Читать книгу Das Mädchen und die Nachtigall - Henri Gourdin - Страница 6

Villefranche

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Der Leiter des Lagers ließ mich am späten Vormittag rufen.

»Ich begleite dich«, sagte Julia und erhob sich.

»Lass nur«, entgegnete ich aus meiner tiefen Niedergeschlagenheit heraus.

Ich begab mich langsam zu dem kleinen Backsteingebäude mit den Büros und der Krankenstation. Dabei versuchte ich, auf den Holzplanken, die die Soldaten endlich über die Kloake gelegt hatten, das Gleichgewicht zu halten.

Der Leiter erwartete mich, und er war nicht allein. Er unterhielt sich in seinem Büro mit einer kleinen rundlichen Frau, von der ich durch die offen stehende Tür zunächst nur den Rücken erblickte. Als ich eintrat, drehte sie sich halb um, begutachtete mich von Kopf bis Fuß, und ihr Blick blieb erst an meinen Beinen hängen, dann an den Hüften und an dem, was von meiner Brust noch übrig geblieben war.

»Maria Soraya«, sagte der Soldat nach einem Räuspern. »Ist das dein Name?«

»Ja, das bin ich.«

»Madame …«

»Puech, Félicie Puech.«

»Madame Puech aus …«

»Villefranche, Villefranche-de-Conflent.«

»Madame Puech aus Villefranche-de-Conflent hat sich gemeldet, um dich aufzunehmen. Sie braucht Hilfe in ihrer Bäckerei, so ist es doch?«

»Ja. Mein Sohn wurde eingezogen, wie ich Ihnen gesagt habe …«

»Also …«

Er fuhr mit seinem dicken, fettigen Finger über ein Blatt Papier.

»Du hast mehrere Angebote abgelehnt, nicht wahr? Maria Soraya. Deine Schwester und du, ihr wolltet in derselben Familie aufgenommen werden, stimmt doch, oder? Nun …«

»Ich werde mitgehen«, sagte ich entschlossen.

»Du sprichst Französisch?«, fragte die Frau und blickte mir tief in die Augen.

»Ein wenig. Ich verstehe es«, fügte ich auf Katalanisch hinzu.

»Ein wenig!«, wiederholte sie enttäuscht.

Sie erhob sich seufzend, und ich fragte mich, ob die Anstrengung, die diese einfache Bewegung ihr abverlangte, durch ihre Korpulenz, gewöhnliche Müdigkeit oder vielmehr durch den Ekel, den ich ihr einflößte, hervorgerufen wurde. Sie drückte meine Muskeln an den Oberarmen, zog meinen Rock bis über die Knie hoch, inspizierte meine Haare und lief währenddessen unablässig mit unentschlossener Miene und Seitenblicken hin zum Lagerleiter um mich herum. Als sie ihre Inspektion beendet hatte, setzte sie sich wieder, seufzte noch einmal und schaute mich mit ihren kleinen Marderaugen einen Augenblick aus der Entfernung an.

»Marie also?«, fragte sie wiederum seufzend.

»Ja, Madame.«

»Gut. Ich nehme sie.«

Sie nickte, und ich begriff, dass ich aus dem Lager herauskommen würde, um irgendwo in einer Stadt oder einem Dorf der Ostpyrenäen Brot zu verkaufen. Der Leiter des Lagers stempelte ein Blatt Papier und hielt es ihr hin.

»Zehn Minuten«, sagte er, ohne mich anzusehen. »Du hast zehn Minuten, um deine Sachen zu holen.«

»Der Zug wartet nicht«, setzte die Frau mit einem letzten Seufzer hinzu.

Ich habe keine genaue Erinnerung an den ersten Teil unserer Reise, nur einige Bilder sind mir geblieben: Madame Puechs Bedrängnis in dem Moment, als sie auf den Lastwagen der Militärbehörde aufstieg, der Tumult am Bahnhof von Argelès, die eisernen Brücken über den Flüssen, das Grau des Meeres an der Flussmündung. Deutlich sehe ich jedoch den schwarzen Mantel und den kleinen Hut meiner Chefin unter einem großen Glasdach vor mir, das muss am Bahnhof von Perpignan gewesen sein. Und ich habe drei Trittbrettstufen und zwei sich gegenüberstehende hölzerne Sitzbänke vor Augen. Ein Reisender schickte sich an, meinen Koffer zu nehmen, um ihn auf der Gepäckablage über den Sitzplätzen zu verstauen, doch ich hinderte ihn daran und drückte den Koffer fest an mich. Ein kleines Ding aus aufgeweichtem Karton, an den Ecken eingedrückt, von Regen und Sonne verformt. Doch es war alles, was mir von meiner Vergangenheit geblieben war, das Einzige, was mich an meine Familie erinnerte.

»Nun gut!«, murmelte Madame Puech deutlich genug, dass ich es hörte. Seht euch das an!, sagte ihr Blick. Seht diese Zurückgebliebene, die sich an ein Stück Karton wie eine Bettlerin an ihre Mütze klammert! Doch sie spürte, dass ich nicht von meinem Entschluss ablassen würde, und insistierte nicht. Sie ließ sich am Ende der Sitzbank am Fenster nieder und wies mir mit einer Kinnbewegung den Platz ihr gegenüber zu.

»Setz dich dort hin«, sagte sie, als ich zu ihr kam.

Sie wiederholte es auf Katalanisch. Ich ließ mich nieder und versuchte dabei unter den Falten dessen, was von meinem Mantel übrig geblieben war, die Flecken und Risse meines Rocks zu verbergen.

»Nun, wir werden dich neu einkleiden«, sagte sie mit einem erneuten Seufzer, während sie mein Unterfangen beobachtete.

»Danke, Madame«, erwiderte ich auf gut Glück auf Französisch.

In diesem Augenblick ertönte ein Pfiff auf dem Bahnsteig, und die Dampfstöße wurden mit dem Schließen der Türen und dem Quietschen der Kuppelstange beantwortet. Es hatte aufgehört zu regnen, ein winterliches Licht glitt über die Gesichter, und die Geräusche fügten sich in einer Art Abschiedssymphonie zusammen, welche die Kulisse einhüllte und durchdrang.

Die Musik war der Mittelpunkt meines Lebens, ja, meines Seins gewesen, bevor ich Tarragona verlassen hatte. Die Bombardierung hatte sie plötzlich aus meiner Welt genommen, und nun kam sie auf diese Weise wieder zurück, ohne Vorwarnung. Warum gerade in diesem Moment? Hing es damit zusammen, dass ich das Lager verlassen hatte? Dass sich nach diesen Monaten der Zurückgezogenheit, der schieren Hoffnungslosigkeit neue Perspektiven eröffneten? Ich weiß es nicht. Ich weiß nur, dass sie da auf einem Bahnsteig im ›Zentrum der Welt‹, wie Salvador Dalí diesen Ort genannt hatte, wieder ihren Platz in mir einnahm.

Der Zug entfernte sich vom Bahnhof, dann von den Vorstädten, um durch einen Weinberg zu fahren, der sich mit seinen Hohlwegen, Mandelbäumen und Hütten unter Feigenbäumen in sanften Wellen dahinzog, so weit das Auge reichte. Es gab dort Felsen, die wie Schornsteine mit einer Haube aussahen, Dörfer mit roten Dächern und weißen Mauern, die mich an Spanien erinnerten, linkerhand bewaldete Abhänge und darüber eine hohe, mit Schnee bedeckte Gebirgskette.

»Der Canigou«, sagte Madame Puech, als sie meinem Blick folgte.

»Der Canigou«, wiederholte ich.

»Komm näher«, murmelte sie wenig später und rutschte an den Rand ihres Sitzplatzes.

Sie zögerte, dann sagte sie leise, indem sie sich von den Mitreisenden abwandte: »Ich muss mit dir reden. Über Charles. Meinen Sohn Charles. Meinen einzigen Sohn, hörst du?«

Sie sah mich durchdringend an. Was war mit diesem Charles?

»Die Armee hat ihn uns genommen«, seufzte sie. »Die Mobilmachung, verstehst du? Das tut uns weh. Es schadet dem Geschäft«, sprach sie stirnrunzelnd weiter. »Wir können ihn nicht ersetzen, sie sind alle weg, verstehst du? Alle Männer sind fort«, wiederholte sie mit einer Handbewegung, als würde sie einen Schwarm Spatzen nachahmen, »das Backhandwerk ist Männerarbeit, und es gibt keine Männer mehr, es sind keine mehr da.«

Sie setzte sich wieder zurück auf ihren Platz und erklärte mir unter weiteren Seufzern und ohne mich anzuschauen die Organisation ihres Geschäfts und was sie von mir erwarteten, ihr Mann und sie: Ich würde im Laden arbeiten und Arlette, ihre Angestellte, in die Backstube überwechseln. Dann holte sie ein großes viereckiges Stück Stoff aus ihrer Manteltasche, schnäuzte sich und rieb sich die Nasenflügel.

»Charles …«

Sie zögerte, dann sagte sie mit traurigem Gesicht: »Er schreibt nicht.« Und mit einem in die Ferne auf irgendein Detail der Landschaft gerichteten Blick: »Émile macht es ganz krank.«

»Émile?«

»Émile, mein Mann. Muss man dir alles erklären? Charles sollte ihn ablösen. Er hat es versprochen. Aber nun ist Krieg, er ist weg, und Émile, nein, er kann nicht, es ist zu viel für ihn. Es wird ihn umbringen«, fuhr sie fort und schnäuzte sich wieder mit einer großtuerischen Geste, bei der sie ihre Augenbrauen zusammenzog.

Den Blick noch immer abgewandt, fügte sie leise hinzu: »Deshalb haben wir dich genommen, verstehst du? Für den Verkauf.«

»Den Verkauf?«

»Für den Brotverkauf natürlich! Ach, begreifst du denn gar nichts?«

»Doch«, stammelte ich. »Für den Brotverkauf.«

»Wirst du es schaffen?«, fragte sie besorgt, nachdem eine ganze Weile Stille geherrscht hatte.

Was sollte ich schaffen? Mich an den Preis des Brotes erinnern, die Bestellungen notieren, das Kleingeld herausgeben? Das erledigen, was ich so oft die Angestellten der Bäckerei in unserem Viertel in Tarragona hatte tun sehen? Warum nicht? Ich hatte mir vorgestellt, dass ich Wäsche ausschlagen, Kartoffeln schälen und Wasser aus einem tiefen, dunklen Brunnen heraufholen musste. Letztendlich verlangte man von mir, dass ich mich hinter einen Ladentisch stellte, um Brot auszugeben, was würde das ändern? Das Einzige, was für mich in diesem Moment zählte, war, aus diesem Lager wegzukommen, zu dem man mich zurückbringen würde, wenn ich die an mich gestellten Aufgaben nicht erfüllte. Tatsächlich hätte ich an jenem Tag und auch noch geraume Zeit später alles Mögliche akzeptiert, nur aus Furcht, nach Argelès zurückgeschickt zu werden. Sagte man mir: Tu dies, mach das – ich tat es, ohne zu versuchen, es zu verstehen, oder zu widersprechen. Wie dem auch sei, ich hatte meinen Vater, meine Mutter, mein Zuhause verloren, ich hatte auf der Flucht Schreckliches gesehen, wie ich es mir nie hätte vorstellen können, und nun war Teresa tot, und ich war allein auf der Welt. Also Wäsche waschen oder Brot verkaufen …

»Ja, Madame«, sagte ich in meinem unvollkommenen Französisch, »ich werde es schaffen.«

Und später, nachdem ich ein wenig nach den Worten gesucht hatte: »Sie können sich auf mich verlassen.«

Sie sah mich noch einen Moment lang an, mit diesem zweifelnden Ausdruck, mit dem sie mich von Anfang an im Büro gemustert und den sie seitdem beibehalten hatte, dann wandte sie den Kopf zum Fenster und versank in ihre Gedanken.

Wir fuhren in einen Bahnhof ein, der den Namen ›Prades‹ trug. Auf dem Bahnsteig erinnerte mich ein mit Kugeln und Girlanden geschmückter Weihnachtsbaum an das Datum: Es war der 24. Dezember. Ich hob den Kopf und nahm die Menschen in unserem Abteil wahr. Ich war so in meine Gedanken vertieft gewesen, von der Betrachtung der Landschaft so in Anspruch genommen, dass ich sie weder gesehen noch gehört hatte. Hätte man mich gefragt, wer von ihnen mit uns zusammen in Perpignan eingestiegen war und wer an den folgenden Haltestellen, ich wäre nicht in der Lage gewesen zu antworten.

Ich lauschte. Die Unterhaltung handelte von den Rationierungsmaßnahmen, den Schwierigkeiten, Lebensmittel zu bekommen, der drohenden allgemeinen Mobilmachung. In Kriegszeiten Weihnachten feiern – wie passt das zusammen?, bemerkte jemand. Eine Antwort blieb aus.

Dieser Halt dauerte länger als die anderen, doch der Zug setzte sich schließlich wieder in Bewegung. Die Silhouette des Tannenbaums entfernte sich rasch, und die Kulisse verengte sich. Da waren keine großen Obstgärten und bewaldeten Hügel mehr. Wir fuhren langsam durch einen Engpass, der mich an den Anstieg des Passes von Perthus nach der Bombardierung erinnerte. Tränen stiegen mir bei dieser Erinnerung in die Augen. Würde die Kette meiner Unglücke jemals enden? Stand es irgendwo geschrieben, dass ich immer wieder auf Menschen ohne Mitleid treffen würde, die nur den Profit oder den Vorteil im Sinn hatten, den sie aus mir ziehen konnten? Wie diese Madame Puech. Sie beobachtete mein Spiegelbild in der Glasscheibe der Tür, stellte meine Bestürzung fest und tat, als ob sie nichts bemerkte, nichts sah. War das eine Angewohnheit der Leute hier? Eine besondere Sitte in dieser Gegend? Nein, seit ich das Lager verlassen hatte, war ich einige Male angelächelt worden. Am Bahnhof mit dem Tannenbaum hatten mich die Reisenden mit einer Mischung aus Neugier und Sympathie angeschaut. Sie hätten mich sicherlich angesprochen und sich meiner angenommen, wenn meine Chefin nicht da gewesen wäre.

Bei der folgenden Haltestelle, der von Ria, knöpfte diese ihren Mantel zu, nahm ihre Handtasche und machte mir ein Zeichen, mich bereitzuhalten. Die anderen Reisenden taten es ihr gleich und ich fragte mich, ob sie über alle diese Leute verfügte, ob der Himmel mich unter den Schutz einer Familie gestellt hatte, die sich gegenüber allen durchsetzte. Es gab einen kleinen Ruck, der Zug blieb stehen und die Leute folgten uns auf den Bahnsteig.

Dieser Bahnhof war weit weg von allem, er lag verlassen auf einer kleinen Hochebene, die von hohen Felsen umgeben war. Es war kaum vier Uhr nachmittags und die Dunkelheit brach über den Vorplatz herein, die Sonne erhellte nur noch ein Stück Felsen ganz oben auf den Bergen. Ein feuchter und kühler Wind wehte in der Talmulde, und ich zitterte in meinem abgenutzten Mantel. Doch es war nicht der Moment, sich gehen zu lassen: Ich umklammerte den Griff meines kleinen Koffers, biss entschlossen die Zähne aufeinander und folgte Madame Puech auf der Straße, die vor dem Bahnhof begann. Sie führte auf einer Steinbrücke über einen Fluss, den der Zug mehrere Male überquert hatte.

»Die Têt, hörst du?«, sagte Madame Puech, ohne stehen zu bleiben, und wandte sich ausschließlich der Strömung zu.

»Die Têt«, wiederholte ich und bemühte mich, mir dieses neue Wort einzuprägen.

Frauen und Männer waren vor und hinter uns auf der Brücke unterwegs, bogen am Ende rechts ab und gingen an einer Steinmauer entlang, die von der Böschung hinaufragte. Ich erkannte einige Reisende aus unserem Abteil wieder, entdeckte aber auch Frauen in Schürzen und Arbeiter in Latzhosen, die ich weder im Zug noch auf dem Bahnsteig gesehen hatte. Waren das Bauern? Oder Eisenbahner, die von ihrer Arbeit zurückkehrten?

All diese Leute redeten, pfiffen, machten Späße, grüßten meine Chefin, und ich zitterte. Vor Kälte und von der quälenden und sich immer wiederholenden Erinnerung an den Aufstieg nach Perthus unter den Schusssalven der nationalistischen Luftwaffe. Ich zitterte wegen der feuchten Kälte, die vom Fluss her aufstieg, und der Kälte, die diese Bilder in meiner Seele hervorriefen. Und zwar gegen meinen Willen. Im Gegenteil, ich bemühte mich, den Gesprächen um mich herum zu folgen, die Vorfreude an diesem Weihnachtsabend zu teilen. Aber immer tauchten dieselben Szenen wieder auf: der überstürzte Aufbruch im Feuerschein, die Leichen von Papa und Mama, das Blut an den Mauern und auf dem Straßenpflaster. Es war stärker als ich.

Ich versuchte meine Gedanken wieder auf Bilder von schönem Feuerschein in einer Küche und von warmem Brot auf Regalen in einer Bäckerei zu lenken, doch das Grauen setzte sich durch, und mir wurde langsam schlecht. Schließlich ging ich auf die Mauer zu, an der wir entlangliefen, und ließ mich an ihr hinuntersinken, mit dem Rücken gegen den Stein. In diesem Augenblick, ja, da hätte ich gewollt, dass alles aufhört und dass Gott mich zu sich nimmt, zu den meinen.

»Geht es dir nicht gut?«, fragte eine Frau und kam zu mir.

»Die Kleine hier fühlt sich nicht wohl«, sagte eine andere direkt neben mir.

»Du, misch dich da nicht ein«, entgegnete Madame Puech, ohne sich deshalb um mich zu kümmern.

Sie war vom Bahnhof an zusammen mit einer Frau ihres Alters und Ranges gelaufen, die wie sie in einen halblangen dunklen Mantel gehüllt war. Sie trat ein wenig auf der Stelle, als sie mein Unwohlsein bemerkte, machte jedoch keine Anstalten, mir zu Hilfe zu kommen, und ich konnte ihr nicht böse sein: Jeder an ihrer Stelle hätte sich dieses Schmutzfinks geschämt, der die Leute verjagen würde und vielleicht völlig unfähig war, eine Faulenzerin, eine Diebin, wer weiß, die vielleicht eher begabt dafür war, ihre Hand in die Kasse zu stecken, als Brot einzuwickeln und die Kunden freundlich zu bedienen. Ich verstand ihre Worte nicht, aber ihre verstohlenen Blicke und ungeduldigen Gesten bedurften keiner Übersetzung.

Es gelang mir, wieder aufzustehen, zu ihr zu gehen, und als ich sie eingeholt hatte, sah ich durch das Geäst, das vom Flussufer aufragte, die lange hellgraue Stadtmauer. Es war dasselbe leicht rosafarbene Hellgrau wie bei dem Felsen am Engpass, der Schutzmauer am Fluss, dem Brückenbogen unterhalb des Bahnhofs. Eine lange grau-rosa Mauer, von ihrem Schieferdach durch den schwarzen Streifen einer Galerie förmlich getrennt, von zwei Türmchen flankiert und ungefähr in der Mitte von einem Tor durchbrochen, dessen stark ausgearbeitete Details die schreckliche Nüchternheit des Ganzen noch betonten.

Mit jedem Schritt wurde das Bauwerk größer und nahm einen immer umfangreicheren Teil meines Blickfeldes ein, und im selben Maß wuchs meine Furcht. Als ein Auto über eine der Steinbrücken fuhr, fiel sein Scheinwerferlicht für kurze Zeit auf das Mauerwerk. Dein neues Gefängnis, sagte ich mir, als das Licht verschwand, von dem dunklen Loch des Tors verschluckt. Ich schaute noch eingehender hin. Die Mauer kam mir gigantisch vor, das Tor winzig klein, der Abgrund am Fuß der Bastion von einer unglaublichen Tiefe.

»Der Fluss Cady«, sagte Madame Puech und wandte sich mir ein wenig zu.

Ich folgte ihr in das Dunkel des Tores und sagte mir, dass ich nun von einem Lager in das nächste kam, das noch furchterregender war als das erste und dessen Türen sich augenblicklich hinter mir schließen würden. Wir befanden uns direkt an der Stadtmauer; ich erriet im Halbdunkel der hereinbrechenden Nacht die Einzelheiten des Mauerwerks und wurde immer mehr von einer dumpfen Angst erfüllt.

»Versuch, dich zu benehmen«, murmelte sie, als wollte sie meine Sorgen bestätigen.

Es war das erste Mal, dass ich in eine solche Festung kam, und ich fragte mich, ob sich der Zug von Perpignan nicht in der Zeit zurückbewegt hatte, um uns am Tor zu einer anderen Welt abzusetzen. Was war das für eine Stadtmauer? Fand das Leben nur innerhalb dieser Mauern statt? Aber die Menschen mussten doch auf ihre Felder. Wo brachten sie ihre Tiere und ihre Ernte unter? Fragen stürzten auf mich ein, aber ich hätte mich nie getraut, sie Madame Puech zu stellen. Denn ich wollte nicht dumm wirken und auch nicht die Bedrängnis vergrößern, in der sie sich offensichtlich seit dem Verlassen des Bahnhofs befand und die ich mir eigentlich nicht erklären konnte. Hatte ich einen Fehler begangen, ohne es zu merken? War sie, als sie mich während der Zugfahrt beobachtete, zu der Ansicht gekommen, dass ich nicht die von ihr erhofften Qualitäten besaß?

»Die Porte de France«, sagte sie, als wir in diesen Tunnel hineingingen, der auf mich wie das Maul eines Drachens wirkte.

»Die Porte de France«, wiederholte ich und betrachtete die bedrohlichen Spitzen des Fallgitters, die riesigen Glieder der Kette und die großen Holzräder des Laufwerks.

Hinter dem Tor lag ein Platz, in seiner Verlängerung eine Straße und eine weitere rechterhand ganz am Ende des Platzes. In diese Richtung wendete sich Madame Puech. Sie ging plötzlich sehr schnell und erwiderte kaum den Gruß der Leute. Es wurde immer dunkler, die Fenster in den Stockwerken der Häuser wurden erleuchtet, eine Frau verließ mit einem Baby auf dem Arm ihr Haus, schloss die Fensterläden und summte dabei unaufhaltsam vor sich hin. Madame Puech bog in die Straße am Ende des Platzes ein, stieß eine Glastür mit dem Ladenschild der Bäckerei auf, und ich begriff, dass wir angekommen waren.

»Ist alles bereit, Arlette?«, wandte sie sich ohne Begrüßung an die Person hinter dem Ladentisch.

»Es ist alles bereit, Madame. Wir haben zwei Kessel, die zusätzlich erhitzt werden können, für alle Fälle.«

Arlette gab einem kleinen Mädchen das Wechselgeld heraus. Dann waren noch zwei ältere Männer im Laden, in schwarzen Cordhosen und dunklen Jacken. Der kleinere von ihnen hatte eine Wollmütze auf dem Kopf. Sie drehten sich zu uns um und betrachteten mich schweigend, wie man etwas Seltsames anschaut. Auch im Zug und auf dem Weg zum Bahnhof hatten mich die Menschen gemustert, jedoch flüchtig und wie im Vorbeigehen. Seit wir die Porte de France durchschritten hatten, war es anders: Die Blicke richteten sich gezielt auf mich, musterten mich von oben bis unten und wanderten dann zu Madame Puech, als forderten sie von ihr Rechenschaft. Wer war diese Fremde, dieses schmutzige Wesen, das ihr wie ein Schatten folgte? War es eine gute Idee, ein Mädchen, dessen Eltern keiner kannte, in die eigenen Mauern hereinzulassen? Ich sah mich mit ihren Blicken und schämte mich. Schämte mich meiner fleckigen Kleider, meines zerlöcherten Mantels. Schämte mich meiner nackten Füße in meinen zerschlissenen Schuhen.

Ich verstand den Sinn des Gesprächs mit Arlette erst, als ich Madame Puech auf den Fersen in das folgte, was die Backstube sein musste. An der Wand entlang standen Arbeitstische bedeckt mit Zinkplatten, ein Backtrog und ganz hinten Jutesäcke. All das war von weißem Staub bedeckt. In der Mitte des Raumes stand ein großer, dampfender Holzzuber auf dem Boden, ein Badehandtuch lag auf einem Stuhl, und über der Lehne hingen saubere Kleider.

»Komm!«, sagte sie zu mir und zog ihren Mantel aus. Sie schnürte eine große Schürze, die an einem Haken gehangen hatte, um ihre Hüften und krempelte die Ärmel ihrer Bluse bis zu den Ellenbogen hoch. Dann beugte sie sich über den Zuber und griff nach dem Schwamm darin.

»Nun!«, wandte sie sich noch einmal an mich und drehte sich dabei zu mir um.

Eine angenehme Wärme erfüllte die Backstube, und die Aussicht, mich zu waschen und saubere Kleider anzuziehen, entzückte mich. Es würde seit meiner Flucht aus Tarragona vor zehn Monaten das erste Bad sein. Doch es gab da einen Haken: Ich musste mich vor einer Fremden ausziehen, in einem Raum, den Arlette oder sonst irgendjemand jeden Moment betreten konnte.

Madame Puech war meinem Blick gefolgt. Sie zuckte mit den Schultern und ging, um die zwei Riegel an der Tür zum Laden hin zu verschließen und dann die an der Tür am anderen Ende, die nach draußen führen musste. Nun also zog ich meinen Mantel und mein Kleid aus, das ich seit meiner Flucht aus Spanien trug. Ich zögerte erneut, als ich meine Unterwäsche – das, was davon übrig war – auszog, doch Madame Puech hatte bereits die Tür des Ofens geöffnet und warf meine Lumpen nach und nach hinein.

Plötzlich erleuchtete ein wilder Schein die Wände. Ich wandte den Kopf und erstarrte: Sie hatte meinen Koffer ergriffen und schickte sich an, ihn ins Feuer zu werfen.

»Nein!«, schrie ich.

Mit einem Satz war ich am Ofen, riss den bereits brennenden Koffer aus Madame Puechs Händen und tauchte ihn in den Zuber. Weißer Rauch stieg aus dem Dampf hoch, die Flammen flackerten an die Decke, und Madame Puech stieß einen überraschten Schrei aus.

»Was tust du? Hör auf, du Unglückliche! Du wirst das Haus in Brand stecken!«

Das kümmerte mich nicht. Sie konnte schreien, so viel sie wollte, dass das ganze Viertel zusammenlief, es war mir egal. Ich warf den Koffer auf den Boden, sobald die Flammen erloschen waren, und öffnete ihn, um die einzigen Reliquien meiner Kindheit herauszuholen: das Gebetbuch von Mama und meine Perlenkette, eine Erinnerung an mein erstes Konzert, in der hölzernen Schatulle, die Papa extra für diesen Anlass angefertigt hatte. Sie war von den Flammen geschwärzt, das Buch und die Kette aber unversehrt. Ich nahm mir die Zeit, sie auf einen in der Nähe stehenden Tisch zu legen, dann ergriff ich das, was von dem Koffer übrig war, und warf es selber in die Flammen.

Madame Puech beobachtete mein Tun mit starrem Blick, wie jemand, der seinen Augen nicht traut. Regungslos, mit leicht geöffnetem Mund und zitternden Lippen. Doch plötzlich kam sie wieder zu sich und zeigte mit einer Handbewegung auf die Kleidungsstücke über der Stuhllehne.

»Du ziehst bei dem Tausch nicht den Kürzeren.«

Ein Kleid, wie ich es mir schon immer gewünscht hatte: hellblau, mit einem Kragen und Manschetten aus weißer Baumwolle. Und dann noch ein Unterkleid mit Spitzenbordüre, weiße Kniestrümpfe und eine hübsche Mütze.

»Das müsste dir passen«, sagte sie, die Hände auf den Hüften.

Als ich mich nicht entschließen konnte, mein altes Unterkleid auszuziehen, kam sie zu mir, griff nach dem unteren Saum und zog es mir mit einem Ruck über die Schultern. Ich stieß einen Schrei aus und kreuzte die Arme über meiner Brust.

»Los, denkst du, ich habe sonst nichts zu tun?«

Ich sah ein, dass Widerstand zu nichts führen würde, zog meine letzten Lumpen aus und stieg über den Rand in den Holzzuber.

Das Mädchen und die Nachtigall

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