Читать книгу Ultramarin - Henrik Tandefelt - Страница 10
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ОглавлениеAm Morgen erwache ich unnötig früh, als Olli sich in der Küche zu schaffen macht. Er summt gut gelaunt eine Melodie, die ich nicht kenne. Ich stehe etwas neben mir. Man sollte einen schönen Abend in Finnland nicht damit verbringen, in der Sauna über das Leben zu philosophieren. Jedenfalls nicht bis zwei Uhr nachts.
Wir wollen auf der Veranda frühstücken. Obwohl ich keinen Appetit habe, decke ich mit schwerem Kopf den Tisch. Ich bin ja selber schuld. Am Horizont auf der gegenüberliegenden Seeseite türmen sich Wolkenberge auf, aber die interessieren mich jetzt nicht. Ich habe genug mit meinen Kopfschmerzen zu tun.
Als ich mit dem Decken fertig bin, gehe ich zum Wasser hinunter. Ich dachte, die frische Luft würde mir gut tun, aber das war ein Irrtum. Aus der Ferne dringt dumpfes Grollen über den See. Mal sehen, ob die dunklen Wolken näher kommen.
Ein Stück vom Haus entfernt hat ein Auto angehalten. Vermutlich bekommen wir Besuch. Der Mann wirkt nicht besonders groß und trägt eine weiße Mütze. Schwer zu sagen, wie alt er sein mag, doch er wirkt ziemlich jung, keinesfalls über dreißig. Er scheint mich nicht gesehen zu haben und geht sofort in die Küche. Zwei Minuten später kommen er und Olli auf die Veranda.
»Im Wald wurde eine männliche Leiche gefunden. Wenn wir uns beeilen, kommen wir noch vor den Sachverständigen aus St. Mickel an«, erklärt Olli. »Kommst du mit, Josef?«
Ich schaue die beiden fragend an.
»Das ist übrigens Taisto, Taisto Virtanen, ein Polizist aus Sysmä. Dort teilt er sich ein Büro mit seinen beiden Kollegen Reijo und Rauno.«
Während wir uns die Hand geben, denke ich, dass er wirklich nicht älter als dreißig sein kann. Ich schnappe mir noch rasch meine Kamera, bevor wir uns auf den Weg machen. Taisto nimmt uns in seinem Wagen mit und gibt mächtig Gas.
»Wer hat das entdeckt?«, frage ich. Wörter wie »Toter« oder »Leiche« wollen mir an einem so schönen Sommermorgen nicht über die Lippen.
»Ein schwedischer Tourist. Vielleicht hatte er ein menschliches Bedürfnis. In diesem Wald geht man eigentlich nicht spazieren«, entgegnet Taisto, während er auf einen größeren Weg abbiegt und das Tempo erhöht. »Mehr weiß ich auch nicht.«
»Wie heißt der denn?«, frage ich.
»Rolf Nodén, ein Rentner aus Uppsala.«
Wenn ich mich nicht irre, sind wir in Richtung Norden unterwegs. Nach ungefähr zwölf Kilometern halten wir an, steigen aus und folgen Taisto, der links in den Wald einbiegt. Nachdem wir uns eine Weile durch von Mücken bevölkertes und fast undurchdringliches Gestrüpp gekämpft haben, erreichen wir das Ufer eines Weihers. Dort steht ein Mann und wartet auf uns. Taisto begrüßt ihn, dann führt der Mann uns zum Fundort.
Von dem Körper ist nicht mehr viel zu erkennen. Neben einem Ameisenhügel unter einer Fichte liegen mehrere Zweige. Darunter ist ein Schädel zu erahnen, der aus einem ausgebleichten Nylonhemd herausschaut. Von der Hose sind nur noch Reißverschluss, Gürtel und Knöpfe übrig geblieben. Dort, wo sich vermutlich die Hosentaschen befanden, liegen ein paar Münzen, finnische Mark, sowie eine große, altmodische goldene Taschenuhr mit Deckel und Kette. Auf der Rückseite ist in finnischer Sprache eingraviert: Für Dimitri von Jens mit ewigem Dank.
Einige Knochen liegen in der Gegend verstreut, wahrscheinlich von Tieren verschleppt. Bei näherem Hinsehen findet man unter den Zweigen noch Stoffreste, die einst die Leiche bedeckten. Wir ziehen uns zurück, um keine Spuren zu verwischen.
Natürlich können wir nicht völlig sicher sein, aber fünfundneunzig Prozent sind ja auch schon was. Es ist Dimitri, der gefunden wurde, doch wie er hierher kam, ist eine offene Frage. Hatte man ihn misshandelt und einfach aus einem fahrenden Auto geworfen? War er daraufhin in den Wald gekrochen?
»Wo ist der Mann, der ihn gefunden hat?«, fragt Olli.
»Auf dem Heimweg nach Uppsala. Wir haben seine Aussage schon zu Protokoll genommen.«
Während wir auf die Polizisten warten, die mit dem Auto aus dem entfernten St. Mickel kommen, durchstreife ich ein wenig die Gegend. Kämpfe mich durch den Wald, bis ich die nächste Straße erreiche. Überlege, wer wohl die Ermittlungen in diesem nicht ganz frischen Fall übernehmen wird.
Weder Pfade noch Wege, kein Haus weit und breit. Ein vergessenes, unberührtes, nahezu undurchdringliches Waldstück, das offenbar keinem Forstwirtschaftsunternehmen gehört. Sicherlich wird auch dieser alte Fall, in dem es weder Spuren noch Zeugen gibt, rasch zu den Akten gelegt werden.
Nahe der Straße, ein paar Kilometer weiter nördlich, glaube ich, stoße ich auf ein Haus. Ein unansehnliches Haus mit ebenso hässlichen Nebengebäuden und einer Garage. An Wohnlichkeit oder architektonische Finessen war hier kein Gedanke verschwendet worden. Auf dem Briefkasten an der Straße steht Suominen. Der Schornstein raucht. Ich klopfe an. Eine Frau mittleren Alters schaut aus dem Fenster. Offenbar sehe ich halbwegs vertrauenswürdig aus, denn sie öffnet tatsächlich. Ich berichte in aller Kürze, was geschehen ist, und frage sie, ob sie etwas Verdächtiges gehört oder gesehen habe.
Sie bittet mich wortlos herein. Sie greift nach einem Notizblock, und noch während wir den Flur hinuntergehen, notiert sie darauf etwas auf Finnisch:
Vor fünf oder sechs Jahren hat ein fremder Mann sein Fahrrad in der Nähe des Hauses stehen lassen. Vielleicht ist er es, der gefunden wurde. Er ist nie zurückgekommen, um sein Fahrrad zu holen. Mindestens ein halbes Jahr lang war es unter dem Schnee begraben. Dann habe ich es in den Schuppen gestellt, damit es nicht völlig verrostet.
Wir setzen uns in ein überraschend gemütliches Wohnzimmer. Jedenfalls steht das Innere des Hauses in deutlichem Kontrast zu seinem Äußeren. Ich will gerade etwas sagen, da geht mir durch den Kopf, dass sie möglicherweise auch taub ist und mir jedes Wort von den Lippen abliest. Ich wende mich ihr zu, damit sie meinen Mund sehen kann, zucke die Schultern und sage, dass die Identität des Mannes noch ungeklärt sei. Dann frage ich sie, ob sie irgendetwas beobachtet hat, das sie in der Vermutung bestärkt, dass wir tatsächlich den Mann mit dem Fahrrad gefunden haben. Während ich die Frage formuliere, bemerke ich, dass sie meine Lippen nicht anzusehen braucht. Sie hat mich verstanden, nickt und notiert:
Ich bin mir nicht sicher, aber kurz nachdem der Mann sein Fahrrad hier abgestellt hatte, fuhr ein Auto vorbei. Dort, wo das Fahrrad stand, verlangsamte es seine Fahrt. Vermutlich hielt er hinter der nächsten Kurve an, denn eine Stunde später hörte ich beim Holzholen, wie ein Motor angelassen wurde. Andere Autos sind während dieser Zeit nicht vorbeigefahren.
Sie gibt mir den Block, nimmt ihn jedoch sogleich wieder zurück und schreibt weiter:
Ich habe nichts gehört, und bisher hat keiner nach ihm gefragt, aber manchmal höre ich Schüsse im Wald. Ich glaube, da jagt jemand Kleinwild auf unserem Grund.
Gut. Dann brauche ich danach nicht mehr zu fragen. Jetzt sollen sich erst mal die Polizisten aus St. Mickel der Sache annehmen. Dann sehen wir weiter. Ich frage sie, ob sie sich an die Marke des Autos erinnert, das hinter der Kurve anhielt.
Ja, es war ein Dodge Van. Ein älteres Modell. Hellgrau, aber da kann ich mich irren. Er war sehr schmutzig und könnte auch beige oder weiß gewesen sein. Ich weiß nicht, wie viele Personen in dem Auto waren.
Ich frage sie, ob ich ihre schriftlichen Antworten mitnehmen darf, und sie bejaht. Dann sage ich ihr, dass sie vermutlich bald Besuch von ein paar Polizisten bekommen wird, die sie befragen werden. Sie nickt und sieht dabei ziemlich fröhlich aus. Wahrscheinlich bekommt sie nicht oft Besuch, denke ich mitleidig.
Kommen Sie an einem Samstag wieder, wenn Sie wollen. Dann ist Antero, mein Mann, auch hier. Er arbeitet derzeit in der Nähe von Kajanu, kommt aber am Wochenende nach Hause. Ihm gehört der alte Wald. Seit ich ihn kenne, also in den letzten dreißig Jahren, hat er dort keinen Finger gerührt, aber nun ist es wohl an der Zeit.
»Ich werde es versuchen«, entgegne ich. »Und die Polizei wird sich in jedem Fall mit Ihrem Mann in Verbindung setzen.« Mit diesen Worten stehe ich auf und ziehe mich in den Flur zurück.
Mögen Sie vielleicht eine Tasse Kaffee?, schreibt sie, doch leider habe ich keine Zeit mehr. Sonst riskiere ich noch meine Mitfahrgelegenheit. Außerdem werden die Beamten aus St. Mickel bald kommen.
Ich verabschiede mich und trete den Rückweg an, immer die Straße entlang. Denke an Bella, die allein in Helsinki ist. Ich gehe an der Stelle vorbei, an der vermutlich der Dodge gestanden hat. Als ich wenig später Taisto begegne, erzähle ich ihm von meinem Gespräch mit der Frau. Darum würden sich seine Kollegen aus St. Mickel kümmern, sagt er.
Nach weiteren zwanzig Minuten sind sie da, seine Kollegen. Taisto, der offenbar einige von ihnen persönlich kennt, geht voraus. Ich folge in gemessenem Abstand. Nach einer Weile lassen wir sie am Fundort allein.
»Tja, jetzt kann uns wohl niemand mehr helfen, das Verbrechen an Bäck aufzuklären«, seufzt Olli auf dem Rücksitz. Taisto fährt schweigend.
»Das ist alles vor meiner Zeit passiert. Ich bin vor zirka zwei Jahren hierher gekommen. Hast du Bäck eigentlich gekannt?«, fragt Taisto, während er Olli im Rückspiegel anschaut.
»Alle hier in der Gegend wussten, wer er ist, doch kaum jemand kannte ihn näher. Soweit ich weiß, hatte er auch keine Verwandten. Kann mich jedenfalls nicht erinnern, dass das bei den Ermittlungen eine Rolle spielte«, antwortet Olli.
»Aber gekannt hast du ihn doch, oder?«, wiederholt Taisto seine Frage.
»Ich war ein paar Mal bei ihm in der Praxis. Einmal, als meine Jüngste von einer Schlange gebissen worden war; sonst waren es Masern oder andere Kinderkrankheiten, die immer während der Sommerferien ausbrachen. Zu Kindern war er immer sehr nett«, sagt Olli.
»Und zu dir?«, fragt Taisto.
»Nun, er war nicht direkt unfreundlich, aber ziemlich mürrisch«, entgegnet Olli.
»Dacht ich mir’s doch.«
»Hatte er irgendwelche Feinde, ich meine Leute, die ihn so hassten, dass sie in der Lage gewesen wären, bei ihm einzubrechen und ihn zu misshandeln?«, frage ich ins Blaue hinein.
»Glaub ich nicht. Die meisten Leute hielten sich von ihm fern«, brummt Olli, fährt die Scheibe hinunter und entlässt eine fette Bremse nach draußen, ehe er weiterspricht: »Der einzige Verdächtige ist Dimitri – obwohl sie so nah beieinander wohnten, aber was weiß ich, was für ein Verhältnis sie zueinander hatten. Die Leute hatten Angst vor Jens Bäck. Er muss seine erwachsenen Patienten ziemlich schroff behandelt haben und war allgemein bekannt für sein ungehobeltes Auftreten. Dennoch war er ein geschätzter Arzt, der sicher den meisten Leuten in dieser Gegend irgendwann mal geholfen hat.«
»Stimmt, er war ein bekannter, nahezu legendärer Griesgram«, bestätigt Taisto. »Das hab sogar ich gehört, obwohl ich noch nicht lange hier wohne.«
»Griesgram ist vielleicht der falsche Ausdruck«, entgegnet Olli, »aber unbequem und stur soll er gewesen sein. Legte wohl auch wenig Wert auf Kontakte mit anderen Menschen und pflegte keine Freundschaften, soweit mir bekannt ist.«
»Weder männliche noch weibliche?«
»Nein. Nur die Kinder mochte er außerordentlich gern und war wie ein Engel zu ihnen. Die Ermittlungen haben jedoch keinen einzigen erwachsenen Bekannten in dieser Gegend zutage gefördert. Allerdings war er ziemlich viel auf Reisen und pflegte seine sozialen Kontakte möglicherweise woanders. Vielleicht gab es befreundete Ärzte?«
»Was ist mit dem Internet? Hatte er einen Computer?«
»Das haben wir natürlich überprüft. Er hatte zwar einen Internetzugang, hat ihn jedoch nie zum Surfen benutzt. Dabei ist es an sich schon ungewöhnlich, dass Leute in seinem Alter einen Computer haben. Er war wohl in jeder Hinsicht ein Original, was ja auch der absolute Mangel an Einrichtungsgegenständen in seinem Haus zeigt. Das allein hätte viele Leute doch schon abgeschreckt. Er war wirklich sehr speziell.«
»Und wie sah seine Praxis aus?« Der schrullige Arzt interessiert mich immer mehr.
»Ziemlich normal, soweit ich mich erinnere. Der Ermittlungsbericht geht darauf nicht ein. Doch sein Wohnhaus muss schier unglaublich ausgesehen haben«, fügt Olli kopfschüttelnd hinzu und erzählt ein paar Einzelheiten. Das meiste hört sich zwar nach Klatsch und Tratsch an, aber immerhin ...
Bäck hatte nahezu sein gesamtes Berufsleben auf seinem Hof Hiitelä verbracht. Von einer Frau, Verlobten oder Freundin hatte man nie etwas gehört oder gesehen. Das Ambiente seines Hauses gab Anlass zu manchen Gerüchten, die jedoch niemand aus eigener Anschauung bestätigen konnte. Auch rätselte man, woher Bäck ursprünglich gekommen war. Die Ermittlungen der Polizei ergaben schließlich, dass er aus Helsinki kam. Er galt allgemein als tüchtiger und erfahrener Arzt, daran bestand nicht der geringste Zweifel. Wer ihn als Patient aufsuchte, dem wurde geholfen. Dennoch gingen viele Leute aus der Gegend zu anderen Ärzten, auch wenn sie dafür eine längere Fahrt in Kauf nehmen mussten. Je älter er wurde, desto mehr Angst flößte er den Menschen ein. Seine Zunge wurde immer spitzer, sein Humor schärfer, die Umgangsformen wurden rauer. Nur die Kinder bekamen davon nichts zu spüren. Sie behandelte er weiterhin mit derselben Fürsorglichkeit und Behutsamkeit wie eh und je. Die Kinder liebten ihn.
»Er hätte Kinderarzt werden sollen, aber wie dem auch sei, das Merkwürdigste, vor allem auf seine alten Tage, war doch sein Lebensstil. Meterhohe Zeitungs- und Bücherstapel, dazwischen nur noch schmale Gänge. Ab und zu erkannte man Teile der einstigen Einrichtung, die obere Kante einer Standuhr, einen schmutzigen Vorhang oder die Ecke eines Bilderrahmens. Und durch all dieses Chaos watschelten die Enten, wenn man den Spuren glauben darf«, berichtet Olli.
»Das ganze Haus war in einem erbärmlichen Zustand«, bestätigt Taisto. »Die Käufer haben wohl unterschätzt, was da auf sie zukommt, und es bald wieder abgestoßen. Jetzt steht es schon seit Jahren leer. Sie hätten es an mich verkaufen sollen«, seufzt er. »Ich hätte es gerne instand gesetzt.«
»Woher weißt du, wie es bei ihm innen aussah?«, frage ich Taisto.
»Weil meine Eltern Bäck mal besucht haben, ungefähr zwei Jahre vor seinem Tod. Mein Vater ist Immobilienmakler. Bäck hatte damals mit dem Gedanken gespielt, den Hof zu verkaufen und nach Lahti zu ziehen. In eine Wohnung nahe dem Altersheim. Er sagte, er wolle auf alles vorbereitet sein. Er war ja auch schon fast achtzig«, erklärt Taisto hinter dem Steuer.
»Es war also nicht dein Vater, der sich um die Auflösung des Haushalts gekümmert hat?«, frage ich sicherheitshalber.
»Nein, Gott sei Dank nicht«, entgegnet er, worauf Olli den Bericht fortsetzt:
»Der gesamte Hausrat wurde versteigert, der Rest landete auf der Müllhalde. Zunächst war der Hof von einer Familie gekauft worden, die ihn restaurieren wollte. Aber sie waren noch nicht weit gekommen, als sie es aufgaben und ihn wieder verkauften. Die nächsten Eigentümer werkelten ebenfalls ein bisschen herum, bis auch sie das Handtuch warfen.«
»Heute gehört er der Kommune. Wenn ich richtig informiert bin, soll auf dem Grundstück ein Kunst- und Kulturzentrum entstehen. Die Lage ist ja wirklich sehr schön«, ergänzt Taisto.
»Gibt es jemanden aus der Gegend, der etwas vom Hausrat ersteigert hat?«, frage ich.
»Aber ja!«, antwortet Taisto stolz. »Für zehn Kronen habe ich einen hübschen schwarzen Spazierstock gekauft. Und jetzt halt dich fest! Zu Hause hat meine Frau entdeckt, dass es sich gar nicht um einen gewöhnlichen Spazierstock handelt: Der hat eine eingebaute Klinge. Eine richtige Mordwaffe ist das«, sagt er lachend.
»Eine Klinge?«
»Ja, man kann das Ende abschrauben und eine siebzehn Zentimeter lange Klinge herausziehen. Die ist nicht nur blank und scharf, sondern auch sehr hübsch, hergestellt in Toledo, mit einer Unmenge von Verzierungen. Ich zeig sie dir, wenn wir bei mir sind«, sagt Taisto.
»Wird höchste Zeit, dass wir was in den Magen kriegen«, grummelt Olli. »Wegen deines Totenkopfs haben wir noch nicht mal frühstücken können ...«
»Keine Sorge, ich kümmere mich schon.« Taisto ruft seine Frau an und erklärt ihr, wir seien alle fürchterlich ausgehungert. Kurz vor Sysmä biegt er auf einen kleinen Weg ab und parkt vor einem Neubau. Das Haus steht nahezu einsam im Wald. In einiger Entfernung sieht man zwei Nachbarhäuser durch die Bäume schimmern. Es ist eine hübsche kleine hellgraue Villa mit weißen Eckbalken. Davor befinden sich ein gepflegter Rasen, eine Fahnenstange sowie eine Doppelgarage, in der ein älterer Ford Escort steht.
»Virpi ist Krankenschwester und arbeitet meist nachmittags und abends. Kann also sein, dass sie’s ziemlich eilig hat ... kommt rein, Jungs!«
Wir treten uns sorgfältig die Füße ab und stellen unsere Schuhe auf den Flur. Taistos Frau streckt den Kopf aus der Küche. Sie muss ein paar Jahre jünger sein als er.
»Essen ist gleich fertig!«, sagt sie und begrüßt uns, bevor wir von Taisto ins Wohnzimmer geführt werden.
In einem Bücherregal, in dem überwiegend gähnende Leere herrscht, ruht auf einem kleinen schwarzen Holzgestell der elegante Spazierstock. Taisto nimmt ihn herunter, dreht an einem Ende, und schon hat er einen kleinen Degen in der Hand.
»Nicht schlecht, oder? War bestimmt mal zur Selbstverteidigung gedacht«, mutmaßt er.
»Oder um zu töten«, sagt Olli.
»Das Alter lässt sich nur schätzen. 18. Jahrhundert, würde ich sagen«, meint Taisto stolz.
Ich selbst tendiere eher zum ausgehenden 19. oder beginnenden 20. Jahrhundert. Aber wer weiß. Im Grunde habe ich keine Ahnung. Eine Verteidigungswaffe hatte Bäck jedenfalls besessen, doch vermutlich lag der kleine Degen unter Zeitungsstapeln und Gerümpel verborgen oder befand sich in einer unerreichbaren Kommodenschublade, als er ihn gebraucht hätte.
Nachdem wir Taistos Auktionserwerb ausgiebig bewundert haben, ist auch schon das Essen fertig. Virpi bittet um Entschuldigung für ihre Eile, aber sie muss gleich zur Arbeit. Daher isst sie auf die Schnelle. Wir anderen plaudern in Seelenruhe, doch auch Taisto sitzt ein Termin im Nacken. Er muss die Kinder von der Schule abholen und zu ihrer Oma bringen. Er tut das mehr aus Spaß, erklärt er. Die Großmutter wohnt ganz in der Nähe der Schule. Wir begleiten ihn und lernen die Kinder, zwei gesprächige Mädchen, kennen, ehe uns Taisto zu Ollis Sommerhaus zurückfährt. Zum Müßiggang hat er keine Zeit, jetzt, da eine Leiche in seinem Distrikt aufgetaucht ist.
»Als Dimitri starb – falls es sich bei dem Toten wirklich um Dimitri handelt –, gehörte diese Gegend zum Polizeidistrikt von St. Mickel«, erklärt Olli. »Deshalb sind die Polizisten von dort gekommen. Heutzutage sind eigentlich die Kollegen aus Heinola zuständig.«
»Warum Heinola?«, frage ich in Unkenntnis des finnischen Polizeiwesens.
»Weil alles neu organisiert worden ist. Wenn’s dich interessiert, erkläre ich dir gern die Paragrafen und Reichstagsbeschlüsse.«
»Nicht nötig, ich frage mich nur, wer für den Fall eigentlich zuständig ist. Wenn ich mich nicht irre, liegt Heinola doch ein gutes Stück weiter südlich. Die Polizisten kamen aber aus St. Mickel, das noch weiter weg ist, in Richtung Osten.«
»1996 sind die Bezirksgrenzen neu gezogen worden, nachdem man dreißig Jahre darüber diskutiert hat und mit tausend Kompromissen lebte. Vor der Reform gab es in Finnland über zweihundert Polizeidistrikte, davon sind sechsundneunzig übrig geblieben. In Schweden sind es, glaube ich, einundzwanzig«, sagt Olli und fügt beiläufig hinzu, dass die Aufklärungsquote in Finnland erheblich höher sei als im westlichen Nachbarland. Mein Erstaunen veranlasst ihn zu einem ausschweifenden Bericht.
»In Finnland werden gut 59% aller Verbrechen aufgeklärt, in Schweden ungefähr 26«, erklärt Olli und präzisiert: »Ich spreche von Verbrechen gegen das Strafgesetzbuch. Nimmt man alle Vergehen als Maßstab, ist die Aufklärungsquote noch besser und dürfte bei gut 70% liegen. Frag mich nicht, wie das errechnet wird«, lacht er, »damit habe ich nichts zu tun.«
»Ist ja ein ganz schöner Unterschied. In Finnland Verbrecher zu sein ist offenbar kein Vergnügen.«
»Ach, wer weiß, vielleicht geht auch alles auf einen Rechenfehler zurück. Wie die Zahlen zustande kommen, weiß ich wirklich nicht, aber die Relation wird schon ungefähr stimmen. Nein, Ganoven haben’s wirklich nicht leicht bei uns.«
»Hoffen wir, dass sich das rumspricht. Aber wer ist nun für diesen Fall zuständig?«
»Offiziell wohl St. Mickel, aber ein Großteil der praktischen Arbeit wird sicher von den Kollegen vor Ort erledigt.«