht stehn und dann versanden, solange der Mensch sich noch bemüht. Füll ihm neues Leben ein, füll ihm Freude ins Gefäss des Schmerzes, in den er bis zum Hals versank.

Mach aus dem Kreuz das neue Leben, stell es wie die Rose hoch ins Fenster, dass es der Wind nicht knickt, und die Wüste es nicht verschichtet und verschluckt.


Der Weg nach Afrika

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