Читать книгу Reisen - Helon Habila - Страница 10
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Оглавление„Du musst mitkommen, Darling“, sagte Gina vor einem Jahr in unserer Wohnung in Arlington. „Ich kann das nicht ohne dich.“ Sie hatte das renommierte Berliner Zimmer-Kunststipendium erhalten. Ein Jahr Berlin. Vielleicht war das genau das Richtige, um aus unserem festgefahrenen Leben, unserem Alltag auszubrechen. Jedes Jahr wählte die Zimmer-Jury zehn Künstler aus aller Welt aus – Schriftsteller und Maler, Filmregisseure und Komponisten – und in diesem Jahr war Gina eine von zwei Stipendiatinnen aus den USA. Sie war Juniorprofessorin an der Universität von Arlington, ich brachte in einem Hinterzimmer der Stadtbibliothek koreanischen Einwanderern Englisch bei. Außerdem arbeitete ich an meiner Hochschule als wissenschaftlicher Assistent, damit waren die Studiengebühren abgedeckt. Beim Unterrichten ging ich äußerst besonnen vor; jedes Mal, wenn ich vor den erwartungsvollen jungen Gesichtern stand, fühlte ich mich wie ein Hochstapler. Würden sie alles, was ich ihnen erzählte, für bare Münze nehmen, und welches Recht hatte ich, welches Wissen, welche Erfahrung, um mich als Autorität zu gerieren? Ich war erst fünfunddreißig, vielleicht wenn ich fünfzig wäre, mehr gereist wäre, mehr erlebt hätte …
„Es ist nur ein Job, Darling“, sagte Gina, pragmatisch wie immer. „Du siehst das zu kritisch.“
Oder vielleicht liege es auch an meiner Angst, mich festzulegen, mutmaßte Gina und bezog sich nicht nur auf meine halbfertige Dissertation, sondern auch auf unser Vorhaben, nach unserer Promotion zu heiraten. Sie hatte ihre bereits. Drei Jahre lang hatten wir in ihrer winzigen Studentenbude mit Blick auf einen Parkplatz zusammengelebt. Aber nein, sagte ich, das liege nur an meinem migrantischen Charakter, der mich auf ein Zuhause, auf Beständigkeit in dieser neuen Welt hoffen, aber auch vor langfristigen Bindungen zurückscheuen und ständig Fluchtpläne schmieden lasse.
Wir heirateten dann doch noch und die Ehe war gut, stabil, wir hatten einen geregelten Tagesablauf wie die meisten Ehepaare. Wir wachten gemeinsam auf, gingen zur Arbeit, abends saßen wir auf unserem schmalen Balkon und blickten auf den Parkplatz, tranken eine Flasche Wein, manchmal gingen wir ins Kino oder essen und vielleicht zögerte ich aus diesem Grund, Berlin zuzusagen: Was, wenn wir hingingen und die Dinge zwischen uns anders wurden? Was, wenn uns Berlin mehr veränderte als angenommen? Mir war bewusst, dass Gina sich, abgesehen von seinem Prestige und der Wichtigkeit für ihre Karriere, auch deshalb für das Zimmer-Stipendium beworben hatte, weil ich über afrikanische Geschichte des 19. Jahrhunderts, mit Schwerpunkt Berliner Konferenz 1884, promovierte, und was würde mich mehr zur Recherche animieren als ein Jahr Berlin? Trotzdem zögerte ich, denn bekanntermaßen ist jede Abreise ein Tod, jede Rückkehr eine Wiedergeburt. Die meisten Veränderungen sind nicht geplant und hinterlassen unweigerlich eine Narbe.
Zwei Monate nach der Hochzeit wurde Gina schwanger. Das war so nicht geplant und ganz bestimmt hatten wir nicht einmal einen Gedanken daran verschwendet, dass die Schwangerschaft im siebten Monat enden könnte. Beide waren wir am Boden zerstört, aber Gina hatte sich verändert. Sie ging nicht mehr aus dem Haus, weinte den ganzen Tag, aß nicht mehr. Ich konnte nicht viel tun; ich saß neben ihr, hielt ihre Hand, erinnerte sie daran, dass wir jung waren und es noch oft probieren konnten. Ich las ihr Gedichte vor, was ich vor unserer Heirat häufig getan hatte. Ihr zweiter Name war Margaret und ich rezitierte Gerard Manley Hopkins’ Frühling und Herbst: Margaret, ist dein Herz so taub, / weil in Goldengrove nun gilbt das Laub? Normalerweise munterte sie das auf und sie lächelte dann kopfschüttelnd, diesmal jedoch nicht. Sie drehte das Gesicht zur Wand und rollte sich wie ein Fötus zusammen, machte sich winzig klein. Gina war immer stark gewesen, vielleicht stärker als ich, ganz sicher dynamischer als ich, und nun erlebte ich sie zum ersten Mal ganz hilflos. Wie plötzlich und unerwartet alles anders geworden war, gerade noch waren wir ein normales Ehepaar gewesen, jung, die Zukunft vor uns, im nächsten Moment vom Unglück gebeutelt, am Boden zerstört und hilflos.
Irgendwann fuhr sie zu ihren Eltern nach Takoma Park und kehrte nicht zurück; am nächsten Tag kam ihre Mutter, warf Ginas Sachen in eine Tasche und sagte, Gina müsse sich ausruhen, erholen, fügte sie hinzu. Ihr Verhalten deutete darauf hin, dass sie mir die Schuld am Zusammenbruch ihrer Tochter gab. Mit dem Vater kam ich besser aus, einem emeritierten Professor, der in den Achtzigern dank eines Fulbright-Stipendiums ein Jahr in Nigeria verbracht hatte und auf dieses Jahr voller Zuneigung zurückblickte. Ich hockte allein und einsam in unserer Zwei-Zimmer-Wohnung und rief Gina jeden Morgen an, wollte wissen, wie es ihr ging, und herausfinden, wann sie zurückkam. Und, da ich nichts anderes zu tun hatte, als vor dem Fernseher Däumchen zu drehen, fing ich an zu trinken. Zuerst trank ich nur abends, dann nachmittags, schließlich morgens. Ich konnte diese Abwärtsspirale aus eigener Kraft nicht stoppen.
Gina blieb sechs Monate bei ihren Eltern und in dieser Zeit bewarb sie sich für das Zimmer-Stipendium. Auf den Tag sechs Monate, nachdem sie gegangen war, betrat sie aufgeregt unsere winzige Wohnung, ihre Augen glänzten hoffnungsvoll, als sie mir die Antwort-E-Mail zeigte. An diesem Abend fuhr sie nicht zu ihren Eltern. Wir hielten uns die ganze Nacht umfangen. Berlin. Vielleicht war das die Lösung für uns. Ein Ausbruch aus unserem auseinanderbrechenden Leben.