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»Kurtze und mhere Sicherheit der Strassen«
ОглавлениеOb die Hinrichtung des Onkels und der Schlag gegen die Familie den jungen Kaspar Stockalper bewog, nicht in den Jesuitenorden einzutreten, stattdessen nach Brig zurückzukehren und sich in die Politik einzumischen, ist nicht geklärt.26 In den erhaltenen Zeugnissen äusserte er sich jedenfalls nie zu seinen Gründen und auch nicht zum Prozess gegen seinen Onkel. Offen bleiben muss auch, ob er damals tatsächlich ein Gelöbnis ablegte, sich nie mit den Widersachern in Sitten, Siders und Leuk einzulassen, Rache zu nehmen und die Ehre des Hauses Stockalper wieder aufzurichten, wie vermutet wurde.27
Zurück im Wallis versieht er sein Amt als Kommissar der Pestwache und beurkundet in den folgenden Jahren als öffentlicher Notar Verträge. Er hält sich aber von den laufenden Auseinandersetzungen fern, insbesondere vom Streit zwischen den »Patrioten« und dem Fürstbischof. »Brig war trostlos niedergeschlagen wegen der traurigen Lage des Bischofs, der Jesuiten und unseres Hauses. Gott bewahrte mich vor der Pest, und auch in diese Ereignisse hineingezogen zu werden. Gross war die Verwirrung der Feinde des Bischofs, der Jesuiten und unseres Hauses«, notiert er in der Rückschau.28
Die prägende Persönlichkeit in diesen Jahren ist Michael Mageran, der Anführer der »französischen Partei« und der bischoffeindlichen »Patrioten«, der die Jesuiten vertrieben und Anton Stockalper abgeurteilt hat.29 Der starke Mann von Leuk ist vor allem Kaufmann und Unternehmer. Schon früh hatte er begonnen, im Wallis mit Getreide zu handeln, das er im Burgund einkaufte. 1607 schloss er zusammen mit drei Kompagnons aus Sitten und Leuk den ersten Vertrag mit den Zenden, um das Wallis mit Salz zu versorgen. Salz ist für die Viehzucht und als Konservierungsmittel zur Herstellung von Trockenfleisch und Käse unerlässlich, und das Wallis braucht Unmengen davon. Deshalb wird die Besalzung des Landes als Monopol vom Staat in einer Konzession vergeben. Mageran importiert das Salz hauptsächlich aus Frankreich. Das für die Landschaft wichtige und damit auch politisch bedeutende Monopol wird 1617, 1627 und 1637 jeweils verlängert und bringt ihm ein grosses Vermögen ein. Im Lötschental betreibt er ein Bleibergwerk. Zudem hat er 1607 vom Wallis die Konzession für das Lärchenbohren im ganzen Land gepachtet, ebenfalls ein lukratives Monopol, denn Lärchenharz ist für die Abdichtung von Holzfässern und Booten sowie für die Herstellung von Heilbalsam und des Lösungsmittels Terpentin begehrt und gut bezahlt. Und schliesslich gewährte der Landrat 1620 dem Leuker Handelsherrn auch für fünfzehn Jahre das alleinige Recht, Kaufmannsgüter über die Pässe und durch das Wallis zu führen.
Vom Landrat erhält er den Auftrag, den Transit zu reorganisieren und »der gantzen Landschafft zu guttem Nutz und Wohlfahrt ein grosse Anzaal Kauffmansgüetter durch diese Landtschaft verferggen ze lassen järlich, sy glich uss Italia, Tütsch und Niderlanden«. Dafür bedingt sich Mageran das Privileg aus, dass »weder Fremden noch Heimbschen zu gelassen werde, by und neben im undt ohn syn Erloubnuss frembde Kauffmanswahren durch zu fieren oder passieren zlassen […], als allein die in syner Condutta sich vertrüwen wollten«. Er bezahlt die Weg- und Brückenzölle, die Gebühren für die Benutzung der Susten und die Fuhrleute, muss aber an den Staat keine Pacht für das Monopol entrichten und auch keine eingezogenen Trattengelder (Transitgebühren) für den Import und Export abliefern. Auch die Aufwendungen für die Verbesserung der Strassen werden hauptsächlich aus allgemeinen Mitteln bezahlt.30
Von den Niederlanden bis in den Piemont und nach Genua spannt Mageran seine Handelstätigkeit. Dank seines Ansehens im Zenden Leuk und seines wachsenden Reichtums führt auch seine politische Laufbahn steil bergauf. 1614 wird er als Gesandter des Wallis nach Bern beordert, 1616 zum französischen Ambassador nach Solothurn und zu den katholischen Eidgenossen. Danach wird er Meier des Zenden Leuk und 1618 auch Gesandter zum Bundesschwur mit den reformierten Drei Bünden in Chur. 1620 ernennt ihn Leuk zum Bannerherrn, also zum obersten Offizier und Verteidigungsminister des Zenden.
Michael Mageran hat sich lange hervorgetan als Kopf der protestantischen Bewegung in Leuk, dem Vorposten der Reformation im Wallis. Das Glaubensbekenntnis ist für ihn jedoch wandelbar, wenn es dem Geschäft und der politischen Karriere dient. Im Dezember 1624 bekennt er sich nach längerem Taktieren vor Bischof Hildebrand Jost feierlich zum katholischen Glauben und wird vom Landrat umgehend zum Landvogt von Monthey gewählt. Danach stehen ihm die höchsten Ämter des Wallis offen. 1625 wird er Landschreiber und Staatskanzler und führt zwischenzeitlich ein Walliser Regiment für den Herzog von Savoyen im Piemont.
Als im Oktober 1626 die Kämpfe zwischen der Landschaft Wallis und Bischof Hildebrand Jost wieder aufbrechen, ist es jedoch wiederum Mageran, der zusammen mit Landeshauptmann von Roten energisch den bischöflichen Herrschaftsansprüchen entgegentritt. Nach der Hinrichtung von Anton Stockalper fürchtet Bischof Hildebrand Jost nun selbst um sein Leben, zumal er als Anstifter des Attentats verdächtigt wird.31 Er folgt zuerst einer Einladung des päpstlichen Nuntius nach Luzern, während sich der Landeshauptmann mit seinem Gefolge im Bischofsschloss in Sitten einrichtet. Dann wird der Bischof zum Papst nach Rom gerufen und ist mehr als ein Jahr landesabwesend. Als er im Juni 1630 über den Grossen Sankt Bernhard zurückkehren will, halten ihn Truppen der »Patrioten« an der Landesgrenze auf. Fünf Monate sitzt Bischof Hildebrand Jost fest, bis er im November schliesslich vor den Landrat geladen wird. Michael Mageran stellt ihn vor die Entscheidung, das Wallis als freie, demokratische Republik anzuerkennen oder zu gewärtigen, dass er beschuldigt wird, das Land dem Kaiser auszuliefern. Der Bischof, das Domkapitel und der Klerus würden dem Volkszorn überantwortet. Von Feinden und Wachen umringt und unter Druck gesetzt, unterzeichnet Hildebrand eine Verzichtsurkunde, die ihm Mageran hinhält.32 Damit beginnt die Zeit der Unabhängigkeit der Zenden, die sogenannte »Zendenherrlichkeit«. Die Macht geht damit definitiv auf die Zendenräte und die etwa dreissig dort dominierenden, meist alteingesessenen Patrizierfamilien über. Mageran gelangt in die Schlüsselposition: Als Johannes von Roten das Amt des Landeshauptmanns niedergelegt, kann kein anderer nachfolgen: Im Juni 1631 wird Michael Mageran Landeshauptmann der Republik Wallis.
Mageran ist zu dieser Zeit der reichste und mächtigste Mann im Land und kontrolliert die einträglichsten Geschäfte. Als er 1620 das Privileg für den alleinigen Gütertransit erhielt, baute der Handelsherr mit dem sicheren Gespür für die Opportunitäten, die der Korridor bot, ein weit gespanntes internationales Vertragswerk zur Sicherung des Transits auf. Allerdings wird die politische Lage zusehends schwieriger. Der europäische Hegemonialkonflikt zwischen Frankreich und Spanien hat sich zugespitzt und ist mit dem Erbfolgekrieg um die Herzogtümer Mantua und Montferrat 1627 bis 1631 unmittelbar ans Wallis herangerückt. In einem Stellvertreterkrieg vor den Toren des Landes versammeln die beiden europäischen Konkurrenten des Dreissigjährigen Kriegs ihre Truppen hinter ihre jeweiligen regionalen Erbkandidaten. Mit wechselndem Erfolg versuchen sie das südliche Alpenvorland durch die Eroberung der für die Kontrolle der Handelswege wichtigen piemontesischen Schlüsselfestung Casale sowie der savoyischen Festungen Susa und Pinerolo militärisch zu sichern. Mehrfach verlangt Frankreich vom Wallis das Durchzugsrecht für grosse Truppenkontingente, was der Landrat jedoch verweigert. Frankreich besetzt im Verlauf des Krieges weite Teile Savoyens und setzt sich erstmals seit der langen spanischen-habsburgischen Vorherrschaft in Oberitalien fest. Im Wallis ist man alarmiert über diese Expansion der französischen Krone und registriert im Landtag 1630 erschrocken, dass »sich ihr Mayestätt des gantzen Herzogsthumbs Saphoy bemächtiget und biss an unser Porten und Gräntzen Nachpar geworden ist«.33
Angesichts der herangerückten französischen Dominanz und der Schwierigkeiten, die der Hegemonialkonflikt vor den Toren des Wallis für den Transitverkehr bringt, sieht sich Mageran, dessen Frankreichfreundlichkeit in den oberen Zenden beargwöhnt wird, zu einer Standortbestimmung genötigt. Im Dezemberlandrat 1632 in Sitten erfahren die Abgeordneten durch den »Grossmechtigen Schaubaren und wohlwysen Herr Michaelem Mageran«, dass er sich 1620 um das Transportmonopol beworben habe »auff Anhaltung ettlicher ansehnlicher französischen, tütschen und italienischen Kaufflüten, so willens waren mit ihren Kauffmanswahren durch diese liebe Landschafft wegen der Kurtze und mhere Sicherheit der Strassen zu passieren«.34 Das ist es, was die Achse durch das Wallis mitten in den europäischen Kriegswirren zu bieten hat: eine kurze Strecke durch ein politisch einigermassen stabiles Gebiet, das nicht wie das Veltlin und die Drei Bünde in den Konflikt hineingezogen wird. Um dies zu sichern, so rekapituliert Mageran, habe er in den vergangenen zwölf Jahren mit Erzherzog Albrecht und Erzherzogin Isabella Eugenia von den spanischen Niederlanden sowie später mit Genua, Mailand und der Stadt Bern »traktieren lassen«, dass sie die Warensendungen zur Beförderung des Handels durch ihre Städte und Länder nicht nur hindurchlassen, sondern auch von Abgaben befreien. Das Privileg, diese Condutta durchs Wallis zu führen, sei ihm durch den Landrat für fünfzehn Jahre erteilt worden. Er bedanke sich für die empfangenen Guttaten, sei aber nun zur Ansicht gelangt, dass das »liebe Vatterlandt« Einkünfte daraus haben solle.
In der selben Sitzung kurz vorher hat der Landrat auf Magerans Antrag hin beschlossen, eine Staatskasse zu gründen, um Kriegsmunition, Verpflegung und andere Notwendigkeiten für die Landmilizen zu finanzieren. Dies ist ein Schritt hin zu einer stärkeren »Centralisation« bei den Landesinstitutionen, die Mageran seit Längerem anstrebt und die bei den auf ihre Eigenständigkeit pochenden Zenden schwer durchzusetzen ist. Weil er nun mit Freuden erlebe, dass man die Einrichtung eines Landessäckels in Angriff nehme, »wolle er zu besseren Erauffernung [Äufnung] desselbigen, diese obgenambste Condutta […] wiederum zu Henden gestellt haben« – nämlich Einkünfte aus Durchfuhrzöllen im Umfang von jährlich hundert Silberkronen an die Staatskasse entrichten. Er selber beabsichtige, für seine »erlidtnen Kosten, Muhe und Arbeit« bloss einen kleinen Teil zu behalten, den der Landrat selber bestimmen möge, und verspreche »biss zu Aussgang der ihme fünffzehen verwilligeten Iharen über dise Condutta ein wachtbar Aug und die Direction zu haben«.35 Mageran liefert ab 1632 Transitabgaben an die Staatskasse und behält das Transitmonopol. Allerdings macht sich einer bereit, sich in dieses Geschäft zu drängen und den Leuker Handelsmagnaten zu beerben.
Der mittlerweile 24-jährige Kaspar Stockalper hat klar erkannt, dass dem Verkehrsweg durch das Wallis mit dem Simplonpass wegen der »Kurtze und mheren Sicherheit der Strassen« im kriegsverheerten Europa strategische Bedeutung zukommt und dass er in Brig an der Schlüsselstelle sitzt. Die westlichen Alpentransversalen in Tirol und den Drei Bünden sind zu dieser Zeit wegen der Kriegswirren als Handelsrouten praktisch ausgefallen, und auch am Sankt-Gotthard-Pass ist der Transit eingebrochen.36 Dadurch rückt das Wallis zwangsläufig verstärkt ins Kraftfeld von Frankreich und Spanien-Mailand. Diese geopolitisch und wirtschaftlich günstige Konstellation, die Stockalper in ihrer ganzen Tragweite erkennt, gilt es zu nutzen. Wenn es gelingt, die Simplon-Transversale in die Hand zu bekommen, den Handel zwischen Oberitalien und dem westlichen und nördlichen Europa auf diese kürzere und sicherere Route zu ziehen und das Handels- und Speditionsgeschäft zu kontrollieren, dann wären hohe Profite zu machen und grosser Einfluss zu gewinnen.
1633 sattelt Kaspar Stockalper erneut sein Pferd und macht sich auf eine ausgedehnte, mehrmonatige Geschäfts- und Studienreise, offensichtlich mit dem Plan und dem genauen Ziel, die Voraussetzungen für den Einstieg ins Transitgeschäft zu schaffen. Er reist ins spanische Burgund, durch Frankreich, Belgien, in die spanischen Niederlande nach Flandern und Brabant bis an die Kanalküste, macht sich in den Zentren des Tuch- und Fernhandels mit den Marktverhältnissen und Finanzpraktiken vertraut und knüpft Geschäftskontakte. So geht er eine Partnerschaft mit dem Handels- und Transportkonsortium Johann Claus, Franz Doncquart von Flandern und Balthasar Mys von Antwerpen sowie dem assoziierten Handelshaus der Gebrüder Grimm in Solothurn ein. Urs Grimm handelt mit Salz und Tuch, steht für Frankreich als Hauptmann im Solddienst, hat dadurch gute Beziehungen zum französischen Hof und Interesse am Warenverkehr durch das Wallis.
Die Firma Doncquart und Mys ihrerseits hatte sich mit tatkräftiger Unterstützung der Stadt Antwerpen um den Transit über den Sankt-Gotthard-Pass bemüht, war aber beim Schultheiss und dem Rat von Luzern aufgelaufen. Diese vergaben das Privileg für Warenlieferungen auf dem Gotthardweg zwischen den Niederlanden und Italien im Juni 1633 exklusiv an die Mailänder Spediteure Annoni, Volpi und Lorenzi. Da kommt Doncquart, Mys, Grimm und Konsorten dieser weltläufige und ehrgeizige angehende Kaufmann Kaspar Stockalper gerade recht. Er sitzt in Brig an der strategisch günstigen Stelle, bietet ihnen die ideale Ausweichroute zum Gotthardpass an und scheint auch über die nötigen Mittel und Möglichkeiten zur Sicherung der Simplonroute und zur Organisation der Warensendungen zu verfügen. Zusammen wollen sie nun den Warentransport auf der Achse Mailand – Simplon – Flandern abwickeln. Grimm führt die Transporte zwischen Lyon und Brig, Stockalper auf dem Teilstück Brig – Simplon – Domodossola und die Mys auf der Strecke Domodossola – Mailand.37 Diese Verbindungen sind eine zentrale Voraussetzung für den Start von Stockalpers Speditionsaktivitäten. Er integriert sich damit in ein Nachrichten- und Beziehungsnetz, das von Oberitalien bis an die Kanalküste reicht, wichtige Handelsplätze abdeckt und seinen Aktionsraum weit über den Simplon, Brig und das Wallis hinaus ausdehnt. Er ist entschlossen, seine Fähigkeiten rasch unter Beweis zu stellen und mit einem aufsehenerregenden Coup ins Transitgeschäft einzusteigen.