Читать книгу Das Mädchen und die Nachtigall - Henri Gourdin - Страница 7

Weihnachten

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Ein Duft von Weihnachten hatte auf unserer Fahrt die Luft in den Bahnhöfen erfüllt, und als ich durch die Bäckerei lief, hatte ich Zeit, auf dem Fenstersims des Schaufensters eine kleine Krippe zu bemerken, die mit falschem Schnee gepudert war. Es würde einen Weihnachtsabend und eine Mitternachtsmesse geben. Darum kreisten meine Gedanken, als ich Madame Puech in den leeren Verkaufsraum folgte, der von dem Licht, das durch eine kleine Tür links vom Ladentisch fiel, nur schwach erleuchtet wurde. Hinter dieser Tür führte eine Treppe in den ersten Stock, in eine große Küche, in deren Mitte ein massiver Tisch mit einer Wachstuchdecke stand. Rechts der Eingangstür befand sich an der Wand zwischen den beiden Fenstern ein Buffet, gegenüber ein gusseiserner Herd mit seinem Zinkrohr, auf der linken Seite ein Sofa und in der hinteren Ecke ein Spülbecken aus Stein. Die weiteren Türen führten sicher in andere Zimmer … Das ist von nun an deine Welt, sagte ich mir.

Die Lippenbewegungen, die ich seit unserer Abreise aus Argelès bei Madame Puech beobachtet und ihrer Beunruhigung wegen der Reise zugeschrieben hatte, diese Bewegungen hatten sich, seit wir bei ihr zu Hause waren, in eine Art Murmeln verwandelt und wurden von einem Schulterzucken begleitet, das ihre Umgebung vielleicht als eine ihr eigene Art nicht mehr wahrnahm. Ich bemerkte es wieder, als sie zum Küchenschrank ging. Sie holte eine mit Mohnblumen bestickte Leinentischdecke heraus und forderte mich auf, den Tisch für vier Personen zu decken: sie selbst und ihren Mann, ihren Sohn Charles und seine Verlobte Agnès. Arlette und ich würden in der Küche essen, zwischen den einzelnen Gängen.

»Charles? Sie haben mir doch gesagt …«

»Was habe ich gesagt?«

»Dass er mit der Armee fortgegangen ist.«

»Ja, er ist weg, natürlich ist er fort«, erwiderte sie verwirrt, »aber man weiß ja nie.«

Dann fing sie sich wieder: »Als ob ich mich dir gegenüber rechtfertigen müsste! Tu, was man dir sagt, arbeite, statt tausend Fragen zu stellen. Und lass dir das ein für alle Mal gesagt sein: Misch dich nicht in unsere Angelegenheiten ein! Verstehst du mich? Das gilt auch für dich«, wandte sie sich an Arlette, die am Spülbecken beschäftigt war.

Sie stieß plötzlich eine der Türen auf, die von der Küche wegführten, und drehte an einem Schalter. Licht fiel von einem fünf- oder vielleicht auch sechsarmigen Leuchter in ein Esszimmer, dessen Mobiliar mich sprachlos machte. Es waren nur ein Tisch und sechs Stühle, eine Kommode und ein Buffet, die aber wie neu aussahen und in einem mir unbekannten Stil gearbeitet waren. Diese Pracht erinnerte mich an ein Möbelgeschäft in Tarragona, das ich eines Tages mit meiner Mutter betreten hatte und dessen Duft nach Wachs, dessen spiegelnder Glanz und goldene Beschläge einen lang anhaltenden Eindruck von außergewöhnlichem Komfort und unglaublicher Erhabenheit bei mir hinterließen.

»Und, worauf wartest du?«

Ich stand wie angewurzelt auf der Schwelle zu diesem Zimmer, mit der Tischdecke über dem Arm, und versuchte mich davon zu überzeugen, dass diese Möbel ein wenig mir gehörten, dass ich sie so lange bewundern könnte, wie Madame Puech mich in ihrem Dienst haben wollte, sogar schon sehr bald, wenn ich auftragen würde.

»Soll sich die Arbeit etwa von alleine machen?«

Allerdings musste Madame Puech mich wollen, sagte ich mir. Und ich gab mir noch größere Mühe, mir den richtigen Platz des Bestecks, des Geschirrs und der schmiedeeisernen Kerzenhalter auf dem Tisch einzuprägen …

Woher ich die Kraft nahm, den Tisch zu decken, kann ich mir nicht erklären. Die Übelkeit kam in Wellen; die Gerüche, die aus den Töpfen aufstiegen, drehten mir den Magen um. Ich konnte mich nur aufgrund meines Willens, einen guten Eindruck zu machen, aufrecht halten. Gewissermaßen ein Überlebensreflex. Zu meiner eigenen Überraschung gelang es mir, und ich führte noch weitere kleinere Arbeiten aus, die Arlette mir auftrug.

Ich saß am Küchentisch und schälte Kartoffeln, als Schritte auf der Treppe zu hören waren, die zu den Schlafzimmern führen musste. Zwei abgetragene Pantoffeln, eine braune Cordhose, eine Jacke in demselben Farbton mit Flicken an den Ellenbogen: In dieser Reihenfolge nahm ich Monsieur Puech wahr. Ein kleiner untersetzter Mann mit einem argwöhnischen Gesichtsausdruck. Er blieb auf der letzten Stufe stehen und schaute mich lange an, mit einem Blick, wie unsere Nachbarn in Tarragona mich angesehen hatten, als ich auf das Gymnasium ging und mein Po und meine Brüste sich entwickelt hatten. Eine ganze Weile taxierte er mich auf diese Weise.

»So ist das also?«, sagte er schließlich mit einer Art höhnischem Grinsen.

»So ist es, wie Sie sagen«, erwiderte Arlette, ohne den Blick von ihrer Arbeit zu heben.

»Hat dich jemand nach deiner Meinung gefragt?«, brummte er.

Schließlich stieg er die letzte Stufe hinunter und wandte sich dabei schwankend um, was mir zeigte, wie gebrechlich er war. Er nahm die Zeitung, ging hinkend auf mich zu und setzte sich am Tischende ganz dicht neben mich. Er saß da und schaute mich an, ich spürte seinen Blick auf mir, auf meinem von Unterernährung gezeichneten Gesicht, auf meinen kranken Augen, meinen Musikerhänden, die so gut wie zu nichts nutze waren. Er sagte nichts, blieb völlig ausdruckslos, versenkte sich nur in die Zeitung, doch ohne zu wissen warum war ich davon überzeugt, dass er sein Urteil über mich gefällt hatte, gleich auf den ersten Blick. Und ich verlor das Bewusstsein.

Als ich meine Augen wieder aufgeschlagen hatte, brauchte ich eine ganze Weile, um den Faden wiederzufinden, der mich mit den Dingen und Geräuschen um mich herum verband. Ich war weder in unserem Haus in Tarragona noch in unserer Baracke im Flüchtlingslager. Schließlich kamen mir die Ereignisse des Tages bruchstückhaft wieder in den Sinn: die Abreise aus Argelès, das Umsteigen in den anderen Zug in Perpignan, die Befestigungsmauer …

»Fröhliche Weihnachten!«, hörte ich eine Stimme neben mir sagen.

Auf diese Weise machte ich Bekanntschaft mit Agnès, der Verlobten von Charles. Sie beugte sich über mich, streichelte mir die Stirn, ließ ihre Finger durch meine Haare gleiten, und ich sagte mir, dass nicht alles verloren war, dass sich vielleicht einiges bessern würde.

»Die Kartoffeln …«

»Sind gemacht, ruh dich aus«, antwortete sie auf Katalanisch mit einem lauten, hellen Lachen, das ihre schönen weißen Zähne zum Vorschein kommen und ihre Augen strahlen ließ.

»Weißt du, schon seit Ewigkeiten wissen sie sich in diesem Haus auch ohne dich zu helfen, da kommt es auf einen Tag nicht an.«

Ich lächelte, und Madame Puech entschied, dass dies ein Zeichen war: Meine Unpässlichkeit war vorbei, ich konnte den Dienst wieder aufnehmen.

»Zu Tisch!«, sagte sie mit vorgetäuschtem Schwung.

»Und Charles?«, fragte Monsieur Puech spöttisch grinsend.

»Du weißt doch, dass er niemals pünktlich ist. Wenn wir auf ihn warten müssten, würden wir niemals essen.«

»Nun, mein Mädchen«, fuhr sie fort und warf Agnès einen dieser ausweichenden Blicke zu, die ich seit Argelès beobachtet hatte. »Ich möchte nicht kalt essen.«

Agnès tat, als würde sie aufstehen, doch sobald ihre Schwiegereltern ihr den Rücken kehrten, setzte sie sich wieder neben mich.

»Ich werde dir meine Freunde vorstellen«, sagte sie zu mir halblaut auf Katalanisch. »Wir haben eine kleine Truppe zusammengetrommelt … eine Truppe, das ist ein großes Wort. Es ist schon gut, wenn wir bei den Vorstellungen sechs Jungen und Mädchen sind. Wir singen katalanische Lieder und tanzen in traditionellen Kostümen in den Dörfern des Conflent, manchmal auch weiter weg.«

»Des Conflent?«

»Das ist der Name der Region hier. Das Tal der Têt und seine Umgebung zwischen dem Roussillon und der Cerdagne, zwischen der Ebene und den Bergen.«

»Sie ist nicht einverstanden«, sprach sie weiter mit einer Kopfbewegung in Richtung Esszimmer. »Aber das ist uns egal«, fügte sie schulterzuckend und mit einem schalkhaften Lachen hinzu.

Ich hatte in Madame Puechs Stimme eine leichte Gereiztheit bemerkt, als sie ihre zukünftige Schwiegertochter erwähnte. Wenn sie den Namen ›Agnès‹ aussprach, hörte es sich an, als hätte sie ›Schlampe‹ oder ›Flittchen‹ gesagt. Nun verstand ich.

»Und Charles?«

»Was, Charles? Er … er hat seinen Platz am Tisch«, stammelte sie, als hätte sie einen Fehler begangen.

»Charles wird nicht kommen«, sagte sie nervös. »Er ist … ist an der Front und … anscheinend hat er uns vergessen. So ist es, er lässt nichts von sich hören, sagen wir es so.«

»Entschuldigung …«

»Du konntest es nicht wissen.«

Sie schaute mich einen Augenblick lang mit leicht geneigtem Kopf an und legte ihre Hand erneut auf meine Stirn.

»Das überkommt sie manchmal«, sagte sie mit einer Handbewegung zu ihrer zukünftigen Schwiegermutter hin. »Sie tut so, als wenn nichts wäre, als ob Charles immer noch da wäre«, fuhr sie fort und tippte sich mit dem Zeigefinger an die Schläfe, als wollte sie sagen, dass die Hausherrin in dieser Hinsicht ein wenig den Verstand verlöre.

»Manchmal …«

»Wir warten auf Sie«, schimpfte Madame Puech von der Schwelle des Esszimmers her. »Was heckt ihr aus?«

Agnès stand rasch auf; sie fürchtete sicher, dass Madame Puech unsere Unterhaltung mit angehört hatte. Wir waren beide so versunken gewesen, dass wir ihr Kommen nicht bemerkt hatten.

»Ich bin gleich da«, antwortete sie betreten. »Ich bereite nur noch einen Teller für Marie zu.«

»Kommen Sie. Arlette wird sich darum kümmern, wenn sie aufgetragen hat.«

Arlette hatte schlechte Laune. Fast schon ein dauerhafter Charakterzug von ihr, aber das wusste ich damals noch nicht und fragte mich, was ich falsch gemacht hatte, um diese Gereiztheit zu verdienen. War es wegen meines Schwächeanfalls? Weil ich ihr nicht die Hilfe zukommen ließ, die sie erwartete?

Wenn ich Arlette besser gekannt hätte, hätte ich gewusst, dass sie murrte wie andere atmeten, dass es keinen besonderen Grund für ihre Haltung mir gegenüber gab. Weil ich aber wollte, dass an jenem Abend alles vollkommen war, dass nichts diesen Heiligabend und meine Ankunft in diesem Haus trübte, setzte ich mich auf, sammelte meinen begrenzten Wortschatz zusammen und versuchte, sie in einem Gemisch aus Französisch und Katalanisch auszufragen.

Sie tat, als verstünde sie mich nicht, zwang mich aufzustehen, gab mir eine dampfende Suppenschüssel in die Hände und drängte mich zum Esszimmer hin.

Agnès war die Erste, die vom Tisch aufstand. Sie sang im Kirchenchor und hatte außerdem zugesagt, zu Beginn und am Ende der Messe Geige zu spielen. Eine Premiere in Villefranche, erklärte sie mir, als ich die Dessertteller abräumte.

»Geigenspiel in der Kirche! Das ist unglaublich«, sagte Madame Puech.

Sie sprach das Wort ›Geige‹ wie den Namen ihrer zukünftigen Schwiegertochter aus: mit einer missbilligenden, ja fast angeekelten Miene.

»Es wird doch auch Harmonium gespielt.« Zu mir gewandt fragte Agnès: »Kommst du mit?«

»O ja«, antwortete ich und trocknete mir die Hände vollends ab.

»Das ist nicht euer Ernst«, sagte Madame Puech und erhob sich so unvermittelt, dass ihr Stuhl umfiel.

»Ich kümmere mich um sie«, entgegnete Agnès. »Und ich bringe sie Ihnen zurück. Machen Sie sich keine Sorgen.«

»Kümmern Sie sich lieber um Ihre Angelegenheiten. Dieses Mädchen ist völlig erschöpft, sehen Sie das nicht? Sie muss sich ausruhen und braucht morgen all ihre Kräfte. Am Weihnachtstag mit der Arbeit zu beginnen ist nicht ohne.«

Sie ging uns mit klappernden Absätzen voran in die Küche … und ihre Selbstsicherheit schwand, als sie sah, dass das Geschirr gespült und Schüsseln und Gedecke weggeräumt waren.

»Émile«, rief sie verzweifelt.

»Hmm«, erklang ein Murmeln aus dem Esszimmer.

»Sag du es ihnen. Du bist doch das Oberhaupt der Familie.«

»Der Familie!«, erwiderte er und lachte schallend. »Das Oberhaupt der Familie! Von welcher Familie?«

»Von der Familie eben«, sagte sie irritiert. »Du, ich …«

»Du, ich, Charles … ist es so?«, entgegnete er mit einem unheimlichen Hohngelächter.

»Pah«, antwortete sie nur, zuckte mit den Schultern und drehte uns den Rücken zu. Sie senkte den Blick, wandte den Kopf und machte sich plötzlich am Herd zu schaffen, als wollte sie eine Schwäche verbergen, deren Ursache ich nicht ahnte.

»Was glaubst du?«, sprach er weiter und erschien auf der Schwelle zur Küche. »Dass du eine Spanierin an Weihnachten daran hindern wirst, in die Kirche zu gehen? Es ist heute viel günstiger, denk doch mal nach. Morgen hat sie Besseres zu tun.«

»Los, geht schon«, sagte er und machte eine Handbewegung, als wollte er uns aus seinem Haus jagen. »Und grüßt den Herrn Pfarrer von Émile Puech«, fügte er mit diesem höhnischen Lachen hinzu, das zu ihm zu gehören schien.

Woraufhin Agnès ihren marineblauen Umhang von der Garderobe nahm und nach kurzem Zögern auch ein großes schwarzes Tuch, das dort hing, und es mir über die Schultern warf.

Sobald wir draußen waren, hakte sie sich bei mir unter, und es war, als würde mir das Leben wieder zulächeln. Oh, es war ein zaghaftes Lächeln, blass wie die Wintersonne und noch verschüttet von der Verzweiflung über Teresas Tod und das Schwinden der letzten Dinge, die mir im Leben einen Halt gegeben hatten. Doch da war dieser Arm auf meinem Arm, dieser Mensch an meiner Seite, die Fürsorglichkeit, die ich von den Bewohnern Villefranches erhoffen konnte. Ich blickte zu den Fenstern auf und erahnte sie am Tisch in ihren Küchen sitzend, in dem bläulichen Licht, das von der Luftschutzbehörde vorgeschrieben war. Sicherlich würden sie alle ebenso hilfsbereit sein wie Agnès, genauso offen mir gegenüber. So flogen meine Gedanken dahin, während wir wie die Hirten zur Krippe in Bethlehem zur Kirche gingen, von einem Lichtschein geleitet, der die Dunkelheit vom oberen Teil der Straße her durchbrach und der Anordnung des Ministeriums trotzte. Er kam von einer Maueröffnung im Giebel der Kirche, die von innen erleuchtet war, und erinnerte an den Stern, der die Könige zu dem Stall geführte hatte, in dem das Jesuskind lag. War ich nicht auch eine Art König? Eine Reisende, die weit entfernt von ihrem Land ihren Weg suchte?

Auf der rechten Seite tauchte ein Platz auf, der mit kleinen kahlen Bäumen bepflanzt und von großen Häusern eingerahmt war. Dort schien die Dunkelheit undurchdringlich zu sein. Ich griff nach Agnès’ Arm und folgte ihr an einer Blendmauer entlang, durch ein von Steinsäulen flankiertes Tor, durch eine Tür, deren Angeln noch lange nach dem Aufstoßen quietschten, bis zu einem großen Kirchenschiff, das einige Stufen tiefer lag als der Platz und dessen Decke im Dunkel verschwand. Ein sanfter Windhauch zog durch das Bauwerk und trug Düfte von Wachs, Weihrauch und Bohnerwachs mit sich, als wolle er die Nüchternheit des nackten und massiven Steins mildern. Deine Kirche, sagte ich mir, von nun an ist das deine Kirche!

Agnès ging zu ihrem Chor, und ich setzte mich in die vierte oder fünfte Reihe, natürlich auf der Seite der Frauen. Der Chor begann sich einzusingen, und ich erkannte sofort Agnès Stimme in dem Missklang. Es hörte sich nicht wirklich falsch an, aber die Melodie war auf eine völlig ausdruckslose Reihe von Tönen reduziert, dominiert von den harten und trockenen Akkorden des Harmoniums. Das war in keiner Weise mit den professionellen Chören zu vergleichen, die ich in Konzerten und bei Proben im Verlauf meiner musikalischen Ausbildung gehört hatte.

Das Ende der Probe wurde von einem Vorfall überschattet, der mir im Gedächtnis haften blieb. Zwischen der Organistin und dem Pfarrer, der den Chor dirigierte, kam es zu einem Disput, als die beiden Sonaten für Geige und Orgel geprobt werden sollten, die für den Beginn und den Schluss der Zeremonie vorgesehen waren und den Spott Madame Puechs erregt hatten. Die Chorsänger hatten sich hingesetzt, Agnès ihre Geige ausgepackt, alle warteten … und die Dame weigerte sich zu spielen.

»Das Gotteshaus ist kein Konzertsaal«, wiederholte sie immer wieder als Antwort auf die Aufforderungen des Pfarrers.

»Sie waren aber einverstanden. Wir haben mehrere Male darüber gesprochen.«

»Nun, dann habe ich meine Meinung geändert.«

»In letzter Minute?«

»In letzter Minute.«

Die Diskussion wurde durch das Eintreffen der ersten Gläubigen unterbrochen. Sie nahmen in den Bankreihen Platz, die Frauen rechts, die Männer links, wie bei uns zu Hause. Schließlich trat der Pfarrer begleitet von zwei Chorknaben aus der Sakristei und die Messe begann. Ich folgte ihr mit ganzer Seele. Gott hatte meine Schwester und meine Eltern zu sich gerufen, aber er hatte mich aus dem Lager herausgeholt, in dem ich letztlich gestorben wäre. Er hatte mich in dieses Dorf geführt, zu dieser Agnès, die sich so um mich bemühte. Er hatte mir eine Schwester genommen und mir eine andere gegeben. Aus tiefstem Herzen betete ich und ergab mich seinem Willen. Manchmal fragte ich mich, ob ich nicht hätte im Lager bleiben und einfach sterben sollen. Das wäre sehr viel einfacher gewesen: kein Monsieur und keine Madame Puech, keine Einsamkeit in einem fremden Dorf, keine Sorgen über die Zukunft. Doch die Menschen um mich herum machten es sich zur Aufgabe, mich – ungewollt – in die Realität zurückzubringen: Ich war am Leben, kniete in der Kirche eines Dorfes, das bald meines sein würde. Ein neues Leben tat sich vor mir auf.

Am Ende der Messe stimmte der Pfarrer das Lied Minuit, chrétiens an, und die Gemeinde antwortete im Chor mit einer Überzeugung, die mir andere Weihnachten in Erinnerung rief, auf der anderen Seite der Berge. Dann bekreuzigten sich alle, verließen ihre Bankreihen und strömten durch die Gänge wie die Fluten dreier Bäche zum Ausgang hin. Sie beäugten mich im Vorübergehen, und einige lächelten mir zu.

Ich war so verwundert, dass ich nicht sofort die Zeichen sah, die Agnès mir von der Abendmahlsbank her machte. Ich ging zu ihr und sie zog mich mit zur Sakristei. Sie wollte mich dem Pfarrer vorstellen.

»Marie!«, sagte sie zunächst und zeigte auf mich.

»Unser Pfarrer!«, fuhr sie dann fort und wandte sich zu dem Priester.

»Im Namen von Sankt Jakob, unserem heiligen Patron, heiße ich Sie in Villefranche willkommen«, sagte er und segnete mich.

Er war ungefähr so groß wie ich, Agnès überragte ihn fast um einen Kopf, doch die Lebhaftigkeit seiner Bewegungen und die Tiefe seines Blicks ließen eine wirkliche Persönlichkeit erkennen. Ganz gewiss ein Mann von großer Güte, der jedoch wusste, wohin er wollte und wie er es schaffen würde, auch wenn er dabei Hindernisse aus dem Weg räumen musste.

»Marie spricht Spanisch. Oder Katalanisch«, bemerkte Agnès.

»Aber nein!«, erwiderte er heftig. »Mit mir wird Französisch gesprochen. Frankreich nimmt Sie auf, Marie«, sprach er weiter und bemühte sich, die Wörter gut zu artikulieren. »Wenn Sie seine Gastfreundschaft annehmen, sollten Sie ebenso seine Sprache, seine Gesetze, seine Gebräuche annehmen … und die Ansprüche seiner Pfarrer!«, fügte er mit Nachdruck hinzu.

Seine Sprache, seine Gebräuche, warum nicht? Ich hatte in der Schule ein wenig Französischunterricht gehabt, im Lager von Argelès ein bisschen dazugelernt, und was die Gebräuche anging, so unterschieden sich die Mitternachtsmesse, der Duft nach Kerzen und der Abendmahlswein, das Dekor der Schubladen und Schränke dieser Sakristei nicht sehr von dem, was ich bei uns gekannt hatte. Die Mädchen durften selbstverständlich nicht an den Altar, doch mein Vater hatte die Orgeln instand gehalten, sie auch öfter gespielt, und ich war ihm in alle Winkel unserer Kirche gefolgt. Sicher, Villefranche war nicht Tarragona. Mädchen in einer Sakristei zu empfangen und mit ihnen zu reden, während man die Stola und das Messgewand wegräumte, nein, das hätte es bei uns nicht gegeben. Doch die Atmosphäre war ein wenig dieselbe, die katalanische Herzlichkeit überwand alle Unterschiede.

»Ich spiele Harmonium«, sagte ich und untermalte die Worte mit einer Handbewegung.

»Sie können spielen! Aber das hätten Sie sagen sollen!«, rief der Priester aus und hob die Arme verzweifelt gen Himmel. »Sie hätten die Brévent ersetzen können und wir hätten unsere beiden Sonaten gehabt. Warum haben Sie nichts gesagt? Erklären Sie mir nicht, dass Sie schüchtern sind!«

Das waren zu viele Fragen, zu viele komplizierte Wörter.

»Nicht so schnell«, sagte Agnès. »Sie kann Ihnen ja gar nicht folgen.«

»Ah, das ist wahr. Sehen Sie, Marie, Sie verwirren mich. Also, Sie spielen tatsächlich?«

»Mein Vater unterhielt die Orgeln in unserer Gemeinde. Ich habe einiges von ihm gelernt.«

»Wirklich?«

»Eines Tages war er krank, und ich musste für ihn einspringen, einfach so, es gab keine andere Lösung. In solchen Fällen lernt man viel.«

»Wer das Größere kann, kann auch das Kleinere. Die Orgel, das Harmonium …«

»Er baute Cembali.«

»Aha!«, sagte der Priester und schaute mich ungläubig an.

Sie zogen mich in den Chorraum, klappten den Deckel des alten Instruments auf, und die ersten Tonleitern ließen mich mit den Zähnen knirschen.

»Nun?«, fragte er, meine Reaktion erforschend.

»Nun!«, antwortete ich mit skeptischer Miene.

Doch die Enttäuschung, die ich in seinem Gesicht las, veranlasste mich, meine Finger wieder auf die Tasten zu legen. Was dann trotz der Missklänge herauskam, ähnelte sehr einer Adaption von La maja y el ruiseñor – Das Mädchen und die Nachtigall.

»Der Herrgott schickt Sie«, rief der Priester aus, als das Echo des letzten Akkords im hintersten Winkel der Kirche verklungen war.

»Danke, mein Gott. Und danke, Marie«, fügte er hinzu und küsste mich auf die Wange.

Bei mir zu Hause hatte ich niemals gesehen, dass die Pfarrer Mädchen küssten und umarmten, vor allem nicht in der Kirche, doch ich war zu allem bereit und entschlossen, mich von nun an über nichts mehr zu wundern.

Sie wollten mehr über meine Talente wissen, aber ich wich ihren Fragen aus. Der Unterricht durch meinen Vater, mein erstes Instrument, das Konservatorium … nein, ich war noch nicht bereit, an diese Erinnerungen zu rühren. Der Krieg hatte die musikalische Seite meines Lebens auf brutale Weise verschüttet, und ich zwang mich von nun an, sie umzublättern. Ich musste mich anderswo umsehen, mir neue Freunde suchen, andere Motivationen, andere Interessen, die sich von den vorangegangenen so stark wie möglich unterschieden. Das war die einzige Möglichkeit, nicht verrückt zu werden. Es stellte für mich eine Frage von Leben und Tod dar. Wahrscheinlich spürten sie es, denn sie bedrängten mich nicht. Der Pfarrer trieb uns aus der Sakristei, und auf dem Rückweg sprachen Agnès und ich weder von Musik noch vom Chor.

»Monsieur Puech …«, begann ich, als wir uns wieder der Bäckerei näherten.

»Was ist mit Monsieur Puech?«

»Kennst du ihn näher?«

»Beunruhigt er dich?«

Andere hätten mich beschwichtigt, mit den Schultern gezuckt und die Frage vermieden. Nicht so Agnès. Sie kam im Weitergehen ganz dicht an mich heran und legte eine Hand auf meine Schulter, als wollte sie meine Befürchtungen bestätigen.

»Martha kommt zurück. Sie wird dich beschützen.«

»Martha?«

»Die Mutter von Félicie. Sie wohnen bei ihr, wusstest du das nicht? Émile hat nach dem Tod von Marthas Mann, dem Vater von Félicie, dessen Bäckerei übernommen, aber ihr gehört das Haus. Und sie wohnt natürlich noch dort. Im Übrigen wirst du sehen, dass sie den Haushalt führt.«

Madame Puech hatte mir Anweisungen gegeben. Die Tür des Ladens würde verschlossen sein, ich könnte durch die Hintertür hereinkommen, die ich sorgfältig zuschließen sollte, ehe ich in die Wohnung hinaufginge. Ich schob vorsichtig die Tür auf, glitt in den Raum … und konnte einen überraschten Aufschrei nicht zurückhalten. Eine Gestalt stand regungslos da, zwei Schritte entfernt, im Dunkel der Backstube.

»Gehört es sich, um diese Uhrzeit heimzukommen?«, vernahm ich eine Stimme.

»Alles in Ordnung?«, erkundigte sich Agnès durch die offene Tür.

»Alles in Ordnung!«, antwortete Madame Puech schroff.

Sie ging zur Tür und schob die Riegel auf eine derart wütende Weise vor, dass ich es mir nicht erklären konnte.

»Du musst leise sein«, sagte sie noch und stieß mich grob zur Backstube hin.

Das Mädchen und die Nachtigall

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