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Gefährliche Zeiten
ОглавлениеDie Jahre um Stockalpers Geburt und Jugend sind im Wallis eine Epoche der Umbrüche und gesellschaftlichen und politischen Verwerfungen.12 Das Wallis besteht von Osten talabwärts nach Westen gesehen aus den sieben Zenden Goms, Brig, Visp, Raron, Leuk, Siders und Sitten sowie dem Untertanengebiet zwischen dem Flüsschen Mors (Morge) westlich von Sitten und dem Genfersee, das seit der Eroberung und Vertreibung der Savoyer sechzig Jahre zuvor als Gemeine Herrschaft der sieben Zenden von Landvögten in Saint-Maurice und Monthey verwaltet wird. Formell ist die Landschaft Wallis ein Fürstbistum, in dem der Fürstbischof von Sitten als Landesherr die geistliche und weltliche Macht innehat. Die Zenden haben jedoch die Befugnisse des Bischofs stark eingeschränkt und einen hohen Grad an Selbstständigkeit erreicht, sodass die Zendenobrigkeit in ihrer Hand gesetzgebende, ausführende und richterliche Gewalt vereint. Das gemeinsame Regierungs- und Verwaltungsorgan dieser Bezirke ist der Landrat, der regulär im Mai und im Dezember für zwei Wochen zusammentritt. Er ist bestückt mit Vertretern des Domkapitels sowie Gesandten und Ratsboten der Gemeinden und Zenden, die durch die Bürgerschaft gewählt werden und meist alteingesessenen, vermögenden Patrizierfamilien entstammen. Dem Landrat steht der Landeshauptmann vor, neben dem Fürstbischof der höchste Magistrat im Land und oberster Repräsentant des Wallis. Er wird jeweils vom Landrat für zwei Jahre gewählt, hat die oberste legislative und exekutive Gewalt inne und sitzt auch dem höchsten Gericht vor.
Im Zuge der Emanzipation der Zenden ist der Landeshauptmann mehr und mehr zum Gegenspieler des Bischofs geworden, ausgestattet mit hohem Ansehen und mit dem Respekt heischenden Titel »Schaubare Grossmächtigkeit«. Unter seinem Vorsitz entscheidet der Landrat politische Geschäfte in allen Bereichen. Allerdings handeln die Ratsboten aufgrund von Instruktionen ihrer Gemeinden. Haben sie keine, nehmen sie die Beschlüsse nur »ad referendum« an und legen sie nach ihrer Rückkehr ihren Gemeinden vor. Die einzelnen Zenden können sich damit über Beschlüsse des Landrates hinwegsetzen, schliessen alleine Verträge und Bündnisse ab und entscheiden oft auch in militärischen Belangen eigenständig. Die begrenzte Zentralgewalt des Landrats und des Landeshauptmanns sowie die Rivalitäten unter den Zenden führen zu anhaltenden Reibereien, aber doch ist der Landrat – vergleichbar mit der eidgenössischen Tagsatzung – das Band, das den losen Walliser Staatenbund im Rhonetal zusammenhält.
Drei sich überlagernde und sich durchdringende Konflikte beherrschen das Geschehen und spitzen sich in den Jahren von Stockalpers Kindheit und Jugend zu: Aussenpolitisch ist es das Verhältnis der Landschaft Wallis zur Eidgenossenschaft, zu den benachbarten Orten und zu den angrenzenden Mächten Spanien-Mailand auf der einen, zu Savoyen sowie Frankreich auf der andern Seite. Innenpolitisch sind es die konfessionelle Spaltung und die Richtungskämpfe zwischen Reformierten und Katholiken. Und institutionell ist es die Auseinandersetzung um die fürstbischöfliche Landesherrschaft und die kommunale Herrschaft der Zenden, des Landrats und des Landeshauptmanns.
Seit Anfang des 15. Jahrhunderts ist das Wallis ein sogenannter Zugewandter Ort der Eidgenossenschaft und mit ihr sowie den benachbarten Herzogtümern durch mehrere, zum Teil divergierende Bündnisse verbunden. Massgeblich für das Verhältnis zu den Nachbarn ist seit jeher die geostrategische Lage des Wallis zwischen den verschiedenen Einflusssphären.13 Gut zwanzig unterschiedlich intensiv begangene Pässe verbinden das Wallis mit seinen Nachbargebieten: Nach Osten führen der Furkapass in die katholische Zentralschweiz und der Nufenenpass über das Bedrettotal in die von den innerschweizer Orten beherrschte Leventina. Nach Norden ins reformierte Bern öffnen sich ein gutes halbes Dutzend Alpenübergänge, darunter der Grimselpass mit seiner Fortsetzung über den Brünig nach dem katholischen Luzern, der Lötschen-, der Gemmi-, der Rawil- und der Sanetschpass. Gegen Süden sind es sieben Passrouten: Der bedeutende Simplonpass sowie der Gries- und der Albrunpass münden ins Val d’Ossola und damit ins Herrschaftsgebiet des spanisch-habsburgischen Herzogtums Mailand, ebenso weiter westlich der Antrona- und der Monte-Moro-Pass. Und schliesslich ins piemontesische Aostatal und somit ins Gebiet des Herzogtums Savoyen führen der Theodulpass und der seit den Römern wichtige Grosse Sankt Bernhard. Auf der Längsachse, dem Lauf der Rohne folgend, bildet das Wallis mit dem Simplonpass im Osten und dem Genfersee im Westen eine direkte Verbindung von den Handelsplätzen Mailand und Venedig in Oberitalien nach Frankreich, Burgund und weiter nach Flandern an die niederländische Küste.
Lange lag die Simplonachse im Schatten der Weltgeschichte und wurde vom grossen überregionalen Warenaustausch weitestgehend gemieden. Doch mit dem Aufstieg Englands und vor allem der Niederlande zu Seemächten und mit der Öffnung neuer, globaler Meeresrouten verlagerten sich die Handelsaktivitäten in den Westen des Kontinents in Richtung Atlantik. Dadurch intensivierten sich die europäischen Verkehrsströme auf der westlichen Achse zwischen London und Antwerpen, zwischen den traditionellen Märkten und Messen in Flandern und der Champagne sowie in Norditalien mit den Handelsplätzen Mailand, Venedig und Genua.14
Um 1600 rücken die Alpenpässe in den Fokus der zwei europäischen Grossmächte Frankreich und Spanien. Auf der geostrategischen Landkarte kommt ihnen nun eine ähnliche Bedeutung zu wie den Meerengen, die es zu kontrollieren gilt. Insbesondere die Simplonroute auf der Achse Nordwest-Südost gerät in den Brennpunkt der beiden Rivalen. Seit dem Zerfall des Weltreichs Kaiser Karls V. und der Erbteilung 1557/58 gehören zur spanischen Linie des Hauses Habsburg: das Kernland Spanien auf der Iberischen Halbinsel, die Königreiche Neapel und Sardinien in Süditalien, das Herzogtum Mailand als stabile Machtbasis in der Lombardei sowie die spanischen Niederlande am Ärmelkanal. Dazwischen liegt die spanische Franche-Comté, die Freigrafschaft Burgund. Spanien kann den Provinzen in den Niederlanden zwar auf dem Seeweg Truppen zuführen, viele Heeresverbände werden jedoch in Italien rekrutiert und sind in Sizilien, Neapel und Mailand stationiert. So sind für Spanien die alpinen Landkorridore als Nachschub- und Verbindungslinien zwischen den Herrschaftsgebieten unerlässlich. Einerseits sind es die Pässe in Tirol, insbesondere die Bündner Pässe und der Sankt Gotthard, die Spanisch-Mailand mit den habsburgischen Stammlanden im Osten und den spanisch-habsburgischen Gebieten im Norden und Nordwesten verbinden und als »spanische Strasse« gelten.15 Von grossem Interesse ist aber auch der Simplon-Passweg, der via die Verlängerung über den Col du Jougne im französischen Jura die direkte Verbindung von Genua und Mailand in die spanische Freigrafschaft Burgund und weiter nach den spanischen Niederlanden ermöglicht.16
Frankreich unter der Herrschaft der Bourbonen seinerseits sieht sich von spanischen Gebieten eingekreist, sucht die spanische Dominanz zu brechen und will vom französischen Kernland aus auf angrenzende Gebiete ausgreifen. Im Norden gegen Flandern und Holland, im Osten gegen die Freigrafschaft Burgund, das Elsass und Schwaben, im Süden gegen Turin und Mailand. In Oberitalien ist Frankreich eine Koalition eingegangen mit der Republik Venedig, die sich von Bergamo im Westen bis nach Istrien im Osten erstreckt. Auch für Frankreich sind die Routen über die Alpenpässe von strategischer Bedeutung für seine Interessen in Oberitalien. Vom wichtigen Handelszentrum Lyon aus führt die »Route de Piémont« via Chambéry über den Mont Cenis sowie via Briançon über den Montgenèvre nach Turin. Ferner gibt es die »Route de Savoie« über Genf, das Chablais, den Kleinen Sankt Bernhard und das Aostatal nach Turin. Eine für Frankreich wichtige Route führt zudem von Lyon via Genf und das Unterwallis über den Grossen Sankt Bernhard und das savoyische Aostatal nach Turin, die andere durch das Wallis über den Simplon in die Lombardei und nach Venedig.
Die exponierte geostrategische Lage des Wallis spiegelt sich in den Verträgen und Allianzen, die es mit seinen Nachbarn über die Zeit geschlossen hat.17 Seit 1416 ist es durch ein Burg- und Landrecht mit den sieben katholischen Orten Uri, Schwyz, Unterwalden, Zug, Luzern, Freiburg und Solothurn verbunden, ein bilateraler Vertrag zur Stabilisierung der Beziehungen und zur Sicherung der Freundschaft. Das Bündnis, das auch konfessionelle Fragen betrifft, wurde 1529 erweitert und seither immer wieder erneuert, so auch 1604 kurz vor Stockalpers Geburt. Dabei versuchten die katholischen Kantone vergeblich, das Wallis in ihr Bündnis mit Spanien-Mailand einzubeziehen, das neben Solddiensten vor allem den Truppendurchzug auf dem »Camino de Suizos« hauptsächlich über den Gotthardpass in verschiedenen Varianten nach Basel und den Rhein entlang nach den spanischen Niederlanden gewährleistete. Mit Spaniens Gegenspieler Frankreich ist das Wallis ebenfalls eng verbündet, seit es sich nach der Niederlage der Eidgenossen bei Marignano als Zugewandter Ort 1516 dem »Ewigen Frieden« zwischen Frankreich und der Eigenossenschaft angeschlossen hatte und 1521 auch Teil des Hilfs- und Soldbündnisses wurde; dieses Bündnis wird 1602 erneuert.
Mit dem Herzogtum Savoyen im Südosten besteht ein einigermassen stabiles Verhältnis, nachdem Herzog Emanuel Philibert von Savoyen alle Ansprüche im Wallis aufgegeben hat. 1536, als er Genf einnehmen wollte, hatte Bern die Waadt erobert und Genf besetzt. Und das Wallis hatte ungeachtet eines bestehenden Bündnisses mit Savoyen das Gebiet von Saint-Maurice bis Evian am südlichen Ufer des Genfersees eingenommen, um den Berner Truppen zuvorzukommen. 1569 im Vertrag von Thonon trat das Wallis Evian und das Tal von Abondance wieder an Savoyen ab, behielt aber das für den durchgehenden Transitverkehr wichtige Gebiet auf der linken Rhoneseite zwischen Saint-Maurice und dem Genfersee.18 Beschleunigt wurde die Einigung mit Savoyen auch durch ein Defensivbündnis, das Savoyen 1560 mit den katholischen Orten geschlossen hatte und seither immer wieder erneuerte. Mit dem reformierten Bern, das sich in diesem Eroberungszug am Ausgang des Rhonetals am rechten Ufer festgesetzt hatte, schloss das Wallis 1589 ein Bündnis, das 1602, 1618 und auch später wieder erneuert wurde, während Bern 1617 mit Savoyen ebenfalls in ein Bündnis trat. Bern schloss 1615 und 1618 zusammen mit Zürich seinerseits ein Bündnis mit der Republik Venedig. Diese war mit Frankreich verbunden und der Kopf der anti-habsburgischen Koalition in Oberitalien. Zudem bestand seit dem Jahr 1600 eine Allianz des Wallis mit den sich zusehends stärker reformierenden Drei Bünden im Osten, eine Alpenlängsverbindung der Zugewandten Orte also, die wiederum der beidseitigen Sorge vor einem Erstarken der Position Spaniens in Oberitalien entsprang.19
Damit befindet sich das Wallis um 1600 in einer ähnlich prekären Lage wie der andere Zugewandte Ort der Eidgenossenschaft, die Drei Bünde im Osten. Dort erlangen die Bündner Alpenpässe, insbesondere San Bernardino, Septimer, Splügen, Maloja, Julier, Bernina und Umbrail, ebenfalls geostrategische Bedeutung. Die bündnerischen Passrouten sind die kürzesten Verbindungen zwischen dem spanisch-habsburgischen Mailand und dem österreichischen-habsburgischen Tirol. Besonders exponiert sind die von den Drei Bünden gemeinsam verwalteten Untertanengebiete Veltlin und Bormio. Aus der Sicht von Spanien-Mailand ist das Veltlin die beste Route zu den habsburgischen Stammlanden im Osten und ein mögliches nördliches Einfallstor des Protestantismus, sodass es dieses Gebiet unbedingt unter seine Kontrolle bringen will. Zudem ist Spanien bestrebt, möglichst direkte und sichere Verbindungen zwischen seinen Besitzungen in Norditalien und in den Niederlanden zu schaffen, hauptsächlich über den Sankt Gotthard und die katholische Innerschweiz, aber auch über die Bündner Pässe, via Rhein, Bodensee und das Elsass. Die Gegenkoalition Frankreich-Venedig hat ebenso hohes Interesse, Habsburgs strategische Verbindungslinien zu behindern und insbesondere die Routen über den Splügen- und den Septimerpass, die einzigen Nordanschlüsse der Republik Venedig, nicht in habsburgische Hände fallen zu lassen. Beide Seiten finden bei den massgebenden Adelsfamilien in den Drei Bünden willige Verbündete, die sich gegen Pensionen, Soldverträge und Bestechungsgelder auf die eine oder andere Seite schlagen, die katholische Familie von Planta auf die Seite Spanien-Österreichs, die reformierte Familie von Salis auf die Seite Frankreichs.
Während sich im ersten Jahrzehnt des 17. Jahrhunderts der Druck der europäischen Mächte in den von Reformation und Gegenreformation zerrütteten Drei Bünden erhöht und bald in kriegerische Interventionen und Anarchie mündet, hält sich das Wallis im unübersichtlichen Geflecht von Bündnissen und Gegenbündnissen in einem stets gefährdeten Gleichgewicht zwischen den benachbarten eidgenössischen Gebieten und den rivalisierenden Grossmächten. Das Wallis selbst ist tief gespalten und erheblichen inneren Spannungen ausgesetzt. Die Bruchlinie verläuft mitten durch das Tal. In den unteren Zenden Sitten, Siders und Leuk sind die tonangebenden Familien nach Frankreich orientiert und bilden die »französische Partei«. Die oberen Zenden Brig und Goms richten den Blick und die Politik nach der Innerschweiz und Spanien-Mailand aus und bilden die »spanische Partei«, während die Zenden Raron und Visp ebenfalls eher Spanien zuneigen, diese Orientierung aber weniger trennscharf und auch schwankend ist.
Überlagert wird diese Entzweiung durch die religiösen Spannungen. Die Reformation hatte das Wallis keineswegs unberührt gelassen. Im Unterwallis und in den unteren Zenden Sitten, Siders und Leuk hatten sich einflussreiche Familien zum neuen Glauben bekannt, mit Rückendeckung und Unterstützung von Bern. Dieses war darauf aus, zusammen mit den reformierten Städten Zürich, Basel und Schaffhausen sowie den Drei Bünden im Osten die katholischen Orte einzukreisen und ihnen den Verkehr mit den katholischen Ländern zu erschweren. Gegen den reformierten Glauben und ihre Vertreter opponieren die streng katholischen und papsttreuen oberen Zenden, insbesondere der mit Sitten rivalisierende Zenden Brig und das Goms, die mit der katholischen Innerschweiz verbunden sind. Die innerschweizer Orte fürchten eine protestantische Umklammerung und sind angewiesen auf eine sichere Verbindung mit ihrem westlichen Bundesgenossen, dem Herzog von Savoyen.
Der als gutmütig und nachsichtig geltende Fürstbischof Hildebrand I. von Riedmatten tut wenig zur Verteidigung des katholischen Glaubens im Wallis und damit auch für seine Stellung als Landesfürst, die im Zuge der Reformation von den städtischen Oberschichten insbesondere in den unteren Zenden immer stärker angefochten wird. Im Landrat haben die Neuerer um diese Zeit eine starke Stellung erreicht und die politischen, administrativen und judikativen Befugnisse des Bischofs weiter zurückgedrängt. Für sie ist es ausgemacht, nach dem Tod von Hildebrand I. von Riedmatten die bischöfliche Landesherrschaft ganz zu brechen und den Bischofssitz aufzuheben. Die katholischen, innerschweizerischen Orte beobachten die fortschreitende Reformation des Wallis mit Sorge. Im Herbst 1602, anlässlich der Erneuerung des Bundes in Sitten, drängt eine Delegation darauf, das katholische Kirchenleben im Wallis zu stärken und in Sitten ein Kapuzinerkloster einzurichten. Im Juli des darauffolgenden Jahres kreuzt auch eine Gegengesandtschaft der reformierten Orte und der Drei Bünde auf, muss aber unverrichteter Dinge zurückkehren.
Da beschliessen die fünf katholischen Orte, die Rekatholisierung des Wallis selbst ins Werk zu setzen. Mit Rückendeckung des spanischen Gubernators in Mailand, Pedro Henriquez de Acevedo Graf von Fuentes, und des Herzogs Karl Emanuel I. von Savoyen überschreitet im August 1603 eine von einem Luzerner Schultheissen und einem Urner Landammann geleitete Gesandtschaft den Furkapass. Sie hat die Instruktion, von Zenden zu Zenden zu ziehen und »den Gemeinden zuzusprechen«, also den neuen Glauben zu bekämpfen, indem sie unter Umgehung des Landrates direkt im Volk die Leidenschaften entfesselt. Die Gemeinden werden versammelt, die Anwesenden verpflichtet, für den alten Glauben Gut und Blut zu opfern. Drohung und Enthusiasmus tun ihre Wirkung: Unter begeistertem Zuspruch der Bevölkerung und begleitet von bewaffnetem Volk ziehen die Innerschweizer Gesandten durch die Gemeinden bis nach Sitten hinunter. Der Landrat protestiert zunächst, gibt dann aber eingeschüchtert nach.20
Gestärkt durch die plebiszitäre Aufwallung, setzen der Bischof, das Domkapitel und die vier oberen Zenden 1604 mit dem sogenannten »Visper Abschied« im Landrat ein Verbot reformierter Glaubenspraktiken im Wallis durch. Die Reformierten werden aus der Regierung und aus allen öffentlichen Ämtern ausgeschlossen. Sie müssen sich zum Katholizismus bekennen, ansonsten droht ihnen die Ausweisung. Reformierte Bücher und Schriften werden untersagt, der Besuch auswärtiger protestantischer Schulen verboten. Walliser Schüler und Studenten, die in grosser Zahl protestantische Institutionen in Bern, Genf, Zürich und Basel besuchen, werden heimgerufen. Die Beschlüsse sind rigoros und bringen das Land nahe an eine bewaffnete Auseinandersetzung zwischen oberen und unteren Zenden. Schliesslich kommt es jedoch zu einem Kompromiss und der Duldung der Protestanten. Darüber hinaus jedoch misslingt 1604 der Versuch, das Wallis in die Linie der katholischen Orte einzureihen. Diese wollen das Wallis in das erneuerte Bündnis von Luzern, Uri, Schwyz, Unterwalden, Zug, Freiburg und Appenzell Innerrhoden mit Spanien einbeziehen. Die oberen Zenden unter der Führung Brigs, die auch wirtschaftlich von der Lombardei abhängen, drängen wegen der geografischen und konfessionellen Nähe und auch aus handelspolitischen Gründen auf den Beitritt. Die nach Frankreich orientierten und – vom Salz abgesehen – wirtschaftlich weniger abhängigen unteren Zenden stellen sich jedoch dagegen, auch weil Bern damit droht, für diesen Fall gegenüber der Festung von Saint-Maurice bei der steinernen Brücke am Eingangstor zum Wallis eine eigene Festung zu bauen.
Der Ende 1604 gewählte Bischof Adrian II. von Riedmatten bemüht sich um den Wiederaufbau des katholischen Lebens. Luzern schickt katholische Priester als Seelsorger ins Land. Für die Volksmission werden Kapuziner, für den Aufbau der Bildungsstätten Jesuiten gerufen. Jesuitenschulen gibt es ab 1607 an etlichen Orten, zuerst in Ernen, dann bei Siders, in Venthône und bis 1627 in Sitten und Brig. Zeitweise unterrichten sie bis zu 150 Schüler, die sie wie Kaspar Stockalper im katholischen Glauben und in der Treue zu Papst und Kirche festigen. Bischof Adrian II. von Riedmatten ruft aber auch seine Stellung als Reichsfürst über das Fürstbistum Wallis in Erinnerung. Dabei beruft er sich auf die legendäre »Carolina«, jene Schenkung, mit welcher Karl der Grosse um 800 angeblich die geistlichen und weltlichen Grafschaftsrechte über das Wallis dem Bischof Theodul übertragen hatte. Dies löst auf der Seite der Verfechter der weltlichen Landesherrschaft heftige Reaktionen aus, die bald in einem heftigen Gegenschlag münden werden.21
Während der Schulzeit Kaspar Stockalpers an den Jesuitenschulen ist die Religionsfrage im Wallis also vorerst zugunsten des Katholizismus entschieden, die Reformation auf dem Rückzug und die Rekatholisierung im Gang. Offen bricht hingegen der institutionelle Streit um die fürstbischöfliche Landesherrschaft und die kommunale Herrschaft der Zenden aus. Nach dem Tod des Bischofs Adrian II. von Riedmatten 1613 verlangen Walliser Aristokraten, welche die bischöfliche Landeshoheit stets angefochten hatten und sich »Patrioten« nennen, dass der Bischof nun sämtliche weltlichen Machtbefugnisse aufgibt. Nach längerem Streit unterschreiben Würdenträger des Domkapitels schliesslich eine Wahlkapitulation, in der auf die »Carolina« verzichtet wird, das heisst auf alle weltlichen Rechte, die der Fürstbischof von Sitten durch die Jahrhunderte über das Wallis ausgeübt hatte. Der Bischof behält zwar den Titel des Reichsfürsten, seine politische Rolle wird jedoch auf Ehrenrechte wie den Vorsitz im Landrat beschränkt. Die sieben Zenden konstituieren sich damit als Verband unabhängiger Kommunalitäten und bezeichnen sich bald als freie, demokratische »Republik Wallis«. Der Landrat wählt danach den 27-jährigen Gelehrten Hildebrand Jost zum Bischof. Dieser jedoch denkt nicht daran, auf seine Herrschaftsrechte zu verzichten, und liefert sich ein stetiges Seilziehen mit dem Landrat und dem Landeshauptmann. Sein Versuch, den Erlass zu beseitigen, gipfelt 1619 in offenem Aufruhr und der Demütigung des geistlichen Landesherrn. Aber bis zur endgültigen Kapitulation wird sich der Streit noch über Jahre hinziehen.
1623 wählt der Landrat Johannes von Roten (1575–1659) zum Landeshauptmann. Als Landschreiber steht ihm bald Michael Mageran (1575–1638) zur Seite, ein reicher Kaufmann aus Leuk, Inhaber des Monopols auf den Salzimport und den Warentransport über den Simplon, zudem Anführer der »französischen Partei« sowie der »Patrioten«, der in der Funktion des Staatskanzlers nun eine zentrale Machtposition erreicht. So überzeugt Landeshauptmann Johannes von Roten zum katholischen Glauben steht, so sehr ist er ein Feind der weltlichen Herrschaftsansprüche des Sittener Klerus und des Bischofs. 1626 flammt der Zwist zwischen den »Patrioten« und dem Bischof wieder auf, als Michael Mageran das bischöfliche Wappen, das Hildebrand Jost am Landesschulhaus in Sitten angebracht hat, mit Gewalt entfernen lässt. Der Bischof, ermutigt durch die Erfolge der kaiserlichen Heere auf den Schauplätzen des Dreissigjährigen Kriegs in Deutschland, verficht nun forscher seine Hoheitsrechte, während die Zenden in Landschreiber Mageran einen Anführer haben, der keine Gelegenheit auslässt, den Bischof in die Schranken zu weisen.
Bischof Hildebrand Jost hatte sich die Karolinischen Schenkungen insgeheim in Wien durch Kaiser Ferdinand II. bestätigen lassen. Besonders erbost die Walliser, dass der Bischof nun droht, das Bistum zugunsten eines Ortsfremden aufzugeben. Jetzt hat Landeshauptmann von Roten einen Grund, gegen Hildebrand vorzugehen. Den ersten Schlag führt er allerdings nicht gegen den Bischof selbst, sondern gegen die Jesuiten, die als Vasallen des Papstes und heimliche Ratgeber des Bischofs gelten. Der Obere der Jesuiten greift bei einer Predigt in Raron auf die mittelalterliche Zwei-Schwerter-Lehre zum Verhältnis zwischen kaiserlicher und päpstlicher Macht zurück und predigt vom »geistlichen und weltlichen Schwert des heiligen Theodul«, beide Schwerter habe dieser einst direkt von Karl dem Grossen erhalten. So bringt der Jesuit in Anwesenheit des Landeshauptmanns erneut die Karolinischen Schenkungen als Legitimation für die Landesherrschaft des Bischofs in Anschlag. Damit liefert er den »Patrioten« den willkommenen Anlass zum Losschlagen.
Landeshauptmann Johannes von Roten handelt rasch und entschlossen. Er beruft im Februar 1627 den Landtag nach Leuk. Unter dem Druck insbesondere von Landschreiber Michael Mageran beschliesst dieser an einer stürmischen Versammlung kurzerhand, die Jesuiten wegen ihrer Verstrickung in den Machtkampf aufseiten des Bischofs und wegen ihrer Spanienfreundlichkeit aus dem Wallis auszuweisen. Von den Jesuiten, deren Gründer Ignatius von Loyola 1622 gerade heilig gesprochen wurde, heisst es, sie seien dem Papst hörig, würden im Geheimen Intrigen spinnen, konspirativ arbeiten und als Berater und Beichtväter der Herrschenden die Politik beeinflussen. Sie gelten als Einflüsterer der Bischöfe und Agenten des kirchlichen Absolutismus, als arglistig, habgierig und machtlüstern. All diese Ressentiments entladen sich jetzt. Die Jesuitenschulen im Wallis werden geschlossen, die Schüler müssen gehen.22 So auch Kaspar Stockalper. Er verlässt das Wallis Mitte September 1627 und schreibt sich am 30. September an der Jesuitenuniversität in Freiburg im Breisgau ein. Indem er sich ins Ausland absetzt, bringt er sich auch in Sicherheit, denn just in diesen Tagen erschüttert ein Umsturzversuch das Wallis, in den die Stockalpersippe verwickelt ist.
Den Sommer über haben sich die Fronten zwischen Landesregierung und Bischof weiter verhärtet. Nun nimmt einer die Sache selbst in die Hand: Anton Stockalper. Er ist ein Enkel des ehemaligen Landeshauptmanns Peter I. Stockalper, Sohn des früheren Zendenhauptmanns und Kastlans von Brig Anton I. Stockalper und Onkel zweiten Grades von Kaspar Stockalper. Er war Meier des Freigerichts Ganter, diente als Hauptmann für Savoyen im Piemont und für Frankreich im Veltlin, amtete als Landvogt von Saint-Maurice und ist päpstlicher Ritter vom Goldenen Sporn.23 Politisch verficht er die Seite von Spanien-Mailand. Im Streit um die Landesherrschaft hat er sich gegen die »Patrioten« gestellt, Partei für Bischof Hildebrand Jost ergriffen, die Beschlüsse vom Februar in Leuk zur Vertreibung der Jesuiten öffentlich heftig kritisiert und resolut deren Rückkehr verlangt. Anton Stockalper ist kein Politiker der feinen Diplomatie, sondern ein Heisssporn und Haudegen. Um seine Sache zu beschleunigen, schmiedet er ein Komplott und schart Parteigänger und Veltliner Söldner um sich. Er will Landeshauptmann Johannes von Roten und Landschreiber Michael Mageran töten und damit der Zendenrepublik ein Ende setzen. Doch die Verschwörung fliegt auf. Am 15. September wird Anton Stockalper bei der Sust von Leuk festgenommen und in Sitten eingekerkert.
Für Landeshauptmann Johannes von Roten ist dies die Gelegenheit, den zweiten Schlag zu führen. Dreimal wird Anton Stockalper gefoltert und gesteht jedes Mal schwerere Verbrechen. Gemäss den Prozessakten bezeichnet er sich als »Spanier« und gibt zu, dass er auf der Seite Mailands und des spanischen Königs steht und alle Papstgegner als seine Feinde betrachtet. Die Anklage lautet auf Verrat, Mord, Aufruhr, Widerspenstigkeit und weitere Delikte. So habe er auch Banditen beherbergt, ihnen zur Flucht verholfen und das gemeine Volk gegen die Obrigkeit aufgewiegelt.24 Am 6. Oktober beginnt im Bischofsschloss von Leuk gegen den Verräter und Verschwörer ein hochpolitischer, von zahlreichen Unregelmässigkeiten begleiteter Prozess, dessen Ausgang zum Vornherein feststeht. In der Gerichtskommission, die über Anton Stockalper urteilt, sitzen seine Todfeinde der »französischen Partei« und der »Patrioten«, Landeshauptmann Johannes von Roten und Landschreiber Michael Mageran. Mit ihrem Schuldspruch räumen sie den gefährlichen Oppositionellen beiseite und nutzen die Gelegenheit, ein Exempel zu statuieren – gegen den Bischof und seine Herrschaftsansprüche, gegen die Bischoftreuen der »spanischen Partei« in den oberen Zenden, gegen die Vormachtstellung der Briger am Simplonpass und gegen die in Brig einflussreiche Stockalperfamilie. Am 22. November 1627 fällt das Todesurteil.
Ein Zeitgenosse, der Geistliche Caspar Berodi von Saint-Maurice, der Anton Stockalper kannte und dem Klerus günstig gesinnt war, schilderte die Hinrichtung in seinem Tagebuch so: »Am Samstag, 4. Dezember, bei heiterem und warmem Wetter, wurden beim Leuker Galgen auf dreifache Art hingerichtet Herr Anton Stockalper, früherer Landvogt von St. Maurice, Ritter des Goldenen Sporns und Hauptmann im Piemont und im Veltlin, samt seinem italienischen Diener, und zwar ob des geplanten Verrates gegen das Vaterland. Vorerst wurden sie geköpft, weil sie die vornehmsten Herren umbringen wollten. Zweitens wurden ihre Leiber gevierteilt als Landesverräter. Drittens wurden ihre Glieder verbrannt, weil sie Sitten und Leuk mit künstlichem Feuer einäschern wollten, und jene, die löschen wollten, sollten mit dem Schwert umgebracht werden. Diese geplante Untat wurde 5 oder 6 Tage vor dem Verrat ruchbar; ihre Kerkerhaft aber dauerte vom 15. September bis zum Tage der Hinrichtung.«25 Die Mobilien von Anton Stockalper sollen an den Landeshauptmann fallen, die Landgüter an die Zenden; sie werden erst später den Nachkommen zurückgegeben. Zudem ergeht der Erlass: Wer das Todesurteil gegen Anton Stockalper als ungerecht beklage, den solle die gleiche Strafe treffen. Eine Bestimmung, die Kaspar Stockalper nach Jahrzehnten einholen und ihm zum Verhängnis werden wird.