Читать книгу Reisen - Helon Habila - Страница 11
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Оглавление„Sogar in Berlin sehne ich mich nach Berlin“, sagte Mark gern. Er lebte mit seinen drei Freunden Stan, Eric und Uta in Kreuzberg in einer leerstehenden Kirche an der Spree. Sie war schief, wirkte, als könnte man sie mit der Fingerspitze umstupsen. Eines dieser verfallenen Bauwerke, die man in Berlin gelegentlich sieht, vom Krieg verschont, von der Abrissbirne übersehen und die sich neben neueren Gebäuden seltsam ausnehmen. Die Barockfassade samt ihrem Kirchturm mit gedrehter Spitze lag hinter einem engmaschigen Drahtzaun, der das Gemäuer von den Nachbarhäusern und vorüberfahrenden Autos abschirmte. Die meisten Türen und Fenster fehlten. Im Innenhof trieb der Wind wie ein ruheloser Geist Papierfetzen und Bierdosen über den wild wuchernden Rasen auf den Gehweg. Mark und seine Freunde hatten das Gebäude von einer anderen Gruppe „Alternativer“ übernommen, die auf der Suche nach größeren Herausforderungen im Kampf gegen das Establishment nach Stockholm weitergezogen war, nachdem ihnen Berlin zu zahm geworden war.
„Ich musste die Kirche bei unserem Einzug erst einmal entwidmen“, sagte er. „Es spukte nämlich. So etwas spüre ich.“ Es war einer dieser haarsträubenden, nebenbei geäußerten Kommentare, die sich bei jedem anderen verrückt angehört hätten, aus Marks Mund jedoch normal, geradezu vernünftig klangen. Wir waren uns, der Frühling war schon fast vorbei, in einer Galerie wiederbegegnet. Wenn sie nachts durchgearbeitet hatte, schlief Gina tagsüber und stand erst spätnachmittags auf, sah trotzdem erschöpft, fast durchsichtig aus, schnappte sich aus dem Kühlschrank ein Sandwich und machte sich sofort wieder an die Arbeit. Auf mich allein gestellt, ließ ich mich von einem Ort zum andern treiben, hauptsächlich Galerien und Bibliotheken. Von der fraglichen Ausstellung hatte ich durch eine Mail erfahren, die Gina von den Zimmer-Leuten bekommen hatte. Die Galerie stellte Porträts aus, die südafrikanische Fotografen während der Apartheid gemacht hatten. Am Eingang drückte mir eine junge Frau ein Heftchen in die Hand, auf dem in fetter Helvetica der vollmundige Titel der Ausstellung stand: Apartheid, Exil und proletarische Internationale. Auch Fotografien und Videoinstallationen hiesiger schwarzer Künstler waren zu sehen. Ich ließ mich von Raum zu Raum treiben, las die Texte unter den Porträts – die meisten Fotografien waren aus den Siebziger und Achtziger Jahren und stammten von Südafrikanern, die in Ost- und Westberlin Exil gefunden hatten. Ich betrachtete die ernsten Gesichter. Was für eine Ironie der Geschichte, dass sie ausgerechnet hier vor Verfolgung und Apartheid Beistand gesucht hatten, in einer Stadt, in der nur ein paar Jahrzehnte zuvor die Nazis eine ganz besondere Hetzjagd veranstaltet hatten. Wie kamen sie mit dem Essen zurecht, der neuen Sprache, dass sie so sichtbar anders waren, mit dem klirrend kalten Winter des Exils? Die meisten von ihnen waren nach Südafrika zurückgekehrt, diejenigen, welche die Bitterkeit des Exils überlebt hatten, waren dort nun die neuen Führer, in die Positionen der weißen Unterdrücker gerückt, die ihrerseits vom düsteren Kapitel der Geschichte ins Exil verbannt worden waren.
Bald reichte mir der Anblick der einander ähnelnden grauen, freudlosen Gesichter und ich ging ins Untergeschoss zu den Videoinstallationen. Offenbar hatte ich den Raum ganz für mich, es fühlte sich etwas gespenstisch an, mitten im Raum zu stehen, umgeben von mehreren flimmernden Monitoren, auf denen Leute tonlos ihre Münder öffneten und schlossen. Ich nahm Platz in einer der Kabinen und setzte einen Kopfhörer auf. Plötzlich bekamen die stummen Gesichter Stimmen. Sie sprachen deutsch. Es riss mich beinahe hoch, als eine Hand meine berührte. Ich drehte mich um. Aus dem dunklen Raum schälte sich neben mir eine Gestalt heraus, deren rote Jacke im Dämmerlicht mit dem roten Sofa verschmolzen war, auf dem wir saßen, daher hatte ich den Mann übersehen. Er hielt mir die Hand hin. Sie war schlank und weich und kurz glaubte ich, er wäre eine Frau. Er bemerkte, wie ich stutzte, und lächelte. Er war es wohl gewohnt, für etwas gehalten zu werden, was er nicht war. Seine Hand noch in meiner sagte er: „Ich bin Mark.“
Es war der von Gina abgewiesene Porträtkandidat. Er erkannte mich ungefähr gleichzeitig. Das Schweigen hing eine Weile zwischen uns, dann deutete ich auf die drei Bildschirme. „Was soll das darstellen?“
Die Monitore bildeten ein Triptychon: links von uns war eine Frau zu sehen, rechts ein Mann und in der Mitte lief ein alter Film. Die beiden Gesichter links und rechts unterhielten sich offenbar über den Film, der lief. Alles auf Deutsch. „Bei dem Film handelt es sich um Whity von Rainer Werner Fassbinder. Und die beiden unterhalten sich darüber, wie darin die Rassenfrage behandelt wird.“ Fassbinder kannte ich, aber Whity hatte ich noch nicht gesehen.
„Die Frau da“, sagte Mark und zeigte auf die Frau mit dem Lockenkopf, „hat die Installation gemacht. Sie ist halb Nigerianerin.“ Mark war, wie sich später herausstellte, Filmstudent oder es zumindest einmal gewesen – bei Mark war nichts eindeutig. Wir saßen eine Weile in der dunklen Kabine und starrten auf den Film, dessen bedeutungslose deutsche Wörter aus dem Kopfhörer in meine Ohren drangen. Mark setzte seinen Kopfhörer ab und bot an, den Inhalt des Films zusammenzufassen; es war beeindruckend, mit welcher Intensität er das tat. Anschließend bedankte ich mich und fragte, ob ich ihn an der Bar auf ein Bier einladen könne. Mark legte den Kopfhörer weg und setzte seine Baseballkappe auf. Die Bar befand sich ebenfalls im Untergeschoss, gleich neben dem Ausstellungsraum, und war bis auf ein Paar, das auf einem Sofa in der Ecke saß, leer. Wir bestellten Bier.
„Woher kommst du?“, wollte er wissen.
„Ursprünglich aus Nigeria.“
„Kommt deine Frau auch aus Nigeria?“
„Nein, aus den USA.“
Er war Malawier, lebte aber seit mehr als fünf Jahren in Deutschland.
„Na dann, prost.“ Ich hob mein Glas.
„Auf Afrika“, sagte er.
„Auf Afrika.“
Ich versuchte, sein Alter zu schätzen. Irgendwas zwischen fünfundzwanzig und dreißig. Die Baseballkappe bedeckte den oberen Teil seines Gesichts und da er kleiner war als ich, musste ich mich dauernd hinabbeugen, um ihm in die Augen zu sehen. Er war meist im Aufbruch begriffen, von Stockholm nach Stuttgart nach Potsdam gezogen und nun in Berlin gelandet. Berlin gefalle ihm am besten.
„Sogar in Berlin sehne ich mich nach Berlin“, erklärte er mir an diesem Tag. Er war nur noch theoretisch Student, nicht mehr immatrikuliert, was mit den Studiengebühren zu tun und Auswirkungen auf seinen Aufenthaltsstatus hatte oder demnächst haben würde, weshalb er mit einigen Freunden die alte Kirche in Kreuzberg besetzt hatte. Für ein Taschengeld jobbte er gelegentlich für crew.com, einer Organisation für arbeitslose Schauspieler und Filmtechniker. Aber sein letzter Einsatz dort war schon länger her. Das alles erzählte er mir nicht damals in der Bar der Galerie, sondern später, auf mehrere Treffen verteilt. Er sah recht heruntergekommen aus, fast verwildert, seine schwarzen Converse waren dreckig und verschlissen, aber die von ihm ausgehende Lässigkeit zog mich an.
Als ich nach meinem zweiten, seinem dritten Bier meinte, ich müsse jetzt los, schlug er vor: „Komm, ich stell dich meinen Freunden vor, wir wohnen gleich um die Ecke.“
Ich folgte ihm hinaus in die Nacht. Mark schritt selbstbewusst voraus, einmal schlängelte er sich zwischen den Autos auf die andere Straßenseite durch, hob dabei matadorgleich die Hand, um einen Wagen zum Stehen zu bringen, der ihn fast umgefahren hätte. Unberührt vom lauten Fluchen der angetrunkenen Fahrer blieb er auf dem gegenüberliegenden Gehweg stehen und winkte mich ungeduldig herüber. Ich wartete, bis die Ampel auf Grün schaltete, und war nicht sicher, ob ich seine halsbrecherische Selbstsicherheit beeindruckend oder erschreckend finden sollte.
„Das ist ja eine Kirche“, entfuhr es mir halb fragend, halb konstatierend, als er das Törchen öffnete und mich hereinwinkte.
„Ja, hier leben wir momentan. Vorübergehend.“
Alle drei Mitbewohner waren anwesend. Eric, Stan und Uta. Ich nickte ihnen zu und setzte mich neben Mark. Auf Marks Bemerkung, ich sei ebenfalls Afrikaner, erzählte mir Uta sofort, ihre Mutter stamme aus Kamerun, ihr Vater sei Deutscher. Sie lag auf dem Sofa, die Beine in Stans Schoß, Stan neben ihr saß halb, lag halb und seine langen Dreadlocks fielen über seine Schultern und die Sofalehne. Wir befanden uns im sogenannten Wohnzimmer, das im Keller lag und wo früher die Sonntagsschule abgehalten worden war. An einer Wand hing eine Tafel, davor stand ein hölzernes Lesepult. Auf einem zerkratzten Kieferntisch, in dessen Maserung sich Schmutz abgelagert hatte, standen Bierflaschen. Mark machte mir eine auf. Eric hielt in der einen Hand einen Joint, mit der anderen surfte er mit einem Laptop im Internet.
„Was machst du so?“, fragte Uta in ihrem stockenden Englisch.
„Daheim in den USA unterrichte ich. Hier auch.“ Einmal die Woche gab ich den Zimmer-Fellows, die kein Englisch sprachen, Englischunterricht. Uta studierte an der Freien Universität und schrieb gerade an einem Roman.
„Einem Roman?“
„Der Roman ist tot“, verkündete Mark. „Das Kino ist die Gegenwart und die Zukunft.“
„Ist das dein Ernst?“
„Ein Film ist wie ein Roman, bloß ohne die langweiligen Stellen.“
Ich zog am Joint, der irgendwie in meine Hand gewandert war. Mir wurde schwindlig.
Das Gespräch mäanderte dahin, versiegte in nachdenklichem, nie bedrückendem Schweigen, ehe es wieder aufgenommen wurde und in eine völlig andere Richtung floss. Eric erzählte von der letzten Demonstration, an der sie teilgenommen hatten. Sie waren in Davos und bei verschiedenen G20-Treffen überall auf der Welt gewesen.
„Gegen was demonstriert ihr?“, wollte ich wissen.
Überrascht starrten sie mich an.
„Mann, gegen alles natürlich“, sagte Stan.
„Gegen alles?“
„Wir sind der Meinung, dass es eine Alternative zu der Art und Weise geben sollte, wie die Welt momentan regiert wird“, sagte Eric.
„Eine Minorität, die über die Majorität des Geldes verfügt“, ergänzte Uta.
„In Asien müssen Millionen unter menschenverachtenden Bedingungen schuften. In vielen Ländern Afrikas herrscht Krieg“, sagte Stan.
„Im 21. Jahrhundert sollte kein Kind mehr verhungern oder durch Krankheit sterben müssen“, sagte Uta.
Ich nickte. Ich hatte schon andere junge Leute wie sie in Berlin getroffen, bei Lesungen, in der S-Bahn, Männer und Frauen in ausgefransten Pullovern und abgerissenen Jeans, die meistens in einer Kommune in leerstehenden Gebäuden wohnten, eine alternative Lebensweise vertraten, sich oft nicht einig waren, wie nun diese Alternative genau aussehen sollte, eben eine Alternative zum Istzustand, sonst wäre die Sache ja sinnlos. Ich trank und rauchte, hörte zu. Auf einmal stellte sich Mark hinter den Altar und las eine Bibelstelle vor. Sein Vater war Pfarrer und er machte sich über dessen Predigtstil lustig. Mit erhobenen Händen stand er da, verdrehte die Augen und donnerte: „Der Sommer ist dahin, die Ernte ist vergangen, und uns ist keine Hilfe gekommen …“
Die anderen klatschten. Ich war mir nicht sicher, ob in Marks Stimme Selbstironie mitschwang, oder ob sich in seinem Gesicht nicht sogar echter Schmerz abzeichnete, als er sich zum Applaus verbeugte, bevor er sich wieder hinsetzte. Sie erzählten, wie er, als er vor einem Monat hier eingezogen sei, die Kirche entwidmet habe. „Ein Ort, der heimgesucht war. Ich konnte die Geister überall spüren“, erklärte er.
„Wie entwidmet man eine Kirche?“, wollte ich wissen.
„Mit Alkohol. Man gießt Alkohol in die Ecken und liest bestimmte Stellen, von deren Wirkung nur Eingeweihte wissen, laut aus der Bibel vor.“
Selbst in meinem angesäuselten und angekifften Zustand spürte ich, wie vergänglich diese Phase war. Wie lange noch, bis sie die Welt so sahen, wie sie wirklich war: niederträchtig, grausam, gleichgültig und nicht zu verändern? Wie lange würde es dauern, bis sie aus ihrem bröckelnden Elfenbeinturm auszogen und sich der restlichen Menschheit anschlossen, die, wie Flaubert sagt, in einem Meer von Scheiße schwimmt, das erbarmungslos an die Mauern jedes jemals erbauten Elfenbeinturms schlägt. Eines Tages würden sie sich rasieren und Banker werden oder zum mittleren Management gehören, BMW und Mercedes fahren; sie würden eine Familie gründen und sich mit leeren Machtsymbolen umgeben, genau jenen Dingen, die sie jetzt verhöhnten. Aber jetzt, jetzt in diesem Moment waren sie frei und rein wie der Morgentau auf einem Blütenblatt und ich fühlte den Drang, mich vorzubeugen und den Duft dieser Blume einzuatmen.
Deshalb ging ich immer wieder nach Kreuzberg zu dieser heruntergekommenen Kirche mit der verdrehten Spitze. Ich ging sogar auch dann noch hin, als ich herausfand, dass ihre Bewohner überhaupt nicht zum geknechteten Proletariat gehörten, mit dem sie sich so sehr identifizierten: Utas Eltern waren Ärzte aus dem ehemaligen Ost-Berlin, Stan bastelte an der Humboldt-Uni an seiner Dissertation, er war im Senegal aufgewachsen, wo sein Vater für einen internationalen Lebensmittelkonzern arbeitete, seine Mutter war Malerin. Auch waren sie nicht so jung wie sie wirkten. Keiner von ihnen war unter dreißig, Mark war mit genau dreißig der Jüngste, Uta einunddreißig, auch wenn sie wie zwanzig aussah, Stan zweiunddreißig, Eric fünfunddreißig und verheiratet, lebte allerdings getrennt von seiner Frau, die mit der gemeinsamen Tochter in Mannheim wohnte.