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Vorwort

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Am Anfang war die Verwunderung. Einmal reiste ich von Italien her über den Simplonpass ins Wallis. Im Grenzort Gondo hatte ich den alten Stockalperturm hinter mir gelassen und später auf der Passhöhe beim Alten Spittel haltgemacht, diesem mächtigen, granitenen Schutzbau mit seinem eigenwilligen Glockentürmchen, der seit rund 350 Jahren die Hochebene beherrscht. Ich fuhr von der Passhöhe hinunter und bog hinter der Ganterbrücke auf die alte Simplonstrasse ein, die sich am Hang entlang abwärts schlängelt. Nach einer scharfen Kurve öffnet sich der Blick über das weite Rhonetal und das Städtchen Brig am Fuss des Simplons. Mittendrin steht dieses Schloss, sichtbar schon von Weitem mit seinen drei Türmen und den goldenen Zwiebelhauben.

Noch heute erkennt man von blossem Auge: Der Stockalperpalast in seiner feudalen Grösse und barocken Pracht spottet an diesem Ort allen Grössenverhältnissen. Wie mussten sich ahnungslose Passreisende vor 350 Jahren gewundert haben, wenn sie ihn das erste Mal erblickten: Ein gewaltiger vierstöckiger, kastellartiger Kubus mit Gewölben und Prunksälen erhebt sich über den kleinen Passort. Der angebaute Arkadenhof ist von atemberaubender Schönheit, in seinen Ausmassen und seiner Eleganz einzigartig in diesen Breitengraden, und dient nichts anderem als der Zurschaustellung von Reichtum und Überfluss. Die geometrisch angelegte Parkanlage mit ihren künstlichen Wasserläufen und Springbrunnen ist sichtlich den Lustgärten französischer Schlösser nachempfunden. Und die drei hoch aufstrebenden Türme künden von der Bedeutung, dem absolutistischen Herrschaftswillen und dem religiösen Sendungsbewusstsein ihres Erbauers. Mitten im Wallis hat Kaspar Stockalper vom Thurm um 1660 den grössten weltlichen Barockbau der Schweiz und des ganzen Alpenraums errichten lassen, eine einzige übersteigerte Allegorie seiner Macht, seines Reichtums und seiner selbst.

Zur Verwunderung kam die Neugier. Ich wollte verstehen, wie es möglich war, dass ein Einzelner sich derart aufschwingen und fast ein Jahrhundert lang nahezu alles in der Republik Wallis bestimmen konnte. Kaspar Stockalper erkannte als junger Mann mit strategischem Scharfblick, dass der Simplon als direkte Verbindung von Oberitalien Richtung Atlantikküste geopolitische Bedeutung erlangen würde. In den Wirren des Dreissigjährigen Krieges von 1618 bis 1648 und darüber hinaus machte er sich die Rivalität zwischen Frankreich und dem habsburgischen Spanien-Mailand in einem ständigen Pendelspiel zunutze. Er brachte die lukrativen Monopole des Landes für den Warentransit über den Pass und die Salzversorgung unter seine Kontrolle, zog ein Söldnerunternehmen auf, verschränkte diese Geschäfte und machte sich damit bei den europäischen Grossmächten unentbehrlich. Er tauschte Kompanien und Kredite gegen Salz und Handelsprivilegien, verkehrte mit Königen, Kaiser und Päpsten und dehnte sein Wirtschaftsimperium über den halben Kontinent aus. Mit dem wachsenden Reichtum verschaffte er sich im Wallis stetig mehr Einfluss, schuf Loyalitäten und Abhängigkeiten in den Führungsfamilien und konnte bald die Regeln nach seinen Interessen bestimmen. Am Übergang vom Feudalismus zum Frühkapitalismus installierte er ein spezifisches »System Stockalper«, mit dem er fast jedes einträgliche Geschäftsfeld und jeden politischen Bereich dominierte.

Das 17. Jahrhundert kann im Wallis das »Stockalpersche Jahrhundert« genannt werden. Auch wenn die Auffassung, dass »grosse« Männer »Geschichte machen«, inzwischen verpönt ist – bei Stockalper trifft es zu: Jahrzehntelang sass er an den entscheidenden Hebeln, griff in die geschichtliche Entwicklung ein und drückte ihr seine Signatur auf. Der Handelsherr und Staatsmann aus Brig, der schon zu Lebzeiten als der »Grosse Stockalper« bezeichnet wurde, steht als singuläres Phänomen da, nicht einzig in seiner Art, aber einmalig in seiner Zeit und in seinem Wirkungsraum. Er ist ein Faszinosum, anziehend durch seine Schaffenskraft und seinen Gestaltungswillen, abstossend zugleich durch seine Raffgier, seine Egomanie und die Rücksichtslosigkeit, mit der er seinen Willen durchsetzte. Dieses Individuum zu verstehen, seine Handlungsweisen und Beweggründe zu erklären und auch seine Bedingtheit durch die sozioökonomischen Umstände, die strukturellen und institutionellen Gegebenheiten im Ancien Régime und die internationalen Ereignisse zu erkennen, ist die Absicht dieser Lebensbeschreibung.

Zur Verwunderung über das Phänomen Kaspar Stockalper und zum Bedürfnis, ihn in seiner Zeit und seinem Kontext zu verstehen, kam etwas Drittes hinzu. Es war der Drang, diese aussergewöhnliche Lebensgeschichte mit erzählerischen Mitteln darzustellen. Ich hatte mich schon mehrfach mit Stockalper beschäftigt.2 Aber je mehr ich mich in die Zeitgeschichte, die Quellen und die Vielzahl der Studien vertiefte, desto mehr schälte sich heraus: Dies ist ein Stoff für ein »Königsdrama« shakespearschen Zuschnitts. Alles ist da: Ein allein agierender Protagonist, der mit eisernem Willen, Gerissenheit und Härte sein Ziel verfolgt, Reichtum und Macht zu erlangen. Es gibt die Konkurrenten und Widersacher, die gegen ihn arbeiten. Es kommt zum Höhepunkt, als der Held sich mit Pomp und Pracht in seinem Erfolg sonnt und gar als Gottes Günstling die ewige Seligkeit erwerben will. Wenn die Hybris zu viel wird, folgt wie im klassischen Drama der unerwartete Umschlag: Die Gegner und Neider verbünden sich, betreiben hinterlistige Ränkespiele, bis sie ihn zu Fall bringen. Was tönt wie ein fabulierter Plot für ein Bühnenstück, ist jedoch von der Wirklichkeit bereitgestellt. Tausende Seiten überlieferten Quellenmaterials lassen das Bild einer vielschichtigen, von unterschiedlichsten Einflussfaktoren geprägten Lebensgeschichte entstehen, die sich über Jahrzehnte in verschlungenen Handlungssträngen, in sich überlappenden Aktionsfeldern und in vielfältig verknüpften Personengruppen entfaltet.

Kernstück sind die vierzehn erhaltenen Bände seiner Handelsund Rechnungsbücher, etwa 8000 meist zweispaltig und mehrsprachig beschriebene Seiten, die das Forschungsinstitut zur Geschichte des Alpenraums der Schweizerischen Stiftung für das Stockalperschloss in Brig in zehnjähriger Arbeit ediert hat.3 Darin hielt Kaspar Stockalper von seinem ersten Begleitzug über den Simplonpass 1634 bis kurz vor seinen Tod 1691 alle wichtigen Transaktion, Verträge und Ereignisse fest, sodass sich sein Geschäftsgebaren, seine Handlungsmaximen, sein politisches Agieren und seine religiösen Motive rekonstruieren lassen. In ihnen teilt sich von Tag zu Tag sein ganzes merkantiles, politisches und spirituelles Universum mit. Hinzu kommen im Stockalperarchiv rund 1200 Seiten Korrespondenz und mehr als 15000 Dokumente aus dem 17. Jahrhundert, von denen viele über sein Leben Auskunft geben. Erhalten sind weitere Tausende Seiten Landratsabschiede und amtliche Akten im Archiv der Burgerschaft Sitten und im Staatsarchiv des Wallis, von denen viele ebenfalls Stockalper und sein Jahrhundert erhellen.

Auf diesem umfangreichen Quellenfundus basiert die vorliegende Biografie. Natürlich übersteigt die schiere Masse der Stockalperschen Lebenszeugnisse das Fassungsvermögen jedes Historikers. Auch ich habe bei Weitem nicht alle Schriftstücke lesen, geschweige denn kontextualisieren und einordnen können. Aber ich war in der glücklichen Lage, dass sich eine lange Reihe von Forschern vor mir des gewaltigen Nachlasses angenommen hat. Seit der ersten Stockalperbiografie von Peter Arnold 1953 ist keine umfassende Lebensdarstellung mehr entstanden. Aber zahlreiche Studien und Abhandlungen haben inzwischen ein breites Spektrum unterschiedlicher Aspekte und Themen behandelt und entsprechende Quellentexte erschlossen: Stockalpers Unternehmensführung, seine Wirtschafts-, Handels-, Verkehrs- und Aussenpolitik im Krisenjahrhundert, der Einfluss seiner Finanzkraft und sozialen Netzwerke auf die Politik und vieles mehr. Auf all diese Arbeiten stützt sich dieses Buch, um die Vita dieses Mannes in seiner Zeit darzustellen. Mein grosser Dank gilt deshalb dem Kreis der Wissenschaftler am und um das Forschungsinstitut zur Geschichte des Alpenraums in Brig: Stockalperkenner Louis Carlen und Gabriel Imboden und ihnen nachfolgend Marie-Claude Schöpfer, Gregor Zenhäusern und Philipp Kalbermatter legten mit ihren Untersuchungen das Fundament für dieses Buch und haben es zum Teil mit Ratschlägen und handfester Recherchearbeit gefördert. Mein Dank geht auch an Heinrich Bortis, Markus A. Denzel, Holger Th. Gräf, Mark Häberlein, Hans Steffen, Anselm Zurfluh und viele weitere, deren Arbeiten mir eine grosse Hilfe waren. So versucht diese Lebensdarstellung mehr als sechzig Jahre nach der letzten grossen Biografie auch eine Synthese der seither geleisteten Forschungsarbeit und verfeinert, ergänzt und retuschiert im Licht neuerer Erkenntnisse und zusätzlicher Blickwinkel das Bild Kaspar Stockalpers.

Der Stoff ruft nach einer erzählenden Darstellung. Die hier gewählte Form gehört der Gattung der narrativ-dokumentarischen Biografie an.4 Sie verfolgt keine pädagogischen, ästhetisierenden oder gar hagiografischen Absichten. Sie vermeidet es auch, mit undifferenzierten Analogien um jeden Preis Verbindungen von der Vergangenheit zur Gegenwart zu schaffen oder mit behaupteten Kausalitäten die Gegenwart partout als Folge dieser Vergangenheit zu erklären. Vielmehr folgt die Erzählung in kritischer, aufklärerischer Absicht den Leitfragen: Wer tat was, wann, wie und wo, in welchem Kontext, unter welchen Voraussetzungen, aus welchen Beweggründen, zu welchem Zweck und mit welcher Wirkung? Die Darstellung bedient sich dazu der Mittel der historischen Reportage, die Unmittelbarkeit, Anschaulichkeit und Authentizität ermöglichen. Im historischen Präsens folgt sie aus nächster Nähe dem Lauf der Ereignisse und den Handlungen der Akteure. Dabei versucht sie mit Rückblende und Vorblende, Schnitt und Montage, Weitwinkel und Zoom den zeithistorischen und gesellschaftlichen Kontext sowie Detail- und Tiefenschärfe herzustellen. Die unmittelbare Teilnehmerperspektive wechselt mit der distanzierteren Beobachterperspektive und wird durch analytische, thematische Exkurse erweitert.

Jede historische Darstellung ist eine Konstruktion. Es ist daher kühn, um nicht zu sagen vermessen, wenn ein Historiker eine Lebensgeschichte rekonstruieren will, die mehr als 350 Jahre zurückliegt. Auch wenn die Quellenlage wie im Fall Kaspar Stockalper dank seiner Lebensbuchhaltung, der vielen Selbst- und Fremdzeugnisse und weiterer Archivalien vergleichsweise reichhaltig ist. Zahlreiche Vorgänge im Wallis und im Haus Stockalper aus dieser Zeit sind sehr gut dokumentiert, bei andern sind die Quellen jedoch fragmentarisch, und an vielen Punkten klaffen Leerstellen. Ich habe grossen Wert auf Quellentreue gelegt. Jede Feststellung ist nach Möglichkeit durch nachprüfbare Quellen belegt. Wo die Interpretation der historischen Überreste nicht eindeutig möglich war oder sich unüberbrückbare Lücken auftaten, behalf ich mir vorsichtig und deklariert mit der jeweils plausibelsten Deutung oder mit Schweigen. Ernst genommen wurde das »Vetorecht der Quellen«, also das Gebot, keine Deutungen zu wagen oder zuzulassen, die aufgrund eines Quellenbefundes als falsch oder als unzulässig erscheinen können.5 Direkte Zitate Stockalpers und anderer Personen sind allesamt schriftlichen Aufzeichnungen, Briefen, amtlichen Aktenstücken und zeitgenössischen Chroniken entnommen. Oftmals musste ich aus dem Latein, dem Französischen und dem Italienischen übersetzen, wobei ich möglichst nahe am Wortlaut und Wortsinn blieb. Bei deutschen Quellen behielt ich die damalige Ausdrucksweise bei, um den authentischen Eindruck zu vermitteln; einzig um der Verständlichkeit willen nahm ich geringfügige Anpassungen der Schreibweise vor. Zugunsten von Anschaulichkeit, Spannung und Unterhaltung sind einige Schlüsselereignisse szenisch gestaltet, als wäre ich Augenzeuge gewesen. Auch bei diesen Szenen achtete ich auf eine quellengestützte Rekonstruktion von Örtlichkeiten, Kleidung, Handlungen und Aussagen. So ist diese Lebensgeschichte, obwohl unvermeidlich eine Konstruktion, der Wahrheit und Richtigkeit verpflichtet. Im Wissen, dass jedes Bild der Vergangenheit ein vorläufiges ist und auch Historiker irren können, setze ich darunter jene mehr hoffnungsvolle als zweifelsfreie Zeile, mit der Kaspar Stockalper seine Einträge zu beglaubigen pflegte: »Ita est« – »So ist es.«

Helmut Stalder, Juli 2019

Der Günstling

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