Читать книгу Ultramarin - Henrik Tandefelt - Страница 8
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ОглавлениеAn der Fotofront sieht es mau aus. Zu wenig Aufträge. Hin und wieder ein Gelegenheitsjob, aber die Aussichten sind nicht rosig. Da ich einige finanzielle Reserven habe, komme ich noch eine Weile über die Runden. Aber ich habe viel Zeit übrig. Und viel Energie. Warum würde ich mich auch sonst mit diesem lächerlichen Projekt abgeben, das nicht den geringsten Gewinn abwirft? Ein toter alter Mann, den ich nicht kannte. Gestorben in Finnland. Wie viele alte Männer sind nicht schon gestorben, ohne dass mich das im Geringsten interessiert hätte. Ganz zu schweigen von alten Frauen, Jugendlichen und Kindern. Was habe ich damit zu schaffen? Wieso sollte ich mich engagieren?
Ich engagiere mich ja gar nicht! Das habe ich letztes Mal auch gedacht, und was ist daraus geworden?
Es sind Olli und Lindström, die sich in den Kopf gesetzt haben, die Person ausfindig zu machen, die Jens Bäck getötet hat. Das ist ja schließlich ihr Job. Meiner aber nicht. Überhaupt nicht. Ich bin Fotograf. Ich habe ein kleines Unternehmen, um das ich mich kümmern muss. Olli und Lindström sind Polizisten, sie bekommen ihr Engagement sogar bezahlt.
Und nur weil ich einen Hund besitze, bin ich noch lange kein Hundepsychologe, was vermutlich erforderlich wäre, um den einzigen Zeugen, unseren neuen Hund Tipsa, zum Reden zu bringen. Man kann sich ausmalen, wie das vonstatten ginge: Tipsa liegt ausgestreckt auf dem bequemen Ledersofa eines finnischen Hundepsychologen und leckt sich die Schnauze, bevor sie sagt: »Es war keine Absicht. Ich habe alles genau gesehen. Wenn ich einen Sack Hundefutter kriege, fällt mir vielleicht noch mehr ein...«
»Na, Sie haben vielleicht Manieren.«
»Es war ein Kerl, ein Ausländer.«
»Dimitri? Das kann ich mir nicht vorstellen. Warum sollte er das tun? Vor allem, da er sich illegal in Finnland aufhielt und allen Grund zur Vorsicht hatte.«
»Er wollte ihn bestehlen, aber er wollte ihn nicht umbringen.«
»Warum ausgerechnet die Bilder? Es hätte doch ganz andere Dinge gegeben. Soweit ich weiß, sind keine weiteren Gegenstände verschwunden.«
»Woher wollen Sie das wissen?«
Natürlich weiß keiner genau, ob der Dieb oder die Diebe noch andere Gegenstände gestohlen haben. Auch über Dimitri ist so gut wie nichts bekannt. Warum war er über die Grenze gekommen? Warum hatte er sich von Bäck als Gehilfe einstellen lassen? Womit hat er sich noch beschäftigt?
Bäck war bewusstlos geschlagen worden. Daraufhin waren drei kleine Bilder verschwunden, Format zirka vierzig mal fünfzig Zentimeter, also klein genug, um sie sich einfach unter den Arm zu klemmen. Was gab es für einen Grund, gerade diese Gemälde zu entwenden? Gewiss, Ajvazovskij ist in Fachkreisen bekannt, aber bei hergelaufenen Ganoven?
Ob Bäck eine Hausratversicherung besaß? Fragen kostet nichts, denke ich, doch vermutlich sind solche Informationen nicht jedermann zugänglich. Außerdem wird die Polizei das sicher schon geprüft haben.
Abteilung für dämliche Fragen.
Ich sollte zusehen, dass ich aus dem Bett komme.
Ich stelle die Waschmaschine an, benutze mein Deo, tausche Strümpfe und Unterhose, rasiere mir ein paar störende Bartstoppeln ab – der Nachteil, wenn man einen schwarzen Bart hat. Praktischerweise wird er langsam grau.
In eine Aftershavewolke gehüllt, gehe ich die Treppe hinunter in Jureks und mein gemeinsames Fotostudio. Ein verborgenes Schmuckstück, das wir mithilfe einiger Freunde im Laufe der Jahre in dem Gebäude errichtet haben, das früher einmal als Stall, Traktorgarage und Werkstatt diente. Seit ein paar Jahren befinden sich hier Fotostudio und Dunkelkammer sowie eine kleine Wohnung im ersten Stock, direkt über dem Büro, die ich bei Bedarf nutze. Doch als wir mit dem Umbau fertig waren, verlor ich die Lust am Fotografieren im Studio, das wir manchmal für Projekte vermieten, an denen wir beteiligt sind. Aber darum kümmert sich Jurek mehr als ich. Eine Goldgrube ist unsere Firma keineswegs. Ich nehme ein paar Filmrollen aus dem Kühlschrank und gehe dann an die frische Luft. Schlendere über die Rasenfläche, um den Abend bei meiner Mutter zu verbringen.
»Was riecht denn hier so nach Marzipanschweinchen?«, fragt sie zur Begrüßung und schnuppert in die Luft, als ich zur Tür hereinkomme. Das ist der Dank dafür, dass ich mich rasiert habe.
Wir reden über dieses und jenes, während wir das Essen machen. Später am Abend zeigt sie mir, was sie in letzter Zeit zustande gebracht hat: acht neue Bilder. Sie ist sehr fleißig gewesen. Ich habe ihre Versicherungen, es im Alter etwas ruhiger angehen zu lassen, nie sonderlich ernst genommen, also bin ich nicht überrascht. Drei Ausstellungen sind geplant: eine große in Budapest, eine in Oslo und eine kleinere in London, die fast ausschließlich neue Werke zeigen soll. Sie erwägt, nach Budapest zu reisen, ist sich aber noch nicht sicher. Ihr Gesundheitszustand wird darüber entscheiden – und ihr Terminkalender. Ist ja nicht gesagt, dass ich dann auch Zeit habe, meint sie.
»Sag mal, kennst du einen russischen Künstler namens Ajvazovskij?«, frage ich unvermittelt. »Ivan Konstantinovitsh Ajvazovskij.«
»Ja, ein wenig. Hat sich vor allem als Marinemaler einen Namen gemacht. Einige seiner Arbeiten habe ich gesehen. Aber wenn du mehr über ihn erfahren willst, dann ruf doch einfach meine alte Freundin Hella Vuotila an. Ich glaube, sie wohnt immer noch in der Nähe von Helsinki, in Kottby.«
»Ist sie Expertin für russische Kunst?«
»Ja. Sie kennt sich sehr gut aus«, antwortet meine Mutter.
Und wenn sie das sagt, dann wird es wohl stimmen.
Am nächsten Tag rufe ich auf der »Seawind« an und frage, ob es noch einen Platz gibt, doch leider ist das Boot schon voll. Dasselbe gilt für die »Silja«, aber die »Viking« ist noch nicht ausgebucht. Ich ergattere ein Ticket ohne Kabine für die Morgenfähre nach Åbo. Für den Rest des Tages arbeite ich im Studio.
Früh am Morgen fahre ich mit Muffins zum Stockholmer Hafen, wo wir im geräumigen Bauch des Schiffes verschwinden. An Bord herrscht ein einziges Gedränge. Ich ziehe mich mit Muffins in eine ruhige Ecke zurück, um zu lesen. Da sich ganz in der Nähe die große Bar mit der Tanzfläche befindet, dauert es jedoch nicht lange, bis stampfende Bässe aus den Lautsprechern dröhnen. Jedes Mal, wenn ich gezwungen bin, tagsüber das Boot zu nehmen, ist es eine Qual. Ich ärgere mich, aber was soll ich machen? Um 19.50 Uhr werden wir in Åbo einlaufen.
Ich lese, warte und warte. Wie auch immer, bald werde ich bei Mirabella sein, bei meiner Bella.
In Åbo angekommen, spuckt die Fähre langsam Lkws und Busse aus sowie eine schier unüberschaubare Zahl an Pkws, Motorrädern und Fahrrädern.
Nach einem kurzen Abendspaziergang am Hafen nehmen wir die öde Strecke nach Helsinki in Angriff. In Lahnajärvi machen wir Rast. Das hat Tradition.
Als wir Helsinki erreichen, ist es dunkel. Ich frage mich kurz, ob ich den Schlüssel dabeihabe. Der Aufzug knarrt. Nur Tipsa ist zu Hause. Erst starrt sie mich misstrauisch an, bevor sie mich wiedererkennt und uns stürmisch willkommen heißt. Nachdem ich meine Sachen ausgepackt habe, gebe ich den Hunden was zu fressen. Dann unternehmen wir einen kurzen Ausflug in Richtung Opernhaus. Mit ein wenig Glück können wir das Frauchen mit nach Hause nehmen. Wir spazieren durch das immer noch warme und immer noch grüne Helsinki.
Ich stecke meine Nase ins Opernhaus und frage nach Bella.
Fünf, vielleicht zehn Minuten später kommt sie. Ich versuche, die Hunde daran zu hindern, an ihr hochzuspringen, aber es gelingt mir nicht. Tipsa hat einfach keine Manieren. Sie lässt ihrer Spontaneität stets freien Lauf und verleitet den um ein paar Jahre älteren Muffins meist zu denselben Dummheiten. Ich kann mich kaum auf den Beinen halten, wenn diese Bestien zur Liebesattacke übergehen.
»Oh, was für eine feuchte Überraschung! Was macht ihr denn hier? Ich hatte dich noch gar nicht zurückerwartet, Josef.«
»Hab kurzfristig umdisponiert.«
»Wie schön! Das Bett war so leer. Na ja, relativ leer«, fügt sie hinzu, indem sie Tipsa tätschelt.
»Ich werde wohl demnächst für ein paar Tage in Ollis Sommerhaus wohnen, um in der Gegend zu recherchieren, aber erzähl du erst mal. Wie laufen denn die Proben?«
»Ich habe ein richtig gutes Gefühl. Hier in Helsinki wird jedenfalls noch Wert auf gründliche Probenarbeit gelegt. Jeder kann sich in Ruhe mit dem Korrepetitor vorbereiten, das gefällt mir. Und so viele Diven wie an anderen Häusern scheint es ja auch nicht zu geben.«
»Dabei habe ich immer gedacht, dass es an Opernhäusern von Intrigen und Machtspielen nur so wimmelt.«
»Natürlich gibt es auch Intrigen und einen gewissen Starrummel, aber hier in Helsinki hält sich das Gott sei Dank in Grenzen. Jedenfalls hab ich davon noch nicht viel mitbekommen.«
»Ach, wie schön, dass du so ein Glück hattest!«
»Das kann man wohl sagen. Wir haben doch eine schöne Wohnung, und alles in allem gefallen mir die überschaubaren Verhältnisse. Hast du eigentlich meinen Korrepetitor, den Pianisten Otto Erström, mal kennen gelernt?«
»Nein, noch nicht. Du kannst ihn mir ja ein anderes Mal vorstellen. Leider fahre ich schon morgen weiter zu Ollis Sommerhaus.«
»Aber die Nacht verbringst du doch in meinem Bett, oder?«
Später am Abend fragt mich Bella beim Tee, was ich bei Olli eigentlich vorhabe und ob es möglicherweise etwas mit dem verstorbenen Arzt zu tun habe. Ich bin zu einem Geständnis gezwungen.
»Typisch!«, seufzt Bella.
»Was ist typisch?«
»Dass dich dieser unaufgeklärte Mord nicht loslässt. Du kannst es einfach nicht lassen, deine Nase in Dinge zu stecken, die dich nichts angehen. Ich kann ja verstehen, dass es dich langweilt, tagein, tagaus mit den Hunden spazieren zu gehen, während ich arbeite. Aber meinst du nicht, dass du dich auf gefährliches Terrain begibst? Versprich mir, dass du kein Risiko eingehen wirst. Versprich es mir!«
»Okay, okay, ich verspreche es. Ich werde weder meine Nase noch andere Körperteile irgendeiner Gefahr aussetzen. Außerdem steht ja gar nicht fest, dass es sich um einen Mord handelt. Vielleicht ... war es ja nur Körperverletzung.«
Die Nacht war weich und warm, was nur zum Teil an uns selbst lag: Gewisse Kreaturen wollten partout das Bett mit uns teilen. Der Morgen kam allzu rasch, doch er war freundlich und sanft, meldete sich mit dem leisen Surren des beginnenden Verkehrs und dem Schreien der Elstern, die jetzt im Baum auf dem Hof sitzen. Da ich ohnehin schon wach bin, kann ich mich auch zeitig auf den Weg machen, denke ich unromantisch und schwinge meine Beine aus dem Bett, ohne Bella zu wecken. Ich drehe eine kurze Runde mit den Hunden und schleiche mich dann in die Wohnung zurück, um Tee zu machen. Bella schläft immer noch. Wie ein Murmeltier, könnte man sagen, aber das passt nicht zu ihr. Tja, wie dann? Wie eine Meerjungfrau? Eine Putte? Wie schlafen die? Als das Teewasser zu sieden beginnt, schlägt sie die Augen auf.
Wie eine erblühende Heckenrose, denke ich mäßig originell, ehe sie sich streckt und von den Hunden mit rücksichtslosen Zärtlichkeiten überhäuft wird.
»Ein bisschen Tee gefällig?«, frage ich und decke den kleinen Nachttisch.
»Wie spät ist es?«
»Viertel nach sieben.«
»So früh ...«
Sie steht auf, makellos, anmutig, lieblich und nackt. Stülpt eine Haube über die Teekanne, wackelt mit dem Po und verschwindet ins Badezimmer. Als sie wieder herauskommt, ist sie angezogen. Auch gut, denke ich und werfe einen verstohlenen Blick auf die Uhr.
»Willst du wirklich in dieser Herrgottsfrühe aufbrechen?«
Ich nicke. Sie murmelt etwas Unverständliches. Danach frühstücken wir schweigend. Durch das Fenster, das ich geöffnet habe, hören wir die Vögel im Hinterhof zwitschern. Bella holt das ›Hufvudstadsbladet‹ aus dem Flur. Die erste Seite ist voller Anzeigen. Während sie blättert, schmiere ich ihr ein weiteres Brot, ohne dass sie davon Notiz nimmt. Aber sie isst folgsam auf.
»Ich bin ja bald wieder zurück«, sage ich tröstend.
»Irgendeine Ritva hat gestern Morgen angerufen und nach dir gefragt. Sie sprach Englisch, sagte, sie sei in Moskau, und bat mich auszurichten, dass sie nichts über diesen Dimitri wüsste, sich aber weiter um die Sache kümmern würde. Sie wollte sich später wieder melden. Wer ist denn diese Ritva?«
»Oh, hat sie angerufen? Sie war früher eine Art Geheimagentin ... ist sie vielleicht immer noch. Ich habe sie vor ein paar Jahren kennen gelernt, aber seitdem nichts mehr von ihr gehört. Ich hatte sie angerufen, um zu fragen, ob sie irgendetwas über diesen Dimitri in Erfahrung bringen könnte«, entgegne ich, ohne auf ihren eifersüchtigen Unterton einzugehen, den ich herauszuhören glaube. Mir gefällt dieser Ton nicht. Es besteht gar kein Anlass dafür.
»Wirst du sie treffen?«
»Nein, ich denke, das wird nicht nötig sein. Ich habe sie nur angerufen, weil eine klitzekleine Chance besteht, dass sie mir helfen könnte.«
Um von Helsinki nach Sysmä zu kommen, gibt es verschiedene Möglichkeiten. Der direkte Weg führt über Lahti und ist definitiv der langweiligste. Von Lahti aus hat man die freie Wahl. Ich fahre über Borgå, um in Forsby auf kleinere Landstraßen in Richtung Norden auszuweichen; das macht die Strecke abwechslungsreicher. Da ich nicht mit leeren Händen ankommen will, kaufe ich in Kouvola ein paar Flaschen Rotwein, ehe ich mich in nordöstliche Richtung weiter vorarbeite und schließlich Ollis Sommerhaus erreiche.
»Was für ein weit gereister Gast!«, begrüßt er mich. »Wo möchtest du wohnen? Bei mir im Haus oder im Gartenhäuschen? Hast du eigentlich Tipsa mitgebracht?«, fragt er, während er seinen Wagen wäscht.
»Nein, leider nicht. Die Hunde sind bei Bella in Helsinki geblieben. Dafür habe ich ein paar Flaschen Rotwein dabei. Ich dachte, das könnte nicht schaden ...«
»Ausgezeichnet! Dann können wir uns ja eine schöne Zeit machen: zusammen essen, in die Sauna gehen, schwimmen, über Gott und die Welt reden – falls du nichts dagegen hast.«