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Von Diamanten unter der Hand
ОглавлениеEs war ein Mann, den beide nicht kannten, und Dr. Ferdinand zwischen dreissig und vierig schätzte, der in einem holprigen Afrikaans die Herren fragte, ob sie Interesse an Diamanten hätten, die von hoher Qualität und besonders preiswert seien. Das Gesicht des Mannes sah verschlagen aus, als ob er zum Fussvolk der Diamantenmafia gehörte, die sich noch rechtzeitig die Kohlen einsacken wolle. Dr. Ferdinand ging auf so ein Geschäft von vornherein nicht ein, da ihm das nicht koscher war, er von Diamanten nichts verstand und vom schnellen Geldmachen auch nichts hielt. Dr. Witthuhn fragte den Mann mit dem verschlagenen Blick, woher die Diamanten kämen und wollte es glauben, als dieser Angola nannte, das reich an Diamanten war. Der Hehler machte sein Spiel und ging mit dem Preis noch runter, weil er vom Reiz der Diamanten wusste und an das Geschäft mit dem ungeschliffenen Glitzerzeug glaubte. Es bedurfte einiger energischer Sätze, um den Mann vor die Tür zu bringen, was er sich nicht so leicht gefallen liess. Es mochte ihm dann doch dumm vorgekommen sein, mit den Diamanten auf den Knien zu rutschen, dass er mit dem Gesicht der Enttäuschung die Wohnstelle verliess, weil es ihm nicht einleuchten wollte, dass es Menschen gab, die mit Diamanten nichts zu tun haben wollten, selbst wenn die Preise einmalig günstig waren, wie er sagte. Dr. Witthuhn lachte und meinte, dass die Wühlmäuse bereits aktiv seien, und die Ratten die Grenze trotz der Minenfelder unterliefen und den Grenzverkehr für Diamanten vorzeitig öffneten. "Das sind doch Zeichen vom bevorstehenden Ende, meinst du nicht auch?", sagte Dr. Ferdinand. Dr. Witthuhn sah das nicht als eine Öffnung des Grenzverkehrs: "Das sind doch die Diamanten, die Jonas Savimbi seinen Freunden und Helfern in die Tasche gesteckt hat und andere sich diese Glitzersteine beim Schulterschluss im Kampf um die 'totale Freiheit' gleich mit einsacken liessen, die nun hier verscherbelt werden, um mit dem Diamantengeld ein gutes Leben zu haben, wenn sie nach Südafrika zurückkehren. Hier machen sie das Geschäft ohne Risiko, was sie da unten nicht so leicht können, weil sie da erwischt werden." Dr. Ferdinand staunte über den Scharfsinn und räumte ihm die gute Kenntnis der Burenmentalität ein. Weil ihm das ohne weiteres einleuchtete, befiel ihn die böse Ahnung, dass der Mann mit dem verschlagenen Gesicht auch ein Fallensteller gewesen sein konnte, woran Dr. Ferdinand gar nicht gedacht hatte, der mit den Diamanten zu Niedrigpreisen die Personen dingfest machte, wo dann die Abwehrmänner der militärischen Führung, denen die Zivilärzte ohnehin ein Dorn im Auge waren, es leicht hatten, diese Leute gleich mit einzusacken und vors Gericht zu bringen, wo ihnen die verquerten Burenrichter, die nicht unbestechlich waren, weil sie dem System des Unrechts auch noch das Recht sprachen, mit Haft- und Geldstrafen kommen konnten.
"Das ist eine verfluchte Sauerei, wie die hier mit den Menschen umgehen", stellte Dr. Ferdinand erschrocken fest, dem klar wurde, dass er einer Gefahr entronnen war, und an den 'Leutnant des Teufels' dachte, der sich nachträglich noch die Hände vor Schadenfreude gerieben hätte. "Warte nur, jetzt war es erst eine Ratte", sagte Dr. Witthuhn, "aber wie Du weisst, wenn eine Ratte da ist, dann lassen die anderen Ratten nicht lange auf sich warten. Da mache ich mir nichts vor, dass die kommen werden." Dr. Ferdinand öffnete die letzten Dumpies, und sie prosteten sich auf eine bessere Zukunft zu. Er hatte ihn aus dem üblichen Denken gerissen, der Mann mit den verfluchten Diamanten und der unglaublichen Verschlagenheit, die das System für jeden noch bereithält. "Angola ist reich an Öl um Luanda und in der Kabinda-Provinz und an Diamanten im Osten entlang der Grenze zum Zaire. Damit bezahlen die Gegner das Kriegsgerät, Dos Santos von der MPLA (Movimento Popular de Libertação de Angola) mit Öl und Savimbi von der UNITA (União Nacional da Independencia Total de Angola) mit Diamanten. Die Südafrikaner machen da ein gutes Geschäft, denn Savimbi zahlt reichlich mit seinen Diamanten, die dann billig an De Beers gelangen, der sie anhäuft und im richtigen Moment auf den Weltmarkt schmeisst und riesige Profite einsteckt." Das wusste Dr. Ferdinand bis dahin nicht, dass der Stellvertreterkrieg, wo sich das kapitalistisch-imperialistische und das marxistische Weltsystem auf afrikanischem Boden gegenüberstehen, ein einträgliches Geschäft für Südafrika war. "Wenn die in Pretoria nicht dem Rassenwahnsinn verfallen wären, dann wäre Südafrika eines der führenden Industrienationen der Welt. Das hat jedoch die weisse Querschädeligkeit durch das anachronistische Sackgassendenken in der Rassenpolitik und die historisch verankerte Wagenburgmentalität verhindert.
Die Geschichte hat sie da stehengelassen, wo sie vor hundert Jahren schon standen, weil die burische Orthodoxie den Lauf der Welt nicht verstand." Soweit kannte sich Dr. Witthuhn in den burischen Hirnwindungen und Gedankenknoten aus, dass er eine pretorianische Psychoanalyse für überflüssig hielt. Dr. Ferdinand fragte ihn, wie er die nächsten Monate hier vor der angolanischen Grenze sehe. "Das weiss ich nicht, doch, wie gesagt, die Wühlmäuse sind bereits aktiv, und die Ratten untergraben die Grenze mit Kanälen, die selbst vor den Minen sicher sind, denn sie haben den Riecher für beides, das Geschäft und das Risiko. Diese Nager werden sich rasch vermehren und zur Plage werden, die die Moral bis auf den letzten Splint zernagen. Sie werden von den Decken und aus den Toiletten kommen, die Teppiche unterlaufen, sich in den Polstern der Sessel verstecken und dir in den Hintern beissen, wenn du darauf sitzt, und alles auf den Kopf stellen, was bis dahin noch einigermassen an seinem Platz war. Sie werden es russisch oder chinesisch machen, dass man sich ihrer nicht erwehren kann. Erst, wenn nichts mehr zu holen ist, dann werden sie die ersten sein, die das sinkende Schiff verlassen, weil sie mit den dicken Bäuchen den Boden, mag er noch so beschissen sein, lieber unter den Füssen haben als das Wasser am Hals." Es hatte etwas Infernalisches an sich, was Dr. Witthuhn da von sich gab, doch traute ihm Dr. Ferdinand die bessere Kenntnis zu. Der Burenkenner erhob sich schwerfällig aus dem Sessel und wünschte dem Erstaunten noch einen guten Abend, der ihn zum BMW begleitete, der für eine Wäsche überfällig war. "Es ist alles nicht so schlimm." Mit dieser typischen Bemerkung, die keinen Grund hatte, verabschiedete sich Dr. Witthuhn und fuhr mit dem bläkenden Geräusch eines Lochs im durchgebrannten Auspufftopf davon.
Dr. Ferdinand machte sich eine Tasse Kaffee und rauchte eine Zigarette dazu. Es fiel ihm schwer, den Nachmittag mit dem Morgen zu verbinden und beides als den Ostersonntag in der Fremde zu begreifen. Er machte sich Notizen über das Fremdartige, als das Telefon klingelte, und Herr C. fragte, ob er seine Botschaft erhalten habe, worauf er die Osterwünsche an ihn und seine Familie erwiderte. Herr C. sprach noch stellvertretend für den Domini, als er den Glauben erwähnte, den jetzt jeder haben müsse, um die schwere Zeit, deren Zukunft keiner absehen könne, durchzustehn. Dr. Ferdinand bejahte den Glauben als eine gute Einrichtung, die allerdings unglaubhaft wird, wenn Menschen nach der Hautfarbe getrennt werden, wo das Hautpigment über die Qualität des Lebens entscheidet. Das wollte Herr C. anlässlich seines Osteranrufs eigentlich nicht hören, und so wurde das Telefonat mit einer Wiederholung der guten Wünsche abgekürzt und beendet. Dr. Ferdinand setzte sich an seinen Gartentisch zurück und versuchte sich zu sammeln, wobei ihm das Atmosphärische des Gottesdienstes am Morgen in der alten, finnischen Missionskirche durch das Gespräch mit Dr. Witthuhn am Nachmittag mit dem Diamantenzwischenfall aus den Fingern zu entgleiten schien. Er stellte die Frage auf das Papier: Wenn Ostern für alle Menschen ist, warum dann nicht auch das Leben? Mehr konnte er in diesem Moment nicht schreiben, nahm das Lineal und unterstrich diesen Fragesatz, indem er nachdenklich und millimeterweise mit Hilfe des Lineals Buchstabe für Buchstabe las, um einer Klärung näherzukommen, was ihm nicht gelingen wollte, weil er für solche Gegensätze keine Lösungsgleichung fand. Der erste Satzteil vor dem Komma hatte keine Brücke zum zweiten Satzteil hinter dem Komma, wo das Istzeichen hingehören sollte, weil da noch nie eine Brücke war. Das unterschied den Bruch der Kommunikation von der Brücke über das Flussrevier des Cuvelai, die da war, als sie weggesprengt wurde, und weil sie da und notwendig war, nach der Sprengung wieder aufgebaut wurde.
Er zündete sich die Zigarette an und dachte noch eine Weile nach. Er erinnerte sich an den schwarzen Pastor, der ihm vor dem Auto vom guten Zusammenhalt seiner Gemeinde berichtete und es mit der schweren Zeit begründete, in der das Leben so ungewiss geworden war, wo der Krieg viele Familienmitglieder aus dem Leben gerissen hatte. Dann platzte der Mann mit dem verschlagenen Gesicht ins Wohnzimmer, der im holprigen Afrikaans Diamanten verscherbeln wollte, wo ihm erst hinterher durch Dr. Witthuhn dank seiner besseren Kenntnis burischer Hirnwindungen klar wurde, dass dieser Mann als Fallensteller agieren konnte. Schliesslich war der Anruf des Herrn C., der vom Glauben sprach, den man brauche, um die schwere Zeit durchzustehn. Für Dr. Ferdinand waren es drei Dinge an einem Tag, die er nicht zu einem Paket zusammenschnüren konnte und deshalb als drei getrennte Päckchen aufbewahrte. Es war ein Ostersonntag, den er so einsam noch nicht erlebt hatte, als es vom Nachmittag an an Geist und Liebe fehlte, um das Auferstehungsfest mit dem Prinzip der Hoffnung zu verbinden. Er fühlte sich verlassen und verloren, ihn plagte das Gefühl der Nutzlosigkeit. Dabei erinnerte er sich an die Worte Augustins, als er am Schluss seines Werkes 'De trinitate' von sich sagte, dass er versucht habe, mit der Vernunft zu schauen, was er glaubte, und dass er dazu nicht viele, aber die notwendigen Worte brauchte, weil er nicht in seinen Gedanken, wohl aber mit seinem Munde schwieg. Er klagte die Gedanken der Menschen der Eitelkeit an, wie es andere christliche Denker auch taten. Dr. Ferdinand zog sich die Sandalen an und machte einen Spaziergang, der, wie das letzte Mal, an den Militärcamps entlangführte. Eine Kolonne von fünf 'Elands' mit den langen Rohren verliess das erste Camp, um ihre abendliche Patrouille zu fahren. Er ging weiter bis ans Ende des Dorfes, wo der Stacheldrahtzaun den Weg sperrte, und ein aufgestelltes Schild vor Minen warnte. Diesmal traf er keine Menschen dort, die sich die Beine vertraten, weil sie Ostern mit ihren Familien und Freunden verlebten, wo würzige Rauchwolken vom Braten der Steaks und 'Boerewors' (Bauernwurst) aus zahlreichen Vorgärten aufstiegen, und eine rege Geselligkeit zu hören war, wo das grosse Ereignis mit Bier und Wein begossen wurde.
Diese Art der Geselligkeit konnte er sich bei den Menschen, die aus dem Herzen in der Missionskirche sangen und die Predigt mit Andacht verfolgten, nicht vorstellen. Dort mochte es auch ein Festessen geben, das gegen die zu verzehrenden Fleischmengen der Buren sich sicherlich kümmerlich ausnahm. Aber an Alkohol wollte Dr. Ferdinand bei diesen Menschen nicht denken, dafür war den Menschen der schwarzen Haut der Tag zu heilig, als dass sie ihn auf weisse Art betränken, wofür ihnen das Wasser gut war, das sie von weither holten. Die Vögel zwitscherten ihm aus den Bäumen zu, und dafür war er ihnen dankbar. So blieb er einige Male stehn, um sie länger singen zu hören, was ihm das Orgelkonzert zu Ostern in der Heimat ersetzte. Die Vielstimmigkeit erinnerte ihn an die Polyphonie, die ihm hier auf die natürlichste und bestimmteste Weise zugezwitschert wurde, was musikalisch stimmte und motivisch so reizvoll war, dass Claude Debussy daraus ein quicklebendiges Zwitscherstück fürs Klavier gemacht hätte. Die heiteren, österlichen Stimmen verstummten, als er sich dem zweiten Camp mit den gegenüberliegenden Villen des Brigadiers und seines Nachbarn, dem weissen Sekretär der Bantu-Administration, näherte, weil es aus deren Gärten noch stärker und fleischiger heraus qualmte, und die Geselligkeit der Lautstärke nach schon fortgeschritten war, als aus diesem, durch einen hohen, langgezogenen Sandhügel verdeckten Camp eine Dreierkolonne dreiachsiger 'Ratels' sich auf den Weg dorfauswärts machte, um den weissen Sicherungsauftrag zu erfüllen und die lustigen Gesellschaften beim Verzehr des frisch gebratenen Fleisches mit salatigem Zubehör und dem zunehmenden Alkoholgenuss vor unerwünschten Überraschungen zu schonen.
So nahm der Sonntagabend seinen Lauf, und die Sterne leuchteten am Himmel auf, als Dr. Ferdinand die Wohnstelle erreichte, einen Blick auf seinen Käfer warf, die Sandalen in der Veranda abstreifte, das Licht im Wohnzimmer anknipste, zur Küche ging, drei Schreiben vom geschmacklosen Brot schnitt, sie mit Margarine bestrich und mit einer Wurstscheibe belegte, den Teebeutel in der Kaffeetasse mit heissem Wasser übergoss und die Sachen auf den niedrigen Tisch vorm Sessel im Wohnraum stellte. Mit dem Abendbrot wollte Dr. Ferdinand den Ostersonntag beenden und danach zu Bett gehn, um für den nächsten Tag ausgeschlafen zu sein, an dem er für den Dienst im Hospital eingeteilt war, der ausser den chirurgischen und orthopädischen auch jene Notfälle aus der Gynäkologie und Geburtshilfe, hier im Wesentlichen die Kaiserschnitte erfasste, da diese Abteilung ärztlich total unterbesetzt war. Nach dem Essen schrieb er noch die zweite Zeile: Das Leben wird friedlicher, wenn alle etwas zu essen haben. Der Frieden liegt im Teilen. Als Dr. Ferdinand diese Zeile schrieb und wie die erste mit dem Lineal unterstrich, hörte er im Geiste noch die Vögel zwitschern, die ihm das Osterständchen beim Abendspaziergang brachten. Er hatte ein Lächeln auf den Lippen, als er das Licht ausknipste, sich ins Bett legte und die Bettdecke bis unters Kinn zog. Er war müde und schlief sofort ein.
Die Hähne liess Dr. Ferdinand an diesem Morgen öfters krähen, weil es Ostermontag war, so dass er sich im Bett die Lorentz-Transformationen für die Zeit und Raumkoordinaten durch den Kopf gehen liess für die Übergänge von einem Inertialsystem zum andern, die für das Verständnis von Einsteins spezieller Relativitätstheorie bedeutsam sind, weil sie die physikalische Gleichwertigkeit aller Inertialsysteme (in Ruhe) aufzeigt. Die Inertialräume mit den zugehörigen Zeiten haben hypothetisch vierdimensionale Koordinaten, die durch die Lorentz-Transformation miteinander verbunden sind. Im Raum der allgemeinen Relativität kommen dann unterschiedliche Bezugssysteme zur Wirkung, wo die Konstanz des Weltalls die Eigenschaften von Masse, magnetischen Spannungsfeldern und Licht unter ständiger Veränderung ihrer Wirkungsbezüge einschliesst, wo die Zeit sich gegen die Zeitlosigkeit streckt, die rasante Expansion des Universums die Raumgrenze nicht erreicht, wo enorme Evolutionen und Involutionen makro- und mikrokosmisch stattfinden und dabei das Äquilibrium der kosmischen Waage einhalten.
Es war gegen acht Uhr, als er sich auf den Weg zum Hospital machte. Die Wachhabenden an der Schranke des Dorfausgangs waren gut gelaunt, dass sie das 'Permit' an diesem Morgen nicht sehen wollten, weil sie sich untereinander viel zu sagen hatten und dabei noch spassten. Sie fragten Dr. Ferdinand im Vorbeigehen nur, ob er seine 'Paaseiers' (Ostereier) auch verzehrt hätte, worauf er nachdenklich wurde, an das Ostereiersuchen seiner Kinder dachte, und sagte, dass das Ostern diesmal ohne Eier war. Am Einfahrtstor, dessen Rohrpfosten nach wie vor verbogen waren, der rechte schief und abgeknickt zur Strasse herausstand, und der abgerissene linke Torflügel verbeult gegen den Gitterzaun lehnte, begrüsste er den Pförtner, der auf dem Stuhl sass und dabei war, ein gekochtes Ei aus der Schale zu nehmen, wobei er die Schalenstücke auf den Boden warf und mit dem Schuh in den Sand rieb. Er ging über den Vorplatz, auf dem Menschen waren, die sich in einer kürzeren Schlange vor der Rezeption aufgestellt hatten. Wenige der Genächtigten lagen in Decken gehüllt und hatten ihre Kinder dabei. An den Uringeruch des Vorplatzes hatte er sich gewöhnt, als er den Eingang zur Intensivstation betrat, wo ihm eine Schwester fast in die Arme fiel, die ihn mit dem Pförtner reden sah und ihm entgegeneilte, weil da ein Patient war, der nicht mehr atmen wollte. Sie eilten in den ersten Raum. Dr. Ferdinand setzte das Stethoskop auf die Brust, doch das Herz schlug nicht mehr, und es wollte nicht wieder schlagen, als sie sich mit den Massnahmen zur Wiederbelebung abmühten. Die Pupillen blieben weit, die rechte weiter als die linke, dass nur noch der Tod festzustellen war, dessen Zeitpunkt auf das Ende der erfolglosen Wiederbelebungsversuche festgelegt wurde. Der Patient trug einen Kopfverband, unter dem eine genähte Hautwunde war, die vom Hinterkopf zur linken Schläfe reichte. Die Aufzeichnung im Krankenblatt wies auf ein Schädel-Hirntrauma hin, das der junge Patient in einer Schlägerei erlitt, der bei der Aufnahme jedoch noch klar bei Bewusstsein war, dass er über starke Kopfschmerzen klagte. Das Röntgenbild des Schädels war von schlechter Qualität, es zeigte eine Fraktur über dem linken Schläfenbein. Die Schwester der Frühschicht konnte auf Befragen nicht sicher angeben, seit wann sich der Zustand verschlechtert hatte, weil die Station über Nacht voll belegt und mit zwei Schwestern unterbesetzt war, und die dritte Schwester aus Krankheitsgründen nicht zum Dienst erschien. Dr. Ferdinand sah den Engpass ein, meinte aber, dass einer der fünf Räume dem neuen Kollegen aus Südafrika vorbehalten war, in dem seine Privatpatienten lagen, die einer intensiven Überwachung nicht bedurften. Die Schwestern sahen es ein, ohne deshalb nach Worten zu suchen, die den Verlauf des verstorbenen Patienten erhellten. Seit dem Erscheinen des weissen Kollegen, der von der Augenheilkunde bei seiner ersten Vorstellung sprach, die er hier betreiben wollte, hat sich in dieser Station einiges verändert. So führte er im letzten Raum, der zu einem Entbindungsraum mit der Möglichkeit zur kleinen Wundversorgung hergerichtet war, Geburten bei weissen Frauen durch, die er sich privat bezahlen liess.
Nach dem Prinzip der gesonderten Zahlung unternahm er auch Wundversorgungen und Fraktureinrichtungen mit Gipsen an schwarzen Patienten, die vom 'Workman's Compensation Act, 1941', der berufsgenossenschaftlichen Heilbehandlung vergleichbar, gut und zuverlässig vergütet wurden. Da wagte sich dieser 'Ophthalmologe' schon an die Sehnennaht der Hand heran. Eingriffe der besonderen Häufigkeit waren bei ihm Warzenentfernungen und Hautausschneidungen von Bezirken, die dieser Doktor fast stets für tumorverdächtig erklärte. Mit dieser Erklärung, die eine psychologische Tiefenwirkung erzielte, verdiente er sich an der einfachsten Chirurgie die goldene Nase. Sein Patientenkreis erweiterte sich beträchtlich. Diese Art der Hautbehandlung liess er ausschliesslich seinen Privatpatienten zukommen, die es ihm 'cash' bezahlten, um unnötigen Steuerbelastungen von vorherein aus dem Wege zu gehn, was wiederum allgemeine Praxis war. Er sammelte die gut betuchten Patienten bei der permanenten Sprechstunde im kleinen Raum der ersten Untersuchung ein, der dem doppelflügigen Seiteneingang zur Intensiv- und nun auch zur Privatstation direkt in fünf Meter Entfernung gegenüberlag. Diesen strategisch günstigen Raum hatte der Kollege mit den leicht abstehenden Ohren gleich für sich und seine Aktivitäten voll in Beschlag genommen, wobei er sich vom Krankenhausablauf mit seinen vielen, mittellosen Patienten nicht stören liess. Seine Vorstellung vom Geldmachen ging auf, und keiner störte ihn dabei, denn es gab ausser Dr. Witthuhn, der das Nebenbei im nur kleinen Massstab in seinem Wohnhaus nach Dienstschluss betrieb und sich dabei auf die innere Medizin beschränkte, keine Konkurrenz, die er hätte fürchten müssen, da den anderen Doktoren die Behandlung von Privatpatienten vom ärztlichen Direktor und dem Superintendenten untersagt war. Dieser weisse Kollege mit dem blassen Gesicht, der stets eine weisse, dünne Leinenjacke mit gefüllten Taschen trug, wie sie Friseure mit weniger gefüllten Taschen tragen, hatte seine Pfründe rasch gefunden, und er baute sie mit klarem Ziel vor Augen zum Monopol aus. Am Nacht- und Wochenenddienst für die allgemeinen Patienten, die das Geld nicht hatten, beteiligte er sich von vornherein nicht. Das lag nicht in seinem Sinn. Die Arbeit ohne zusätzlichen Verdienst überliess der lächelnde Schlawiner von seinem ersten Tag an den andern Kollegen, denen er es neidlos zumutete, für die Patienten mit den leeren Händen zu jeder Tages- und Nachtzeit herausgerufen zu werden, während er sich und seiner Frau, um ein Kind brauchten sie sich nicht zu sorgen, einen gemütlichen Abend und ein geruhsames Wochenende gönnte. Zu zweit bewohnten sie eine unverhältnismässig grosse Villa gegenüber vom Hospital mit einem grossen Garten und einigen Bäumen, in den er einen grossen Swimmingpool setzen liess, um die Freizeit bei der grossen Hitze in angenehmer Weise zu nutzen. Der üppige Verdienst brachte bald ein neues Auto, einen Honda 'Ballade', denn was sonst sollte er hier bei freiem Wohnen, dem freien Strom- und Wasserverbrauch mit all dem Geld unweit der angolanischen Grenze machen, wobei er zusätzlich und regelmässig das monatliche Gehalt eines 'Senior medical officer' bezog? Andererseits war Dr. Johan (mit einem 'n') immer freundlich, und das um so mehr, wenn er Dr. Ferdinand um einen chirurgischen Rat fragte oder ihn um eine chirurgische Gefälligkeit bat, die dieser ihm kostenlos gab und machte, weil ein Kollege dem andern eine solche Bitte nicht ausschlägt, auch wenn dem Bittenden das Geld im Nacken sass.
Dr. Ferdinand hatte bald erkannt, dass dieser Kollege gewitzt war, die Augenheilkunde wie eine Tarnkappe vorschob, um die dringende Notwendigkeit seiner Tätigkeit zu begründen und dafür den Lohnstreifen für alle Fälle zu bekommen. Es offenbarte sich bald, dass es diesem Schlauberger um mehr als die Augenheilkunde ging, er wollte hier im Durcheinander des Krieges noch schnell sein gutes Geld machen, da die Zeichen der totalen Umwälzung am Horizont immer deutlicher abzulesen waren, wo es keine Steuerprobleme und keine Steuerfahnder gab, wo das Bruttoeinkommen gleich das Netto war, weil der Steuerabzug nur auf den Gehaltsstreifen zur Wirkung kam. Da keiner wusste, wie lange ein solches Steuerparadies noch dauern würde, man annehmen musste, dass es so lange nicht mehr dauern konnte, war dieser Kollege mit dem besonderen Sinn für Münzen und Noten vom Bienenfleiss befallen, für den es sich immer mehr lohnte, je fleissiger er wurde und die wiederkehrenden Warzen ausbrannte, läppische Hautflecken ausschnitt und die gesetzten Wunden kostspielig vernähte. Er war ein aufgeweckter Psychologe, wenn er seinen, zur 'Cash'-Zahlung stets bereiten Patienten den Verdacht der Bösartigkeit vorhielt und sie dadurch permanent im Auge behielt. Er verstand es ohne weiteres, die erforderlichen Tiefen zu erreichen und dort ein bisschen Feuer zu machen, weil er wusste, dass es ihm auf die einfachste Weise gutes Geld brachte. Er war clever und hatte die Rechnung von Anfang an mit dem weissen Wirt gemacht. Deshalb ging seine Rechnung später voll und ganz auf, die die Privatpatienten prompt bezahlten. Es war ein gutes Geschäft, bei dem keiner mit der Wimper zuckte.
Dr. Ferdinand sah mit den beiden Schwestern nach den anderen Problempatienten, die an diesem Ostermontag keine Besonderheiten aufwiesen. Er machte seine Eintragungen und wünschte den Schwestern einen ruhigen Tag. Dann ging er durch die anderen Säle, richtete im orthopädischen Männer- und Frauensaal einige Extensionen, wechselte Verbände und entfernte bei dem einen und anderen Patienten einige Hautnähte. Er fragte die Schwestern über die nächtliche Ruhestörung der Koevoet, die es gelassen nahmen und meinten, dass sich auch die Patienten daran gewöhnt hätten, die es mit Verachtung hinnahmen und kein gutes Wort an ihnen liessen. Einige sprachen es schon jetzt aus, dass diese rücksichtslosen Burschen in ihren Familien nichts mehr zu suchen hätten, wenn das System erst einmal den Bach runtergegangen sei. Einige Eltern konnten es nicht begreifen, dass aus ihren Söhnen solche rüden Burschen geworden sind, die keinen Respekt vor den Menschen mehr hatten. Dr. Ferdinand ging zum Kindersaal, in dem es laut zuging, die Kinder herumrannten, wenn sie nicht ans Bett gefesselt waren, und einige, kleine Häufchen im Korridor herumlagen, die später von einer Schwester beseitigt wurden, da an diesem Tag die Putzfrau nicht erschien. Die Kinder waren an sein Gesicht und seine Hände gewöhnt, bei ihm fürchteten sie sich nicht an der weissen Haut. So kamen sie auf ihn zugelaufen, die grösseren Kinder fassten seine Hand, die kleineren klopften ihm gegen die Hose und liefen ihm nach; sie riefen ihn mit 'Tate' (Vater) oder 'Dokter' und machten sich einen Spass daraus. Er genoss die ausgelassene Freude der Kinder, die für ihn von jeher die liebsten Patienten waren. Der Kindersaal war eine Welt für sich, weil das Leiden des Kindes so viel mächtiger war als beim Erwachsenen. Es gab für Dr. Ferdinand nichts Ergreifenderes, als ein Kind leiden zu sehn, nichts Erschütternderes, als ein Kind sterben zu sehn, und nichts Schöneres, als ein Kind gesund werden und lachen zu sehn.