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Von Marks Verhaftung erfuhr ich erst eine Woche später, als ich bei der Kirche vorbeischaute. Sie wirkte anders als sonst, die Tür war wieder eingehängt und der Garten sah aus, als wäre jemand mit dem Rechen darüber gegangen. Unter einem Baum war sorgfältig Müll zusammengetragen worden, der nur noch in Abfalltüten gestopft werden musste. Auf mein Klopfen öffnete niemand. Ich drückte die Tür auf. Die schäbigen Sofas und Lampen waren verschwunden. Das Lesepult war noch vorhanden und mir fiel ein, wie Mark dahintergestanden und aus der Bibel vorgelesen, sich über seinen Vater, den Pfarrer, lustig gemacht hatte. Ich war traurig und auch ein wenig verletzt – sie waren ausgezogen, ohne mich zu informieren. Sie hatten meine Handynummer, zumindest Mark, er hätte mich ruhig anrufen können. Aber ihr Leben war ein einziges Provisorium, wahrscheinlich waren sie von der Polizei verjagt worden und hatten mittlerweile ein anderes Gebäude besetzt; vielleicht meldeten sie sich in ein, zwei Wochen, wenn sie sich dort eingerichtet hatten. Zumindest Mark. Mir ging auf, dass sie mir fehlten; mir fehlte es, abends, wenn Gina arbeitete, in der Kirche vorbeizuschauen und ihren Gesprächen zu lauschen, die sich mit allen möglichen Themen beschäftigten, vom Klimawandel über abgefeimte Politiker bis hin zu Flüchtlingen, auch wenn ich die vier arroganterweise insgeheim naiv und hoffnungslos idealistisch fand. Jetzt musste ich mir eingestehen, dass sie sich zumindest über Andere Gedanken machten, nicht nur über sich selbst, willens waren, die Polizei mit Steinen zu bewerfen und für ihre Ideale sogar ins Gefängnis zu gehen – wie viele Leute waren dazu fähig? Ganz bestimmt nicht meine egoistischen, hyperehrgeizigen Kommilitonen von früher und definitiv nicht Ginas hypersensible, geradezu narzisstische Künstlerkollegen des Zimmer-Stipendienprogramms, die wir regelmäßig bei Abendessen, Vernissagen und Lesungen trafen. Die ganze Woche über wartete ich auf Marks Anruf. Hatte er überhaupt ein Handy? Ich konnte mich nicht daran erinnern. Schließlich rief mich Lorelle an. Am Tag nach der Demo war sie aus dem Polizeigewahrsam entlassen worden. „Wo sind denn alle abgeblieben?“, fragte ich. „Ich war bei der Kirche, aber da war keiner.“

Marks Grüppchen habe sich aufgelöst, erklärte sie. Stan sei zurück nach Mannheim, Eric nach Frankreich und Uta zu ihren Eltern. Das Gap-Year vom Leben, die Suche nach einer Alternative vorbei, dachte ich, die Revolution verloren. Enttäuschung durchfuhr mich.

„Und Mark?“, fragte ich. Mark sei verhaftet worden, deshalb rufe sie an. Ob wir uns treffen könnten? Lorelle wartete in einem Café gegenüber dem U-Bahnhof Neukölln auf mich. Sie bestellte einen Chai, ich einen Kaffee. Sie war anders, zurückhaltender, als hätte sie nicht geschlafen. Sogar das Mandala auf ihrer Wange wirkte weniger fluoreszierend, die Farben in ihrem Haar waren weniger festlich.

„Als ich dich letztes Mal gesehen habe“, übertönte ich mit lauter Stimme den Straßenlärm, „schlugst du gerade kreischend um dich, während du von der Polizei davongeschleift wurdest.“

„O Gott, an dem Tag war ich dermaßen high. Am nächsten Morgen haben sie mich freigelassen. Das ist Routine. Man könnte sagen, das macht den Kampf so spannend.“

„Was ist jetzt mit Mark?“

Ein junger Mann mit schulterlangem Haar und länglichem Trauerkloßgesicht kam an unseren Tisch, beugte sich zu Lorelle und flüsterte ihr schüchtern etwas ins Ohr. Er roch nach Kot, Urin und abgestandenem Schweiß. Seine dicken, ausgelatschten Stiefel standen vor Dreck. Sie schüttelte den Kopf. „Ich habe keins.“ Er wandte sich an mich. Ich sah weg und er schlurfte zum nächsten Tisch.

Offenbar war Mark an dem Tag, als ich ihn zur Kirche begleitete, nochmals losgezogen und hatte noch mehr getrunken, war dann zurück in die Kirche, wo er laut Musik laufen ließ, die eine Polizeistreife anlockte. Man fragte ihn, weshalb er sich dort aufhalte und wo sein Wohnsitz sei, und als er anfing, die Polizisten zu beschimpfen, nahmen sie ihn mit. Die Lage verschärfte sich, als sich herausstellte, dass sein Visum abgelaufen war. Jetzt war er ein Fall für die Einwanderungsbehörde.

„Und wo ist er jetzt?“

„Sitzt in Abschiebehaft. Ich habe ihn gestern besucht und er meinte, ich solle dich anrufen. Er hat sonst niemanden. Er braucht Hilfe. Die wollen ihn zurück nach Malawi schicken – was Schlimmeres kann ihm gar nicht passieren. Er kann nicht zurück.“

Wie entschieden sie klang: Er kann nicht nach Malawi zurück. Wie meinte sie das?

„Was … was kann ich denn tun?“, fragte ich.

„Er braucht einen Anwalt.“

„Was ist mit diesen Menschenrechts-NGOs – Amnesty International, können die ihm nicht helfen?“

„Mit denen habe ich schon gesprochen, aber das fällt nicht direkt in deren Gebiet. Immerhin haben sie mir die Adresse eines Anwalts gegeben. Der gehört einer anderen Organisation an, die haben sich auf solche Fälle spezialisiert und sie arbeiten unentgeltlich.“

„Hast du ihn schon angerufen?“

„Ja, und er hilft gern, aber er braucht Geld für Aktenzugang, Kopien und so weiter.“

„Wie viel?“

„Ungefähr zweihundert Euro. So viel habe ich leider nicht …“

„Klar, kein Problem.“ Ich war erleichtert, dass es nur zweihundert waren. Ich hätte Gina nur äußerst ungern um die Summe gebeten. Die Kanzlei des Anwalts lag in Mitte, zwanzig Minuten S-Bahn-Fahrt von dem Gebäude entfernt, in dem Mark inhaftiert war. Es war eine kleine Kanzlei mit zwei Schreibtischen, einer für den Anwalt, der andere für die Rechtsanwaltsgehilfin, eine steife, sauertöpfisch dreinschauende Frau. Ihr schwarzer Rock reichte bis zur Wadenmitte, ihre himmelblaue Bluse war bis oben zugeknöpft, die Spitzenrüschen um den Hals hielten ihren Kopf wie eine Klammer aufrecht; auf der Brust trug sie ein Namensschild: Frau Grosse. Es gab nur einen Besucherstuhl, daher blieb ich stehen. Der Anwalt hieß Julius Maier, „aber sagen Sie einfach Julius“, meinte er und erhob sich aus seinem Stuhl, um mir die Hand zu geben. Er war zartgliedrig, geradezu durchsichtig neben der gestreng-gewichtigen und überaus präsenten Frau Grosse. Sein Vater sei aus Burkina Faso, fügte er hinzu, wie um seine Glaubwürdigkeit zu untermauern, seine Mutter Deutsche. Lorelle gab ihm den Umschlag mit den zweihundert Euro. Er zählte das Geld und reichte es an Frau Grosse weiter, die ebenfalls nachzählte, das Geld in den Umschlag und diesen in eine Schublade steckte. Ich wartete geradezu darauf, dass sich um ihre Taille eine Kette mit dazugehörigem Schlüssel materialisierte, mit dem sie die Schublade zusperren würde. Sie bemerkte meinen Blick und quittierte ihn mit einem Stirnrunzeln; ich wandte mich ab.

„Zuallererst muss Ihr Freund beweisen, dass er nicht illegal hier ist, und dafür muss er den Nachweis erbringen, dass er immer noch Student ist.“

„Er kam als Student her, das ist aktenkundig. Warum glauben die ihm das nicht?“, fragte ich.

„Das ist aktenkundig, stimmt. Aber die Lage ist nicht ganz so einfach. Mittlerweile ist er nicht mehr immatrikuliert und hat daher gegen die Visumsbedingungen verstoßen.“

„Ist das was Ernstes?“

„Sehr. Ihm droht Abschiebung oder Haft.“ Der Anwalt wartete auf einen Kommentar meinerseits, redete dann weiter. „Am hilfreichsten wäre es, wenn er beweisen kann, dass er eine Visumsverlängerung beantragt hat. Ich habe mit ihm gesprochen und er sagte, das habe er versäumt.“

„Kann er das denn nicht nachträglich tun?“

„Dazu benötigt er ein Schreiben der Hochschule, das bestätigt, dass er immer noch immatrikuliert ist – aber das ist nicht so einfach. Er meinte, er sei im letzten Jahr nicht zur Uni gegangen. Bevor er hierhergekommen ist, hat er eine andere Hochschule in Potsdam besucht. Sein Stipendium läuft aus. Offenbar ist er demnächst mit dem Studium fertig, ihm fehlt nur noch die Abschlussarbeit.“

Eine geradezu kafkaeske Situation – für einen Gerichtsprozess musste er beweisen, dass er eine Visumsverlängerung beantragt hatte (was nicht der Fall war), doch um eine Visumsverlängerung zu beantragen, musste er beweisen, dass er immer noch Student war (was rein theoretisch der Fall war, auch wenn er keine Förderung mehr erhielt und seit einem Jahr das Unigelände nicht betreten hatte und weil er mehrmals die Hochschule gewechselt hatte, waren seine Unterlagen durcheinander, verheddert wie das Haar eines Rastafaris). Trotzdem sah der Anwalt optimistisch aus, Lorelle hingegen skeptisch und ich wahrscheinlich verwirrt.

„Es wäre tatsächlich einfacher, wenn er einen Asylantrag stellt“, erklärte er.

„Wie ein Flüchtling?“

„Genau.“

„Das macht er nie im Leben“, sagte Lorelle.

„Warum nicht, das vereinfacht die Sache …“

„Weil er kein Flüchtling ist, sondern Student.“

Wir fuhren mit der S-Bahn zur Justizvollzugsanstalt, ein Gebäude im Brutalismusstil, geradezu dem nationalsozialistischen Architekturkatalog entsprungen, wo wir etliche Formulare ausfüllen mussten. Julius erledigte das und händigte die Unterlagen einer Beamtin aus, die Frau Grosses Zwillingsschwester hätte sein können. Zeile für Zeile ging sie jedes Blatt durch, fuhr dabei mit ihrem dicken Zeigefinger die Zeilen nach, ehe sie einen Stempel herausholte und ihn unten auf jede Seite donnerte, wobei jedes Mal der Tisch bebte. Dann sah sie uns an und zeigte in Zeitlupe auf eine Stuhlreihe an der Wand. Wir setzten uns. Ich war bereits jetzt schon erschöpft und kam mir vor, als stünde ich vor Gericht, würde gleich in letzter Instanz verurteilt und gehängt. Ich vermied den giftigen Blick der Vorzimmerdame und betrachtete den langen, rechteckigen Raum. Auf einer Seite befand sich hoch oben eine Reihe quadratischer Fenster, an den Eisenstangen davor scheiterte jegliche Hoffnung auf Flucht. An einer der Türen zu unserer Rechten hing ein „Zutritt verboten“-Schild. Ein Mann kam herein und unterhielt sich mit Julius; als er sich an uns wandte, wechselte er ins Englische und forderte uns auf, ihm zu folgen. Wir gingen durch viele Türen, jede von ihnen wurde mit einem anderen der vielen Schlüssel aus dem Bund geöffnet, den er in der Hand hielt, bis wir schließlich in einer Art Vorzimmer gegenüber einer weiteren Tür Platz nehmen sollten. Nach einer Weile ging die Tür auf und Mark kam in Begleitung eines Wachmanns heraus, der sich diskret, aber gut sichtbar an der Tür positionierte. Nach dem festungsähnlichen Eingang, den vielen Türen und der Bürokratie hatte ich erwartet, dass Mark in Ketten hereingeschlurft käme. Er trug wie immer seine rote Jacke, darunter ein T-Shirt. Ohne seine Kopfbedeckung sah er niedergeschlagen, verletzlich und ein wenig verloren aus.

Mark bedankte sich bei mir. „Alles wird gut“, sagte ich.

Lorelle saß angespannt und aufrecht auf ihrem Stuhl, den Blick unverwandt auf Mark gerichtet, als wäre sie am liebsten zu ihm hingerannt und hätte ihn umarmt, aber sie blieb sitzen, lächelte jedes Mal, wenn sich ihre Blicke trafen. Wie sich herausstellte, gab es Grund für Julius’ Optimismus: Zwei Tage später wurde Mark entlassen. Der Anwalt rief mich an und wir trafen uns in seiner Kanzlei. Mark war ebenfalls anwesend, die Baseballkappe wie üblich tief in die Stirn gezogen, er trug wie immer seine rote Jacke über Hemd und T-Shirt, Converse und Hochwasserjeans. Er war vorläufig frei. Die Hochschule hatte bestätigt, dass er weiterhin immatrikuliert war und die Visumsverlängerung war beantragt. Mark hatte man in die Obhut des Anwalts entlassen. Beeindruckt schüttelte ich Julius’ Hand.

„Er muss jederzeit zur Verfügung stehen, wenn ihn eine Behörde kontaktiert. Er darf Berlin nicht verlassen. Die wollten eine Adresse, reine Formalität. Wir haben Ihre angegeben, ist das okay?“

„Natürlich“, versicherte ich, verkniff mir die Frage, wie er an meine Adresse gekommen war. „Aber wo soll er unterkommen?“

„Im Heim“, sagte Julius und ergänzte auf meinen ratlosen Blick hin, „im Flüchtlingsheim.“

Dort wo die Asylsuchenden auf das Ergebnis ihres Antrags warteten. Ich sah Mark an – was dachte er darüber? Er betrachtete einen Ast draußen vorm Fenster.

„Aber er ist doch kein Asylant“, sagte ich.

Julius zuckte die Achseln. „Das ist lediglich eine Übergangslösung.“

„Weißt du was“, meinte ich zu Mark, „komm mit zu mir, da kannst du ein, zwei Tage bleiben, ehe du woanders unterkommst.“

Mark zuckte schweigend mit den Schultern. Ein Dankeschön wäre nett gewesen, andererseits hatte er einiges durchgemacht. Bevor wir gingen, nahm Julius mich beiseite. „Wie gut kennen Sie ihn?“

„Wir kennen uns ungefähr seit zwei Monaten. Warum?“

Er zuckte wieder mit den Achseln. „Sie sollten mit ihm reden.“ Er wirkte, als läge ihm noch etwas auf der Zunge, aber offenbar fand er schweigen ratsamer. Er sah Mark, dann mich an. „Reden Sie einfach mit ihm. Um … um mehr über ihn zu erfahren, Sie verstehen?“

„Okay.“ Ich war verwirrt. Verheimlichte Mark mir etwas? Er würde mir doch bestimmt sagen, wenn es gefährlich wäre, ihn aufzunehmen? Wir gingen erst mal in eine Kneipe und ich gab ein Bier aus, um Marks Freiheit zu feiern. „Mein erstes Bier seit Tagen“, sagte er und schwieg dann die meiste Zeit. Gern hätte ich Julius’ Bemerkung erwähnt, aber wie brachte man so etwas zur Sprache? Ich beschloss, das Thema zum geeigneten Zeitpunkt möglichst taktvoll aufs Tapet zu bringen. Als wir ausgetrunken hatten, sah er auf. „Hoffentlich ist deine Frau nicht sauer, wenn du ein Findelkind anschleppst.“

„Sie wird’s verkraften“, sagte ich, obwohl mir klar war, dass ich mit dieser Aktion zu weit ging, einen nur schwer rückgängig zu machenden Schritt tat. Von nun an war ich für Mark verantwortlich. Was immer er tat, was immer mit ihm geschah, würde direkte Auswirkungen auf Gina und mich haben.

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