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Mark war schon wach, saß auf dem Sofa und sah durch die offene Balkontür auf die Wipfel der Pappeln, die die Straße säumten. Er war bis zum Hals in eine Decke gewickelt und wie er so dasaß, ausnahmsweise fast reglos, wirkte er verletzlich, nahezu kindlich. Er hatte auf dem Balkon geraucht und der Geruch war ins Zimmer gewabert. Gina habe zu einer Veranstaltung müssen, teilte ich ihm mit.

„Ja, ich habe mitbekommen, wie sie gegangen ist“, erklärte er.

Sie hatte mir nicht erzählt, wohin sie ging. In letzter Zeit schien sie immer gerade dann zur Wohnungstür hereinzukommen, wenn ich ging oder zu gehen, wenn ich kam; sie wachte auf, wenn ich schlafen ging. Am Vortag hatten wir nebeneinander im Badezimmer gestanden, redeten aber nicht miteinander, weil jeder den Mund voller Zahnpasta hatte, starrten uns nur im Spiegel über dem Waschbecken an, ein kurzer Blickkontakt, dann beugte sie sich vor und spuckte ins Wasser, das schäumend in den Abfluss strudelte. Ich dachte oft an Gina in ihrem Atelier, die den ganzen Tag allein war, mit Farben und Strichen, Angst und Hoffnung kämpfte, dem Pinsel Formen abrang, Gliedmaßen, Gesichter, Haare, Augen, und manchmal zutiefst zweifelte, ob sie die ideale Form im Platon’schen Sinne, die sie vor ihrem geistigen Auge hatte, einfangen konnte. In unserer Berliner Anfangszeit schien sich alles zu fügen, aber jetzt hielt sie sich manchmal nur im Atelier auf, um mir aus dem Weg zu gehen, so wie ich mich meinerseits mit Mark und seinen Freunden traf, um ihr auszuweichen. Manchmal wenn sie aus dem Atelier kam und mich lesend oder fernsehend im Wohnzimmer vorfand, wirkte sie überrascht von meiner Anwesenheit, dass es mich gab und sie gab, Mann und Frau gemeinsam unter einem Dach. Ich hätte nicht sagen können, wann sich dieses Unbehagen eingeschlichen hatte. Ich wollte sie umarmen und schweigend gemeinsam dasitzen, wie wir das vor langer Zeit oft getan hatten, aber dazu wäre eine enorme Energie nötig gewesen und die hatte ich nicht. Stattdessen schlüpfte ich in meine Jacke und streifte durch die einsamen Seitenstraßen von Berlin. Nichts und Niemand ist so einsam, wie ein einsamer Fremder in einer fremden Stadt.

„Wie habt ihr euch kennengelernt?“, wollte Mark wissen.

„Vorher brauche ich einen Tee“, sagte ich. „Willst du auch einen?“

„Lieber Kaffee, wenn du welchen hast.“

„Kein Problem.“

Als ich mit den Tassen kam, hatte er sich aus der Decke geschält und war bereits angezogen. Ich hatte Gina im März 2007 bei einer Wahlkampfveranstaltung Obamas an der American University in Washington kennengelernt. Obama hatte kurz zuvor seine Präsidentschaftskandidatur verkündet und Gina war eine seiner Wahlkampfhelferinnen. Irgendwann stand sie neben mir, umringt von ihren Freunden, die ebenfalls alle in Obamas Wahlkampfteam waren und entsprechende Buttons trugen. Noch nie hatte ich jemanden gesehen, der so schön war. Zweimal trafen sich unsere Blicke und ich spürte, dass auch ich ihr aufgefallen war – ich bekam kaum ein Wort des Kandidaten mit, war viel zu beschäftigt mir eine Strategie auszudenken, wie ich sie ansprechen könnte, aber noch ehe ich meinen Mut zusammenraffen konnte, waren sie weg, wurden dem Kandidaten vorgestellt.

„Was hast du in den USA gemacht?“

„Ich bin 2006 mit einem Stipendium rüber – ich habe dort meine Dissertation geschrieben. Wie es das Schicksal wollte, studierte sie ebenfalls Geschichte. Eine Woche darauf traf ich sie in der Bibliothek und diesmal gab es kein Halten mehr für mich. Als ich erwähnte, ich sei aus Nigeria, erzählte sie, ihr Vater sei Fulbright-Stipendiat in Nigeria gewesen. Und so fing es an. Jetzt du“, sagte ich.

„Was willst du wissen?“

„Erzähl mir von Malawi. Hast du Geschwister?“

„Ja. Zwei von jeder Sorte, ich bin das Sandwichkind.“ Er klang ernst, der leichtfertige, schwer fassbare Mark war für einen Moment lang verschwunden.

„Erzähl mir von ihnen, von deiner Familie.“

„Ich … mein Vater und ich waren selten einer Meinung. Habe ich schon erwähnt, dass er Pfarrer war?“

„Ja. Welche Glaubensgemeinschaft?“

„Seine Pfarrei gehörte zur Pfingstbewegung, eine der wenigen in Lilongwe. Als ich kleiner war, hat er mich ermuntert, bei der Kirchentheatergruppe mitzumachen. Ich habe es geliebt, hatte schon früh eine Neigung dazu. Wir spielten hauptsächlich biblische Geschichten nach. Ich liebte es, auf der Bühne zu stehen, liebte die Macht, die Gemeinde mit meiner Tollpatschigkeit, mit Worten und Gesten zum Lachen oder zum Weinen zu bringen. Ich spielte immer die Hauptrolle. Einmal war ich der Verlorene Sohn, der ausgestoßen wurde und mit den Schweinen aß und bei der Heimkehr von seinem Vater mit offenen Armen aufgenommen wurde, dann wieder war ich Josef, den seine Brüder in den Brunnen geworfen hatten. Ich kann verstehen, warum Schauspieler manchmal schizophren werden. Man geht so leicht in der Rolle auf und sich davon zu lösen, ist problematisch. Ich war jeweils felsenfest davon überzeugt, dass ich diese Person war. Wahrscheinlich bin ich schon damals vor etwas geflüchtet, wovor, weiß ich nicht. Meine Kindheit, das war nur die Kirche, keinerlei andere Interessen. Während meine Freunde draußen herumstromerten, Sport trieben und andere Hobbys entdeckten, blieb ich in der Kirche, immer unter dem wachsamen Auge meines Vaters. Mehr gab es in meiner Kindheit nicht. Als ich mit der weiterführenden Schule fertig war, wollte ich natürlich Schauspiel studieren, aber das kam für meinen Vater nicht in Frage.“

„Warum?“

Mark zog aus seiner Jackentasche eine Zigarettenschachtel heraus. Wir stellten uns auf den Balkon und rauchten. „Schauspieler in der Kirche zu sein, war okay, aber außerhalb nicht. Schauspieler sein heiße, eine Lüge zu leben, behauptete er. Mit der Vorspiegelung falscher Tatsachen sein Geld zu verdienen. Gottlos, nannte er es. Aber mit Hilfe meiner Mutter gelang es mir doch. Ich lud die gesamte Familie zu meinem ersten Auftritt ein. Ich spielte die Hauptrolle in Sizwe Bansi ist tot von Athol Fugard. Da war ich neunzehn. Ich hatte mich enorm ins Rollenstudium reingekniet, damit ich den passenden Tonfall, die entsprechenden Bewegungen fand. Aber trotzdem konnte ich, sogar von der Bühne aus, die Enttäuschung im Gesicht meines Vaters sehen.“

„Was genau hat ihm denn missfallen?“, fragte ich.

Mark nahm einen tiefen Zug, lehnte sich dann über die Balkonbrüstung und schnipste die Kippe weg. „Er meinte, es bringe Schande über die Kirche. Es sei zu weltlich. Dazu muss man wissen, dass mein Vater für die Kirche, für die Bibel lebte, das war sein gesamter Lebensinhalt. Ich war dermaßen enttäuscht, dass ich nicht mehr nach Hause fuhr. Während der Semesterferien wohnte ich bei Freunden und wir spielten in kleinen Theatern, in Nachtclubs und auf der Straße und verdienten genug für unseren Unterhalt. Es machte Spaß. Meine Mutter besuchte mich und flehte, ich solle heimkommen. Ich weigerte mich. Nach Abschluss des Studiums ging ich zu Onkel Stanley, dem jüngsten Bruder meines Vaters, nach Südafrika. Er unterrichtet an der Uni und ist das genaue Gegenteil meines Vaters. Ich bin nie wieder nach Hause gegangen. Er war derjenige, der vorschlug, ich solle ins Ausland gehen und dort weiterstudieren. Er hat mich mit seinem Freund am Goethe-Institut in Johannesburg verdrahtet. Ich schrieb mich dort für einen Deutschkurs ein und bewarb mich für ein Stipendium, damit ich hier weiterstudieren konnte. Eins ergab einfach das andere.“

„Hast du je daran gedacht, zurückzugehen?“, fragte ich. Er schüttelte den Kopf, zuckte die Achseln. „Hin und wieder. Meine Mutter fehlt mir. Und mein Onkel und seine Frau, deren Kinder, meine Geschwister. Aber ich und Rückkehr – eher nicht. Zumindest nicht in nächster Zeit.“

Ich wollte auf das, was der Anwalt gesagt hatte zu sprechen kommen, doch zu meiner Überraschung sagte Mark, er müsse jetzt gehen.

„Wie, du gehst jetzt?“

„Schau mal, ich bin mir nicht sicher, ob deine Frau es so gut findet, dass ich hier bin. Ich habe das schon letzte Nacht gemerkt. Und heute früh hat sie nicht mal auf mein Guten Morgen reagiert.“

Ich entschuldigte mich. „Aber du musst wirklich nicht gehen. Gina ist momentan einfach nur mit den Gedanken woanders …“

„Schon gut“, sagte er. „Ehrlich. Ich weiß zu schätzen, was du alles für mich getan hast.“

Ich kam mir wie Judas vor, als ich Mark zur Bushaltestelle begleitete, war aber gleichzeitig auch erleichtert, ein Gefühl, das ich zu unterdrücken versuchte. Er meinte, er könne bei Freunden unterkommen und wenn das nicht klappe, gebe es immer noch das Flüchtlingsheim. Ich umarmte ihn, eine Judasumarmung, und sah ihm nach, wie er durch eine Verkehrslücke rannte, wobei der Wind seine alberne Jacke hochwehte. Während der letzten Wochen hatte er abgenommen. Er erwischte den M400-Bus und als dieser losfuhr, sah ich Mark am Fester des Oberdecks winken. Mit bleierner Hand winkte ich zurück und schleppte mich schweren Herzens nach Hause. Alles veränderte sich. Das Laub an den Bäumen, die Kleider in den Schaufenstern. In der Luft lag eine fast kaum wahrnehmbare Kühle. Ich dachte an zu Hause und den Harmattan im November, der mich fast immer krank gemacht hatte, meine Mutter meinte, das sei, weil mein Körper auf den Wechsel der Jahreszeiten reagiere. Unsere Körper wollten, träge wie sie seien, immer am Gewohnten festhalten. Ich hatte mit meiner Mutter schon länger nicht mehr telefoniert. In meiner Anfangszeit in Amerika rief ich sie jeden Sonntag an, verplauderte Fünf-Dollar-Telefonkarten, der Hörer wurde an meinen Vater weitergereicht, an meine Schwester und beide Brüder. Eigentlich sollte ich nach meiner Dissertation heimkehren, doch dann traf ich Gina und aus Tagen wurden Monate, aus Monaten Jahre und dann hörte ich auf, daheim anzurufen. Bei meinem letzten Anruf vor einem Jahr, hörte sich meine Mutter derart distanziert an, als würde sie mit einem Unbekannten übers Wetter reden. Ich reichte den Hörer an Gina weiter, aber meine Mutter hatte Probleme, Ginas amerikanischen Akzent zu verstehen, daher dauerte der Anruf nur wenige Minuten. Ich dachte daran, wie es gewesen war, bevor Gina schwanger wurde. Abends saßen wir oft auf dem Balkon, tranken Weißwein und beobachteten den leeren Parkplatz auf der anderen Straßenseite, die Kinder, die auf ihren Skateboards über den Asphalt tretrollerten, den Gehweg entlangdonnerten, mit den an ihren Schuhsohlen festklebenden Brettern hoch in die Luft sprangen, jedes erfolgreiche Kunststückchen mit einem High-five feierten. Ich war so gedankenversunken, dass ich in eine Frau hineinrannte, die eine Schaufensterauslage betrachtete, kurz darauf in einen Mann. Ich war zum ersten Mal in dieser Straße, kannte weder die Namen der Läden noch eventuelle Sehenswürdigkeiten. Der Mann war hochgewachsen und trug eine modische Lederjacke. Er fasste mich am Ellbogen und rüttelte mich aus meiner Tagträumerei. „He, pass auf!“ Ich nickte und ging weiter.

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