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2. Die Liturgie der Osternacht: Exemplarische Wahrnehmungen und Beschreibungen
ОглавлениеDie Liturgie der Osternacht gibt es eigentlich nur im Plural; jedoch hat sich auf der Ebene der Struktur und Abfolge eine vier- bis sechsphasige Liturgie10 entwickelt mit einer insgesamt überschaubaren Anzahl von Varianten, die hier nur exemplarisch betrachtet werden kann.
Die Liturgiegeschichte, die als Entdeckungszusammenhang,11 nicht als Reservoir normativer Modelle betrachtet und benutzt werden soll, zeigt, dass der Kern aus einer sehr früh mit Fasten, Lesungen, Predigt und Gebet gefüllten Nachtwache und einer Eucharistiefeier besteht.12 Beide hatten ihren theologischen Fokus in der Erwartung der Parusie des erhöhten Herrn, wobei die Mahlgemeinschaft wohl als kultische Antizipation der Parusie13 verstanden werden kann. Vieles bleibt hier jedoch aufgrund der Quellenlage unsicher. An der Wende vom 4. zum 5. Jh. wird die Ausgestaltung der wirkungsstarken Jerusalemer Ostervigil erkennbar: Sie beginnt mit einer Lichtfeier (,,Luzernar«), daran schließt sich die Nachtwache mit zwölf alttestamentlichen Lesungen an; währenddessen wird, getrennt von der Gemeinde, im Baptisterium getauft; der Messe aus Wortgottesdienst (Lesungen: 1Kor 15,1–11; Mt 28) und Eucharistie geht der Einzug der Neugetauften um Mitternacht voran; daran schließt sich sogleich eine zweite Eucharistiefeier in der Anastasis-Rotunde an; der theologische Fokus hat sich hier erkennbar auf die Feier der Auferstehung verschoben.
Übergehen wir die Jahrhunderte des Verlustes der Ostervigil14 und der zunächst unabhängig voneinander sich vollziehenden Wiederentdeckung in der evangelischen und der katholischen Kirche nach dem Zweiten Weltkrieg15 und fahren mit der Gegenwart fort. Neben einigen landeskirchlichen Agenden,16 kirchenleitenden Handreichungen17 und Ordnungen von Kommunitäten18 liegt seit einem Jahr die entsprechende Agende der VELKD vor.19 Sie bündelt die bisherigen liturgietheologischen und -praktischen Einsichten.
Die Feier der Osternacht besteht hier aus folgenden Teilen oder Phasen: einem fakultativen Lesungsteil mit Passionstexten, der Lichtfeier, dem Lesungsteil, der Tauffeier oder dem Taufgedächtnis, dem Verkündigungsteil, der Abendmahls feier und als Abschluss Sendung und Segen.20 Schon der Blick auf die agendarischen Abläufe lässt erkennen, dass die vorausgehende Passionslesung auffällig ist.21 Sie soll hier dazu dienen, die enge Verbindung von Kreuz und Auferstehung zum Ausdruck zu bringen. Wirklich gelungen scheint mir das nicht zu sein. Den einzelnen Teilen sind dann musikalische und textliche Ausführungen zugeordnet, die stark an der Tradition orientiert sind (z. B. beim Exsultet und den Abendmahlsgebeten),22 aber bei Akklamationen und Liedversen auch auf verschiedene Taizé-Vertonungen verweist.23
Erweitert man nun den Blick von der Agende und ihren Texten und Konzepten auf die Feier und Ritualgestalt (und damit auch auf die Mitfeiernden), so ist deutlich, dass die Osternacht heute in zwei Feiergestalten begangen wird – in einer Langform oder in einer kürzeren Form: Sie beginnt entweder vor Mitternacht und stellt eine über mehrere Stunden dauernde Nachtwache der Lichtfeier und den folgenden Teilen voran oder sie beginnt in den frühen Morgenstunden, seltener am Abend, mit der Lichtfeier, wobei dann der folgende Lesungsteil das Wachen und Warten noch erkennen lässt, aber meist auf etwa vier Lesungen beschränkt wird, denen sich ja dann noch eine Epistellesung zur Taufe (Röm 6) und die Lesung des Osterevangeliums (meist: Mt 28) anschließen.
Von der eher seltenen und sehr aufwändigen Langform gibt es eine Beschreibung und Reflexion der Hamburger Praxis in einer der dortigen Hauptkirchen durch Peter Cornehl.24 Gerade diese Form bietet Raum für Stationengottesdienste mit Bewegungen und Prozessionen, für die Verbindung von traditionellen und neuen Elementen und für die deutliche Berücksichtigung gegenwärtiger persönlicher und gesellschaftlicher Situationen. Cornehl resümiert hier den Charakter dieser Feier als Zumutung: Die Osternacht »enthält für die Gemeinde eine dreifache Zumutung. Sie ist zunächst eine physische Zumutung: Man muss den Weg mitgehen, muss wach bleiben (oder wieder wach werden), und allein das ist eine nicht geringe Anstrengung! Sie ist sodann eine seelische Zumutung: Man muss bereit sein, die Begegnung mit Leiden und Destruktivität, mit dem Schweren, Ungelösten auszuhalten, mit der Dunkelheit, der Stille und mit sich selbst. Die Osternacht ist schließlich eine theologische Zumutung. Wer daran teilnimmt, ist herausgefordert, die vielfältigen Informationen, Texte, Bilder, Lieder, Gesänge, Symbole und Zeichen, die im Laufe der Nacht angeboten werden und die keineswegs einer einheitlichen theologischen Logik folgen, zu verarbeiten, um das für sich selbst Wichtige auszuwählen und sich anzueignen.«25 Die in Hamburg über Jahre erfragten Rückmeldungen und anfänglichen empirischen Auswertungen machen eindrucksvoll deutlich, wie individuell die Rezeptionen erfolgen, also das Mitfeiern sich vollzieht und dass durch die Fülle der Angebote viele Menschen in ihren unterschiedlichen Lebenssituationen erreicht werden. Aber es gibt auch körperliche Erschöpfung und Überforderungen; manche berichten davon, dass sie den gesamten Ostersonntag fast nur im Bett verbracht haben26 – ein wenig überzeugender Widerspruch zwischen Osterritus und Osterbotschaft.
Die Feier der kürzeren Osternacht ist immer noch länger als ein normaler Sonntagsgottesdienst. Auch sie mutet den Mitfeiernden etwas zu. Je nach Kirchenraum wird es hier wenig äußere Bewegungen der feiernden Gemeinde geben. Der zunächst dunkle, dann durch Kerzen, schließlich durch die Morgensonne erhellte Raum lässt höchstens vorsichtige Begehungen zu, zeigt aber vor allem als wesentliches Element des Gottesdienstes das intensive Erleben des Übergangs vom Dunkel zum Licht.27 Die Osternacht ist eine Prozess- und Transitusliturgie.28
Neben der Unterscheidung von Lang- und Kurzform ist in der Feiergestalt noch zu differenzieren zwischen der agendarischen und der offenen Form. Dabei sind die unterschiedlichen veröffentlichten Osternachtliturgien in offener Form meist an besonderen Zielgruppen (z. B. Jugendliche) und einfachen Kirchenräumen orientiert. Für Jugendliche eignet sich dabei besonders die Langform; dazu sind die einzelnen Stunden oder Stationen inhaltlich zu qualifizieren: z. B. Stunde der Annäherung (23 h), der Dunkelheit (0 h), der Einsamkeit (1 h), des Widerstands (2 h), der Wandlung (3 h), des Lichts (4 h).29 Manches wird hier aufgenommenvon den sehr erfolgreichen ökumenischen Kreuzwegen der Jugend oder anderen Formen der Nachtwache. Sprachqualität, Stimmigkeit der Musik und der Symbolik sowie ein gelingender Mitvollzug beim Singen und Feiern sind hier wesentliche Merkmale. In solch einen Kontext gehört auch die folgende Äußerung: »Ganz ehrlich habe ich durch das Singen und Musizieren, das so viele Menschen ansteckte und begeisterte, immer einen gewissen Kick gekriegt, das war nach der Messe irgendwie so ein Gefühl, etwas High zu sein – aber irgendwie das Gefühl, ja das ist hier gerade wirklich ein Fest, eine Auferstehungsfeier, und irgendwie die Wurzel meines Glaubens.«30
Zur Osternacht 2012 veröffentlichte das Bayerische Gottesdienstinstitut auf der Grundlage der lutherischen Agende einen Entwurf, der einen Kurzfilm ins Zentrum der Verkündigung und des Erlebens stellt.31 Der Gottesdienst beginnt mit dem Lesungsteil in der dunklen Kirche, darauf folgt der je nach Version ca. 7–10-minütige Film »Earth Connection«, dann die Lichtfeier, Wortteil, Tauffeier, Abendmahl. Hier hängt alles oder zumindest fast alles an der Qualität des Films. Die praktisch-pragmatischen Fragen, wie der Film so projiziert wird, dass die Technik nicht stört, sind umsichtig bedacht worden; hier gibt es zumindest hilfreiche Empfehlungen. Aber die inhaltliche und ästhetische Qualität lässt einige Wünsche offen: »Der Film ist gerahmt von zwei Details des Freskos ›Noli me tangere‹ von Fra Angelico […]: Es beginnt mit dem durchbohrten Fuß Jesu und endet mit den voneinander scheidenden Händen von Maria Magdalena und Jesus. Dazwischen […] finden sich Sequenzen aus colorierten und animierten Pflanzendarstellungen, die ›Leben-Krise / Gefahr / Tod-neues Leben‹ symbolisieren.«32
Dies ist m. E. bildästhetisch nicht überzeugend, vor allem ist es langweilig. Problematisch ist hier aber auch das Medium selbst. Man bringt in eine Gottesdienstfeier mit überreicher Symbolik und starker personaler und in Taufe und Abendmahl auch leiblicher Kommunikation ein weiteres Medium ein, das eher verfremdet. Wie wirkt nach der Filmvorführung und ihrem Beamer- oder Projektorlicht die anschließende Lichtfeier, die ganz auf Osterkerze, Einzug und Weitergabe des Kerzenlichts bezogen ist? Um nicht missverstanden zu werden: Filmgottesdienste können eine gute Sache sein, hier aber – so mein Eindruck – neutralisieren oder stören sich die verschiedenen Sequenzen, Medien und Symbolangebote. Etwas mehr Zutrauen zur Performanz der Riten wäre durchaus wünschenswert.
Die Feier der Osternacht – sei es in agendarischer, sei es in offener Form – benötigt eine intensive Vorbereitung in einer Liturgiegruppe, die dann auch stellvertretend für die Gemeinde Wege geht, betet, Symbole verwendet und Zeichen inszeniert und – notabene – dies alles hoffentlich geübt hat. Auch für den Liturgievollzug gilt, dass »gut gemeint« das Gegenteil von »gut« ist und dass Üben die Qualität steigert.
Wie steht es um die Verkündigung in der Osternacht? Erstaunlicherweise nennt die lutherische Agende den Wortteil zwar »Osterverkündigung« und sieht in der Abfolge auch eine Predigt vor, votiert dann aber in den Rubriken für eine sehr kurze Predigt oder auch für deren Wegfall.33 Dies ist aus meiner Sicht ein falsches Signal. Selbstverständlich ist Verkündigung auch die Lesung des Osterevangeliums und die danach folgenden kraftvollen Osterchoräle; und selbstverständlich ist eine solch reichhaltige Liturgie kein Predigtgottesdienst. Doch ist dies fast so banal, dass man es eigentlich nicht erwähnenmüsste. Um es grundsätzlicher zu formulieren: Gottesdienst ist ein komplexes und kunstvolles In- und Miteinander von Ritus und Rede. Deren Balance wird gestört, wenn die Predigt beseitigt oder marginalisiert wird (das Ergebnis wäre Gottesdienst als bloße Zelebration) oder wenn die Predigt umgekehrt alles Singen und Beten dominieren würde (das Ergebnis wäre eine thematische Veranstaltung, die Martin Nicol nicht zu Unrecht als »Glaubensseminar mit Musik«34 bezeichnet hat). Es gehört zu den Besonderheiten und Stärken des evangelischen Gottesdienstes, dass die Predigt den Ritus unterbricht und dass diese Unterbrechung rituell vorgesehen und notwendig ist.35
Die Stärke der Predigt in der Osternacht zeigt sich nicht in einer akademischen Länge, sondern darin, dass sie die Osterbotschaft angesichts der je gegenwärtigen existentiellen, politischen und intellektuellen Anfechtbarkeit auslegt – auch diskursiv, auch als Gegengewicht zur Doxologie. In religiöser Sprache formuliert: Glaube und Hoffnung wachsen nicht durch ein Bibelzitat, sondern durch das Wagnis einer Auslegung.36