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ОглавлениеAm Tag nach unserem Treffen im Kino brachen die Flüchtlingsunruhen aus, wie es die Zeitungen später nannten. Die Heimbewohner wachten auf und fanden das Gebäude von Polizisten umstellt, die Streifen- und Mannschaftswagen versperrten sämtliche Straßenzugänge. Neben den Mannschaftswagen standen von der Bezirksverwaltung gestellte Doppeldeckerbusse. Einer der Polizisten forderte die Bewohner über ein Megafon auf, ihre Sachen zusammenzupacken und das Gebäude zu räumen – sie hätten sechs Stunden Zeit. Offenbar hatten sich Anwohner bei der Bezirksverwaltung beschwert, sie fühlten sich bedroht, ihre Töchter und Söhne seien nicht mehr sicher auf den Straßen, wo Flüchtlinge Drogen verkauften und sich besoffen prügelten; die Fremden hätten die gesamte Straße in eine Müllhalde verwandelt, überall liege Abfall. Sechs Stunden für die Räumung. Die Busse sollten die Bewohner in ein anderes, außerhalb der Stadt gelegenes Flüchtlingsheim bringen, in der Zwischenzeit durfte niemand das Gebäude betreten oder verlassen. Um die Räumung zu beschleunigen, wurden Wasser und Strom abgedreht. Doch bald hatten Aktivisten in der Innenstadt von der Blockade gehört und versammelten sich auf der Straße, bildeten eine Menschenkette um den Block, solidarisierten sich in Sprechchören mit den Bewohnern und riefen, die Polizei solle abhauen.
„Mark hatte mir eine SMS geschrieben. Als ich ankam, war die Stimmung aufgeheizt. Die Polizei hatte bereits Tränengas gegen die Aktivisten eingesetzt und sie aufgefordert, sich fern zu halten. Sie ließen uns nicht durch die Absperrung“, berichtete Lorelle.
„Wohin hat man sie denn gebracht?“
„Nirgendwohin. Das ist ein beliebter Trick von ihnen. Sie stopfen die Migranten in Busse, mit dem Versprechen, sie anderswo unterzubringen, und setzen sie dann außerhalb der Stadt mitten im Nirgendwo ab.“ Sie nippte an ihrem Tee, als wollte sie den bitteren Geschmack hinunterspülen. „Wie kann man hilflosen Menschen nur so was Grausames antun? Weißt du, was auf den Bussen steht?“
„Was?“
„Fahren macht Spaß. Drumrum Bilder von glücklichen Familien Hand in Hand – Kinder und Eltern und obendrein ein Hund. Der reinste Hohn.“
„Was ist mit Mark passiert?“, fragte ich.
„Ich habe ihn pausenlos angerufen, aber er ist nie rangegangen, daher hoffte ich, dass es ihm irgendwie gelungen ist, sich rauszumogeln.“ Lachend schüttelte sie den Kopf. „Reines Wunschdenken. Mark würde so was nie machen. Er liebt solche Auseinandersetzungen mit der Obrigkeit. ‚Das ist unser historischer Moment‘, sagte er in solchen Situationen immer, ‚das ist unser Sharpeville, unser Agincourt.‘ Er war da drinnen, hatte sich mit den anderen verbarrikadiert. Sie haben die Türen von innen zugesperrt, mit Metallbetten und Tischen verrammelt, damit die Polizei sie nicht aufbrechen kann. Wir konnten sie an den Türen und Fenstern sehen, wie sie ihre T-Shirts schwenkten und sich an den Händen hielten. Die Polizei meinte, sie warten so lange, bis die da drin aufgeben. Es hat drei Tage gedauert.“
„Aber davon kam gar nichts in den Nachrichten …“
„Die bringen nur das in die Nachrichten, was sie bringen wollen“, sagte sie mit ausdrucksloser Stimme. „Ich war dort. Geh ins Internet, sieh dich auf alternativen Nachrichtenportalen um, da findest du alles. Am dritten Tag, als die Polizei von der Pattsituation die Nase voll hatte und drohte, sie mit Gewalt rauszuholen, übergossen die Flüchtlinge ihre Matratzen, ihr Bettzeug und die Fußböden mit Benzin und verkündeten, sie würden sich samt dem Gebäude anzuzünden. Manche gingen aufs Dach hoch und drohten, sie würden runterspringen. Mark war mit auf dem Dach. Ich erkannte seine Jacke.“
„Was ist dann passiert?“
„Ich erkannte seine rote Jacke. Ich sah ihn vom Dach fallen. Runter auf den Asphaltboden.“
„Er ist … gesprungen?“, fragte ich und wartete auf eine Wendung in der Geschichte, aber es gab keine.
„Im Scheinwerferlicht des Streifenwagens sah ich seine Leiche. Dann brachten sie ihn weg.“
Ich schwieg, starrte Lorelle nur an. Wir saßen vor einem Café, in dem wir oft mit Mark, Uta, Stan und Eric gewesen waren. Gegenüber befand sich die Kirche, wirkte verlassener denn je. Mark war tot.
„Sie sagen, er sei gesprungen.“
„Und?“
„Das hätte er nie getan. Dazu lebte er viel zu gern. Andere sagen, er sei gestoßen worden und ich glaube ihnen.“ Sie senkte den Kopf, ihr Gesicht war schmerzverzerrt.
„Gestoßen? Warum?“
„Weil er anders war und sie das selbst in diesem Moment der Verzweiflung nicht vergessen konnten. Was spielt das jetzt überhaupt noch für eine Rolle? Er ist tot.“
Mary Chinomba. Eine Pfarrerstochter, die sich so gern als Mann verkleidete, so gern Männerrollen spielte, die kein Interesse an den netten Jungs hatte, die ihre Eltern ihr präsentierten. Die von zu Hause wegrannte und bei ihrem Onkel wohnte, dem Einzigen, der wusste, was oder wer Mary war, und dafür Verständnis hatte. Das Stipendium in Deutschland war für alle Beteiligten die optimale Lösung gewesen, geradezu ein Geschenk Gottes.
„Du hast mir mal erzählt, dass Mark nicht nach Malawi zurückkonnte. Was hast du damit gemeint?“, fragte ich.
„Nachdem sie ungefähr ein Jahr lang in Deutschland gelebt hatte, schrieb Mary ihrem Onkel einen Brief, tat so, als käme er von einem Freund. Darin stand, dass Mary bei einem Unfall ums Leben gekommen und eingeäschert worden sei, weil sich keine Angehörigen gefunden hätten. Sie unterschrieb mit ‚Mark‘. An diesem Tag starb Mary.“
„Glaubte der Onkel ihm … ihr?“, fragte ich.
„Der Brief war eigentlich gar nicht für den Onkel, sondern für den Vater bestimmt. Sie fand, so wäre es für alle Beteiligten das Beste. Mark brach sein Studium in Hamburg ab und wurde zum Nomaden. Er wollte nicht, dass man ihn durch Zufall fand. Wenn ich ihn fragte, ob er eines Tages in die alte Heimat zurückkehre, antwortete er immer mit ‚vielleicht‘.“
Wir saßen da und betrachteten unser kaltgewordenes Essen. Keiner von uns hatte den Wunsch aufzustehen und sich zu verabschieden.
„Erzähl mir, wie du sie kennengelernt hast“, bat ich.
„Ihn“, sagte sie.
„Ihn. Wie hast du ihn kennengelernt?“
Lorelle heiratete mit zweiundzwanzig, gegen den Willen ihrer Eltern. Die Eltern waren in die USA zurückversetzt worden und wollten, dass sie mitkam, aber Lorelle weigerte sich. Nach einigen Jahren wurde ihr Mann, ein DJ, den sie auf einer Party in einem ehemaligen Bunker kennengelernt hatte, gewalttätig. „Er schlug mich. Ich versuchte ein paar Mal, ihn zu verlassen, aber er drohte, er werde mir was antun, wenn ich das durchzöge. Schließlich flüchtete ich nach Berlin, schrieb mich dort an der Uni ein. Gleich am ersten Tag traf ich Mark. Wir wurden Freunde, erst viel später ein Liebespaar. Wir waren das Freakgespann der Uni, die Transvestitin aus Afrika und die Durchgeknallte aus den USA. Mark gab mir den Mut, von Thomas die Scheidung zu fordern. Ich wurde erwachsen. Dank Mark.“
Ich nahm ihre Hand. „Es tut mir so leid.“
Sie nickte.
„Gehst du jetzt zurück nach Amerika?“
„Darüber denke ich schon seit einiger Zeit nach und jetzt das … es kommt mir vor, als hätten die Dinge hier ihren Sinn für mich verloren. Ich möchte meine Eltern wiedersehen, mich ihnen wieder annähern. Wie sieht es bei dir aus?“
„Ich weiß noch nicht recht.“
„Viel Glück jedenfalls. Und wenn du wieder in den USA bist, ruf mich an.“
Ich stieg an der Bushaltestelle bei der Apotheke aus. Gedankenverloren, mit gesenktem Kopf ging ich am Altersheim vorbei, und als ich am Waisenheim vorbeikam, sah ich ihn winkend zur Mauer rennen, sein Gesicht leuchtete vor Begierde wie auf Ginas Gemälde. „Schokolade!“ Ich wandte das Gesicht ab und beschleunigte meinen Schritt, blieb dann aber stehen und drehte mich zu ihm um. Seine Hartnäckigkeit war bewundernswert. Ich hob die Hand und winkte zurück. Er stand da, beide Hände auf die Mauer gestützt, genau wie auf dem Gemälde, und sein Schreck verwandelte sich in Entzücken, als ich „Hallo“ zurückrief.
Langsam nahm er die Hände von der Mauer, drehte sich um und ging zurück zu seinen Freunden. Den Kopf noch immer voller Gedanken setzte ich meinen Heimweg unter den Pappeln fort.
„Der Sommer ist dahin, die Ernte ist vergangen, und uns ist keine Hilfe gekommen.“ Diese Zeile ging mir nicht aus dem Kopf. Ich sah Mark, wie er seinen Vater imitierend hinter dem Lesepult stand und die Faust auf den grünen Filz donnern ließ, sein Blick über die Phantasiegemeinde wanderte.
„Ich gehe nicht zurück“, sagte ich zu Gina. Zwar hatte ich nicht darüber nachgedacht, aber sobald ich es gesagt hatte, wusste ich, dass ich das schon vor langem beschlossen hatte. Ich würde in Berlin bleiben, zumindest noch eine Zeitlang. Meinen Lebensunterhalt konnte ich einige Monate mit Englisch-Unterricht bestreiten, während ich überlegte, wie es weiterging. Ich konnte auch an meiner sträflich vernachlässigten Dissertation arbeiten. Gina saß mit einem Buch in der Hand auf dem Sofa. Sie wirkte nicht überrascht. Ich dachte an unsere Wohnung in Arlington. An den Parkplatz gegenüber und wie wir auf dem Balkon gesessen und die Kinder mit ihren Skateboards beobachtet hatten. Das schien in einem anderen Leben gewesen zu sein; in letzter Zeit konnte ich mich in diesem Bild nicht mehr sehen. Gina saß allein da.
„Wir waren einmal so glücklich“, sagte sie. Und ich wusste, damit meinte sie vor der Fehlgeburt. „Ich dachte, wenn wir gemeinsam nach Berlin gehen, weg von allem … ich dachte, in Berlin würde alles wie früher.“
Sie seufzte. Stille breitete sich aus, nur von gelegentlichem Vogelgesang unterbrochen. Vielleicht brauchten wir genau das, Stille. Eine Zeitlang Abstand. Sie sah mir geradewegs in die Augen und nickte. Aus einem der Bäume erklang der unverkennbare Ruf eines Kuckucks. Ich ging ans Fenster und sah nach oben. Ein Zwitschern, ein grauweiß-getüpfeltes Flügelschwirren. Dann war er weg.