Читать книгу Ultramarin - Henrik Tandefelt - Страница 11

6

Оглавление

Manchmal muss man sich schon wundern, was man alles mitmacht. Zumindest für mich war es das erste Mal, dass ich ein Skelett im Wald gesehen habe.

Doch selbst ein Profi wie Olli wirkt ein wenig bedrückt. Er steht schweigend am Herd und bereitet unser Abendessen zu: Hechtfrikadellen nach Art des Hauses.

Der Nachmittag war strahlend schön gewesen. Wir hatten nichts Bestimmtes getan. Gebadet. Gefaulenzt. In der Zeitung geblättert. Ein bisschen über Dimitri geredet und über sein Ende im Wald spekuliert.

Wir wissen nicht mehr von ihm, als dass er bei Bäck gewohnt und gearbeitet hat. Sich um den Hof, die Tiere und den Wald gekümmert hat. Bäcks rechte Hand. Bis er verschwand. Niemand kennt die näheren Umstände, doch liegt ein Zusammenhang mit Bäcks Tod auf der Hand. Glauben wir zumindest. Mit dem Fahrrad, mitten im Winter? Zumindest das Warum scheint geklärt zu sein. Bleibt die Frage nach dem Wohin.

Wohin wollte er mit dem Fahrrad? Hatte er jemanden treffen wollen?

»Ist schon ein komisches Gefühl für einen Polizisten«, sagt Olli, um seine Wortkargheit zu erklären. »Da wird jemand ganz in deiner Nähe umgebracht, und mit den Ermittlungen hast du nichts zu tun.«

»Warten wir ab, was deine Kollegen aus St. Mickel herausfinden. Und wer verbietet uns denn, eigene Überlegungen anzustellen? Soviel ich weiß, ist es nicht verboten, einen Mörder zu finden, auch wenn man nicht mit der Suche beauftragt wurde.«

»Stimmt schon ...«

»Sag mal, hältst du es eigentlich für möglich, dass die Uhr gestohlen wurde? Dass der Tote ein anderer war? Weiß irgendjemand, wo Dimitri herkam? Vielleicht gibt es Verwandte, die benachrichtigt werden sollten.«

»Nicht dass ich wüsste. Bisher ist rein gar nichts über ihn bekannt. Niemand weiß, wie lange er sich ohne Visum ihn Schweden aufgehalten hat. Diese Gegend ist ja nicht sonderlich dicht besiedelt. Da sollte es einem nicht so schwer fallen unterzutauchen«, entgegnet Olli und stellt die Hechtfrikadellen auf den Tisch.

»Vielleicht hatte er eine Freundin oder ist mal zum Zahnarzt gegangen. Irgendjemand wird ihn doch wohl gekannt haben.«

»Wir wissen es nicht. Und ich glaube auch nicht, dass der Gerichtsmediziner aus dem Skelett noch viele Erkenntnisse ziehen kann. Soweit ich das erkennen konnte, hat er eine Kugel in die Brust bekommen. Vermutlich eine Hinrichtung. Eine Kugel direkt ins Herz. Zwei Rippen sowie das Brustbein waren gebrochen. Wenn er erschossen wurde, wie ich glaube, dann starb er vermutlich an Ort und Stelle«, sagt Olli.

»Vielleicht konnte er sich dort hinschleppen, wo wir ihn gefunden haben.«

»Mit einer Kugel im Herzen?«

»Was ist mit Selbstmord?«

»Glaub ich nicht. Warum hätte er dann so weit mit dem Fahrrad fahren, sich durch das Gestrüpp kämpfen und unter einer Fichte verstecken sollen? Nein, nein, Selbstmord sieht anders aus.«

»Aber all seine Sachen? Wenn er bei Bäck auf dem Hof wohnte, dann muss er doch auch persönliche Dinge besessen haben.«

»Was glaubst du eigentlich, was die Polizei getan hat, nachdem Dimitri verschwunden war? Natürlich sind seine Sachen durchsucht worden, Stück für Stück. Das hat ungefähr drei Minuten gedauert. Wenige Kleidungsstücke, ein paar Bücher, Zeichnungen, Seife, Handtücher – nichts, was auch nur im Geringsten Aufschluss über seine Identität geben könnte. Allerdings war er ein ziemlich begabter Zeichner.«

»Was hat er gezeichnet?«

»Tiere, die Natur, den Hof, Stillleben, Porträts von Jens Bäck.«

»Wie merkwürdig«, murmele ich, während ich den Tisch decke.

»Und doch hat er keinerlei Spuren hinterlassen. Wir haben natürlich schon damals bei unseren russischen Kollegen angefragt, aber das hat auch nichts gebracht. Als hätte er nie existiert, und doch scheint ihn jemand gut genug gekannt zu haben, um ihm eine Pistole auf die Brust zu setzen und eine Kugel ins Herz zu jagen. Da kriecht man nirgends mehr hin. So, und jetzt will ich nicht mehr darüber reden. Lass uns einfach essen und an etwas anderes denken. Vielleicht kommt ja was Schönes im Fernsehen heute Abend ...«

Das Thema zu beenden fällt mir zwar nicht leicht, aber die Hechtfrikadellen sind wirklich nicht zu verachten, sie schmecken sogar ausgezeichnet. Und was das Fernsehprogramm angeht, haben wir ebenfalls Glück: ›Alarm im Weltall‹, ein Film von Fred M. Wilcox aus dem Jahr 1956. Vor vielen, vielen Jahren habe ich ihn schon mal gesehen. Ein amerikanischer Astronaut findet im Jahr 2200 auf einem fernen, technisch fortschrittlichen Planeten einen dort gestrandeten wahnsinnigen Wissenschaftler, dessen Gedanken zerstörerische Wirkung haben. Er verliebt sich in dessen Tochter und kann sich mit ihr auf die Erde retten. Ich glaube, das war der erste Film mit rein elektronischer Musik. Über die Qualität des Films lässt sich streiten, aber er macht uns Spaß und bringt uns auf andere Gedanken.

Nach dem Weltraumabenteuer trinken wir Tee, und ich sage Olli, dass ich morgen früh nach Hause fahre. Im Moment bleibt uns doch nichts zu tun. Bella und die Hunde brauchen mich, außerdem kann ich ja jederzeit wiederkommen.

Ich spüre, dass der Fall Bäck und Dimitris Tod mich so schnell nicht loslassen werden. Ich muss recherchieren. Jedenfalls ein bisschen.

Am nächsten Morgen verabschiede ich mich, steige ins Auto und trete die Heimreise an. Fahre auf dem kürzesten und schnellsten Weg nach Helsinki, wo ich in den Hägnashallen noch ein paar Blätterteigpasteten kaufe, ehe ich zu Hause aufkreuze. Die kleine Wohnung wirkt verdammt leer. Ich lege meine Einkäufe in den Kühlschrank und mache mir rasch etwas zu essen. Haferflocken mit Sauermilch, die ein kaltes Gefühl im Bauch hervorruft.

Dann denke ich nach.

Zwei Menschen sind tot. Zwei Menschen, die auf demselben Hof lebten und wohl ungefähr zur selben Zeit starben. Das konnte kein Zufall sein. Und warum war Dimitri überhaupt verschwunden? Vermutlich hatte er alles mit angesehen. Hatte sie beobachtet und glaubte oder wusste ... wusste, dass eigentlich er das Opfer sein sollte. Dass er ermordet werden sollte und Bäck dem Mörder nur in die Quere kam und deshalb mit dem Leben bezahlen musste. Was sollte es denn für einen Grund geben, einen mürrischen alten Landarzt zu töten? Auch war es ja im Grunde kein Mord, sondern zunächst Körperverletzung gewesen. Vielleicht hatte man aus Bäck herausprügeln wollen, wo Dimitri sich aufhielt. Vielleicht hatte er die Antwort verweigert. Dann stahl der Täter die Bilder, um einen Einbruch vorzutäuschen. Lebte Dimitri bei Bäck das Leben eines Eremiten mit Pferden, Hühnern und Enten, weil er hatte untertauchen müssen? Weil er vor der russischen Mafia geflüchtet war? Es fällt mir schwer, daran zu glauben. Wer würde sich schon jahrelang auf dem einsamen Hof eines exzentrischen Arztes verstecken?

Wir wär’s mit Dimitri als desertiertem Geheimagenten oder entlaufenem Novizen eines orthodoxen Klosters in Karelien? Haha, träum weiter, Josef!

Als ich gerade erwäge, zum Hörer zu greifen und Olli anzurufen, stürmen die Hunde samt Bella und einem Italienisch sprechenden Herrn in die Wohnung. Verdattert stelle ich mich vor, während Muffins und Tipsa begeistert über mich herfallen. Wenige Minuten später geben sie mir dann Gelegenheit, mich unserem Gast zuzuwenden.

»Enrico Malipiero, Violine ...«

Er ist rundlich und kurz gewachsen. Reicht Bella gerade bis zu den Achseln. So um die sechzig, würde ich schätzen. Er schüttelt mir strahlend und temperamentvoll die Hand.

»Bella on puhunut teistä«, sagt er mit kräftigem italienischem Akzent. Sein Finnisch ist noch schlechter als meines.

Er fährt mit einer Mischung aus Italienisch und Englisch fort und erklärt, er habe Bella schon vor langer Zeit in Italien kennen gelernt.

»Sie hat mir den Tipp gegeben, mein Glück im Norden zu versuchen, und hier bin ich! Drei interessante Jahre habe ich bereits hinter mir. Und sogar Finnisch habe ich gelernt. Als ich Bella plötzlich singen hörte, habe ich meinen Augen, äh, meinen Ohren nicht getraut ... sie hat eine wundervolle Stimme.«

Enrico hat eine kleine Wohnung in der Nähe und war von Bella zu einer Tasse Tee eingeladen worden. Nächste Woche will er endlich mit seiner Freundin zusammenziehen, die der eigentliche Grund dafür ist, dass es ihn nach Finnland verschlagen hat. Und bald sollen die Hochzeitsglocken läuten.

Er redet davon, wie schön es doch sei, alten Bekannten zu begegnen, noch dazu, wenn sie Italienisch sprächen. Bella verdankt ihre Italienischkenntnisse ihren Engagements an italienischen Opernhäusern. Ich selbst bin nur weniger Worte mächtig; vorwiegend solcher, die man beim Einkaufen braucht und die ich während unserer Zeit in Palestrina aufgeschnappt habe.

Wir haben kaum zu reden begonnen, geschweige denn Tee gekocht, als er darauf besteht, uns in seine Wohnung einzuladen. Wir lassen die Hunde zu Hause und gehen den kurzen Weg zu Fuß. Er serviert uns italienische Köstlichkeiten: Ciabatta, kleine Würstchen, Schinken, Oliven, Bel Paese und Ruccola. Mehrere Stunden später kehren wir mit dicken Bäuchen und mehr als vergnügt wieder in unsere eigenen vier Wände zurück.

»Die perfekte Methode, seine Figur zu ruinieren«, seufzt Bella, und ich gebe ihr Recht.

»Und ausgerechnet heute Abend wollte ich dich zum Essen einladen. Ich hatte eigentlich ans Lehtovaara gedacht, aber ich glaube, das können wir uns schenken«, stelle ich nüchtern fest.

»Übermorgen werde ich einen Riesenhunger haben, das verspreche ich dir!«

»Warum übermorgen?«

»Weil morgen Premiere ist. Das hast du doch nicht vergessen?«

»Nein, natürlich nicht ... und nach der Premiere?«

»Du weißt doch: Premierenfeier. Aber es wird schon nicht so spät werden, vielleicht halb eins, eins – oder so ungefähr«, fügt sie sicherheitshalber hinzu.

Ich hatte tatsächlich die Premiere vergessen. Es ist reiner Zufall, dass ich in Helsinki bin. Ich schäme mich leise und frage mich, ob ich mir eine Karte hätte besorgen sollen.

»Übrigens bin ich dir dankbar, dass du mich nicht um eine Premierenkarte gebeten hast. Ich bin schon nervös genug. Wenn ich wüsste, dass auch du noch im Publikum sitzt ...«, sagt Bella, und ich bin gerettet.

»Ich weiß, aber ich werde mich um dich kümmern, wenn du nach Hause kommst. Vielleicht hole ich dich auch mit den Hunden von der Premierenfeier ab, dann brauchst du jedenfalls nicht mitten in der Nacht allein durch Helsinki zu wanken.«

»Ach du ...«

Die Nacht war sanft. Der Abend lau. Ich liege auf meiner Seite des Bettes und lese im Schein einer kleinen Lampe. Bella schläft. Die Hunde dösen vor sich hin und warten darauf, dass ich aufstehe oder das Licht lösche und einschlafe, damit sie das Fußende des Bettes in Besitz nehmen können.

Morgen war also Premiere. Verdammt noch mal, wie konnte ich das nur vergessen?

In Gedanken sehe ich Smokings und elegante Abendkleider. Oder sind es die Kostüme, die ich mir vorstelle? Das alles hat so wenig mit meiner eigenen Welt zu tun. Bis jetzt habe ich Bellas Arbeit immer als ganz normale Beschäftigung wahrgenommen. Habe sie zur Probe gehen und Unterricht geben sehen. Habe aus der Ferne verfolgt, wie sie an verschiedenen Häusern gastierte und kleinere Rollen übernahm, oft weit von zu Hause entfernt. Den Wirbel um eine Premiere habe ich noch gar nicht kennen gelernt, doch wie meine Mutter stets sagt: Man muss sich auf die Gegebenheiten einzustellen wissen. Und da ich schon von meiner Mutter spreche: Die würde sich auf jeder Premierenparty wie ein Fisch im Wasser fühlen.

Mit diesem Gedanken muss ich eingeschlafen sein, denn als ich das nächste Mal die Augen öffne, liegen zwei erwartungsvolle Hunde neben mir, und Bella steht unter der Dusche. Versucht, ihre erhitzten Nerven abzukühlen.

Nachdem wir gefrühstückt und die Hunde ausgeführt haben, will Bella sich für die Feier am Abend etwas Hübsches zum Anziehen kaufen. Das fällt ihr ja früh ein ... Ich soll sie beraten.

»Leider weiß ich nicht richtig, wo ich hingehen soll. Du kennst dich doch so gut in der Stadt aus, Josef. Geschmackvoll soll es sein, aber nicht zu teuer. Du weißt schon, eher was Modernes, aber vor allem individuell ...«

»Woher soll ich wissen, wo es elegante Kleider gibt?«

»Du kennst jedenfalls mehr Geschäfte als ich. Komm schon, denk nach!«

»Wir könnten es ja bei Marimekko an der Nördlichen Esplanade probieren ...«

»Ach nein, nicht Marimekko. Ich will doch etwas Schickes, keine Baumwolle ... etwas, das was hermacht, ohne gleich ein Vermögen zu kosten.«

»Aber so was gibt es auch bei Marimekko«, protestiere ich zaghaft, doch sie hört mir nicht zu.

Wir stapfen auf die Straßenbahnhaltestelle am Mannerheimvägen zu. Wir wollen ins Zentrum, wo sich in der Regel alle teuren und vermutlich auch feinen Geschäfte befinden. Nachdem wir ausgestiegen sind, wissen wir zunächst nicht, welche Richtung wir einschlagen sollen. Da sich das Stockmanns, ein großes Kaufhaus, ganz in der Nähe befindet, versuchen wir zunächst dort unser Glück. Wir treten ein und kommen uns völlig verloren vor. Bella entert in ihrer Verzweiflung sofort eine Boutique, die sehr exklusiv sein muss, wenn man die gelangweilte Unnahbarkeit des Personals zum Maßstab nimmt. Ich schnappe mir dreist die nächstbeste Verkäuferin und kümmere mich nicht darum, dass sie so tut, als sei sie beschäftigt. Als ich ihr unsere Notlage erkläre – eine ausländische Operndiva, heute Abend Premiere –, verändert sich ihre Haltung, und nach nur einer Stunde fleißiger Anprobe findet Bella, wonach sie gesucht hat: das klassische kleine Schwarze mit wenigen geschmackvollen Applikationen. Seriös und intelligent. Nicht zu protzig. Außerdem findet Bella sich in Schwarz besonders schlank. Es muss noch ein wenig gekürzt werden, sonst ist alles perfekt.

»Sitzt wie angegossen«, stellt Bella fest. »Ich darf nur nicht zu viel essen heute Abend.«

»Na, wie ich dich kenne, hältst du dich ja ohnehin mehr an den Champagner.« Ich grinse frech.

Um achtzehn Uhr kann das Kleid abgeholt werden. Ich darf es höchstpersönlich zur Oper fahren, mich zum Künstlereingang hineinschleichen und es dort für sie abgeben.

Näher kann ich der Party nicht kommen.

Ultramarin

Подняться наверх