Читать книгу Ultramarin - Henrik Tandefelt - Страница 6
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ОглавлениеDie Töölöbucht in der Morgensonne. Helsinki. Spaziergänger, Fahrradfahrer und Inlinescater. Manche tragen Aktentaschen, andere Rucksäcke. Autos, Busse, Straßenbahnen. Menschen auf dem Weg zur Arbeit. Vereinzelt werden Außenbordmotoren angeworfen und legen von Broholmen ab. Während die Fähre aus Sveaborg in den Hafen einläuft, brausen immer neue Vorortzüge in die Bahnhofshalle. Auf dem Hägnastorg und dem Salutorg drängen sich die Marktverkäufer, während in den Saluhallen das Gewimmel der Kundschaft zunimmt.
In Erwartung eines schönes Tages strecke ich meine hundertneunzig Zentimeter und werfe einen Blick auf das Thermometer am Küchenfenster. Schon über zwanzig Grad.
Bella liest am Frühstückstisch Partitur und hört kaum, was ich sage. Sie summt, brummt und nickt, während sie sich Tee nachschenkt. Ich schnappe mir die Zeitung von der Fußmatte. Bella schminkt sich die Lippen vor dem Badezimmerspiegel. Ich küsse sie flüchtig auf die Wange. Sie lächelt und sieht mich im Spiegel an.
»Rot und schwarz, Herzdame und Pikkönig, wie im Kartenspiel«, sagt sie und fährt mir zärtlich durch das Haar. Da ihre eigenen Haare sorgfältig gekämmt sind, nehme ich davon Abstand, meine Finger durch ihre rote Mähne gleiten zu lassen. Sie würde sich nur verspäten. Und Bella hat es eilig, zur Arbeit zu kommen.
Sobald ihr süßer Hintern in der Jeans verschwunden ist, macht sie sich auf den Weg. Noch ein Kuss, dann schließen sich rasselnd die Gittertüren des Aufzugs. Zip, höre ich, als sie einen Reißverschluss hochzieht, während sich der Lift in Bewegung setzt. Schnell, schnell! Ihre leuchtend gelbe Bluse mit dem Silbermedaillon verschwindet vor meinen Augen.
Wir wohnen zurzeit in einer der kleinen Gastwohnungen der Finnischen Nationaloper in Töölö, nur einen Steinwurf vom Opernhaus entfernt. Sehr praktisch und quasi mitten in der Stadt. Nachdem ich monatelang fast rund um die Uhr an Modefotos gearbeitet habe, bin ich endlich hier. Jetzt nehme ich mir eine Weile frei. Ich habe meine Herzallerliebste viel zu lange entbehren müssen.
Als ich mich gerade mit unserem Hund Muffins aufs Bett gelegt habe, um zu lesen, klingelt das Telefon. Unnachgiebig, ein ums andere Mal, bis ich mich endlich aufraffe und abhebe. Lindström ist dran. Knut Sigurd Lindström, seines Zeichens Kriminalkommissar und ein alter Kumpel von mir.
»Wie ist die Lage, so fern der Heimat?«, will er wissen, und ich höre, dass er sich auf dem Revier in Västerås befindet. Nur öde, winzige Büromodule haben diese einzigartige Akustik.
»Tja, äh, danke ... und dir?«, entgegne ich abwartend.
»Immer derselbe Trott, aber ich will nicht klagen ...«
Ich ahne schon, dass er etwas auf dem Herzen hat. Wir haben gemeinsam so allerhand durchgemacht und kennen uns ziemlich gut. Vor gar nicht allzu langer Zeit ging es um Mordermittlungen, und so früh am Morgen bin ich nicht gerade scharf darauf, in einen neuen Fall hineingezogen zu werden. Schließlich bin ich Fotograf und kein Ermittler.
»Wie geht’s denn Ingbritt?«, frage ich, während ich ein Auge auf das ›Hufvudstadsbladet‹ werfe, das aufgeschlagen auf dem Frühstückstisch liegt. Ein Journalist namens Sandbacka hat einen politischen Kommentar geschrieben.
»Die überlegt gerade, sich selbstständig zu machen.«
»Also hat sie noch keine Stelle gefunden? Keine neue Schule in Sicht?«
»Nein, sieht nicht so aus. Es sei denn, sie will jeden Tag zwischen Boköping und Stockholm hin- und herpendeln. Bei uns in der Gegend tut sich gar nichts. All die vollmundigen Wahlversprechen, das Schulangebot zu erweitern, sind doch längst wieder vergessen. Was machen Bella und Muffins?«
»Denen geht’s ausgezeichnet.«
»Habe ich dir eigentlich schon erzählt, dass ich einen alten Freund und Kollegen in Helsinki habe?«
»Kann mich nicht erinnern«, antworte ich und befürchte, dass Lindström nun auf sein eigentliches Anliegen zu sprechen kommt.
»Olli Mustonen. Ich habe ihn mal auf einer Konferenz der Nordischen Länder kennen gelernt. Er spricht fließend Schwedisch, und du kannst doch auch ein bisschen Finnisch, wenn ich mich recht erinnere.«
»Ich kann mich einigermaßen verständlich machen. Sag mal, willst du mich etwa wieder in irgendwelche Ermittlungen reinziehen?«
»Wie kommst du denn darauf?« Lindström klingt beinahe entrüstet. »Es geht nur um einen Hund. So einer wie dein Muffins. Olli hat mich gestern von seinem Sommerhaus aus angerufen. Er hat vor kurzem einen Hund in Obhut genommen, und jetzt hat sich herausgestellt, dass eines seiner Enkelkinder allergisch gegen Tierhaare ist – typisch. Jedenfalls kann er den Hund nicht behalten, sagte er mir. Und da habe ich an dich gedacht, rein zufällig gewissermaßen.«
»Ach, rein zufällig ...«
»Ja, ich dachte, du würdest vielleicht jemanden kennen, der ... du hast doch so viele Hundebekanntschaften. Vielleicht willst du Olli ja mal anrufen. Ist wirklich ein netter Kerl, hat ein Sommerhaus in der Gegend von Sysmä.«
»Warum hat Olli den Hund denn in Obhut genommen?«
»Ach, irgendwelche schwedischen Touristen, die ein Sommerhaus gemietet hatten. Die sind am Ende der Ferien einfach abgehauen und haben den Hund zurückgelassen wie einen Müllsack. Das ist genauso einer wie Muffins. Grüß ihn von mir, wenn du nach Sysmä fährst. Ist bestimmt eine schöne Gegend. Er sagt, man kann da auch angeln.«
»Hm.«
»Na, komm schon, ein kleiner Ausflug kann doch nicht schaden. Olli ist wirklich nett, und von Helsinki nach Sysmä ist es gar nicht weit, glaub ich. Bella ist doch so eingespannt, und du hast jede Menge Zeit. Außerdem hat Olli bestimmt eine Sauna, haben das nicht alle Finnen?«
Lindströms Argumente sind nicht von der Hand zu weisen, und meine Sehnsucht nach einer Sauna ist groß. Am besten eine mit Holzfeuerung. Vielleicht könnte Bella ja mitkommen. Keine so üble Idee. Ich sehe uns schon an einem einsamen See sitzen. Die Hummeln brummen, ich halte Bella im Arm ...
»Ich denk drüber nach. Könnte ja auch sein, dass ich zufällig mal dort vorbeikomme.«
Zwei kleine Zimmer und eine Miniküche, größer ist die Wohnung nicht, aber wir sind schließlich nicht als Touristen nach Helsinki gekommen. Bella hat ihre Arbeit, ihre Proben. Im Herbst soll Premiere sein. Dann folgen die Vorstellungen. Ich bereite zurzeit eine Fotoausstellung vor.
Bella hat eine Partie in ›Figaros Hochzeit‹ übernommen. Sie ist Mezzosopran und singt die Rolle des Cherubino, eines hoffnungslos verliebten Pagen. Es ist eine so genannte Hosenrolle, also eine Männerrolle, die traditionell mit einer Frau besetzt wird. Sie umfasst zwei bekannte Arien, die sie schon früher mit Bravour gesungen hat. Außerdem hat sie bereits zugesagt, in Stockholm mit Les Goûts-Réunis zu konzertieren, einem finnischen Ensemble, das sich auf Couperin, Monteclair und Rameau spezialisiert hat. Wann genau, steht noch nicht fest.
Falls ihr Gastspiel in Helsinki ein Erfolg wird, könnte sie Chancen auf ein längerfristiges Engagement an der finnischen Nationaloper haben. Wir werden sehen. Es hat natürlich auch seinen Reiz, in Europa umherzureisen und an den verschiedenen Opernhäusern zu gastieren, doch sehnen wir uns beide nach einem Ruhepol in unserem unsteten Dasein. Zwar haben wir uns auch im Obergeschoss von Signor Rossis Lebensmittelladen im kleinen Ort Palestrina südöstlich von Rom1 wohl gefühlt, aber inzwischen möchten wir ein richtiges Zuhause. Gerne im Norden. Wenn’s nach mir ginge, am liebsten in Schweden.
Gegen Helsinki ist wirklich nichts einzuwenden, dennoch fühle ich mich ein wenig einsam. Ich treffe hin und wieder meine Cousins und bereite meine Fotoausstellung vor; das ist alles, was ich tue. Die Ausstellung trägt den Titel ›Festung Europa‹ und findet im Laterna Magica statt, einer Mischung aus Antiquariat und Galerie. Während der beiden Jahre, die Bella und ich in Italien verbrachten, habe ich den Menschenhandel dokumentiert, der vor allem von Albanien und Gibraltar aus organisiert wird. Ein abenteuerliches und gefährliches Unterfangen, das mich meine liebste Leica kostete, eine abgenutzte schwarze M-6. Nach dem resoluten Eingreifen der italienischen Küstenwache liegt sie nun auf dem Grund der Adria. Den letzten Film hatte ich vorher rausgenommen. Aber die Fotos sind gut geworden.
Ich habe nicht gewagt, Bella alle Details zu erzählen ...
Eine steife Brise kommt vom Finnischen Meerbusen herein, weht über die Festung Sveaborg hinweg, erfasst den Marktplatz und bahnt sich ihren Weg durch den Esplanade genannten kleinen Stadtpark. Am Schwedischen Theater hat sie drei Richtungen zur Auswahl. Für gewöhnlich bevorzugt sie den Mannerheimvägen.
Von unserer Wohnung aus spaziere ich durch das Zentrum. Die Straßencafés zeigen das junge, elegante Helsinki. Ich passiere die Storkyrkan in Richtung Fredsgata, in der sich das Laterna Magica befindet. Überprüfe ein letztes Mal die Hängung meiner Fotos. Das urige, verwinkelte Kellerlokal erschwert zwar manchmal die freie Sicht auf die Bilder, bietet aber andererseits einen reizvollen Kontrast. Ich kann es natürlich nicht bleiben lassen, in alten Zeitschriften zu blättern: ›Kotiliesi‹, ›Anna‹ und ›Uusi Nainen‹, vermutlich die einzigen linksorientierten Frauenzeitschriften des Nordens.
In einer Wochenzeitung aus der ersten Hälfte der vierziger Jahre finde ich eine Frontreportage aus dem so genannten Fortsetzungskrieg, die die Kampfmoral der finnischen Truppen stärken sollte. Sehe Bilder enthusiastischer Soldaten, die sich um einen Topf mit Ersatzkaffee scharen oder mit dem Schlachtruf »Uraliin!« (Zum Ural!) gegen die Rote Armee vorrücken.
Das Ergebnis ist bekannt.
Nachdem ich mich mit der Hängung einverstanden erklärt und weitere Zeitschriften durchgeblättert habe, schlendere ich gemächlich nach Hause. Betrachte die Schaufenster und lausche einer Gruppe russischer Straßenmusiker, die auf vier Xylofonen und im rasenden Tempo den Toreromarsch aus ›Carmen‹ hinfetzen. Ich lasse mich treiben und nehme einen kleinen Umweg durch die Mercators Passage in Kauf, um auf einen Sprung in Aamos Anderssons Kunstmuseum vorbeizuschauen. Plötzlich werden die Erinnerungen an Ritva wieder lebendig. Wie lange ist das her? Ob sie immer noch als Geheimagentin arbeitet? Sie könnte auch verheiratet sein, im Ausland wohnen – falls sie überhaupt noch am Leben ist. Ich ziehe es vor, diesen Gedanken zu verdrängen. Anziehend war sie ... und geheimnisvoll.
Schließlich gehe ich nach Hause und rufe Lindströms Kollegen an. Kriminalkommissar Olli Mustonen lädt mich spontan in sein Sommerhaus ein. Lindströms Freunde sind meine Freunde, sagt er. Ich frage ihn, wo Sysmä liegt. Ungefähr drei Stunden nordöstlich von Helsinki. Mindestens sechs Stunden hin und zurück. Das wird definitiv einen ganzen Tag in Anspruch nehmen. Auf der Straßenkarte sehe ich, dass Sysmä am Päjänne-See liegt, der sich von Lahti bis hinauf nach Jyväskylä erstreckt. Dort ist meine Karte zu Ende. Als Bella nach Hause kommt, schlage ich ihr für das nächste Wochenende einen kleinen Ausflug vor. Irgendwann müsse es sich doch mal auszahlen, dass wir unser Auto hierher mitgenommen haben, argumentiere ich. Sie protestiert zaghaft. Eigentlich hatte sie mit Les Goûts-Réunis proben wollen, doch schließlich ruft sie den Ensembleleiter Miikka Helasvuo an. Der ist total erkältet und erklärt krächzend und schniefend, dass er gegen eine Pause nichts einzuwenden habe. Zu husten und gleichzeitig Querflöte zu spielen sei ein Ding der Unmöglichkeit. Damit ist unser Ausflug beschlossene Sache.
Als wir am frühen Morgen in Richtung Lahti aufbrechen, ist weit und breit noch keine Straßenbahn zu sehen. Die Möwen am Marktplatz machen uns nur widerwillig Platz. Eine langweilige und hässliche Autobahn erwartet uns. Bella schläft, Muffins ebenfalls. Erst hinter Vääksy wird die Landschaft etwas abwechslungsreicher. Wir biegen auf eine schmale Landzunge ab, machen eine Pause und strecken im Grünen die Beine. Tauchen die Zehen ins Wasser, während Muffins ein Bad nimmt. Als wir in Sysmä ankommen, riecht das ganze Auto nach nassem Hund. Der Ort selbst ist zwar keine Schönheit, doch an der Landschaft gibt es nichts auszusetzen.
Mustonens Sommerhaus liegt ein paar Kilometer weiter östlich an einem See. Ein blauer Volvo mit mattem Lack aus den neunziger Jahren steht vor einer grauen Scheune. Durch die Ritzen kann man einen matten russischen Popeda erahnen – eine Automarke, die noch in den fünfziger Jahren in Finnland oft als Taxi benutzt wurde. Wir lassen den Wagen stehen und spazieren über eine Wiese auf ein kleines Haus zu. Im Hintergrund glitzert der See. Auf der Treppe wartet ein großer rostbrauner Hund. Ein Kollege von Muffins. Etwas unbedacht lasse ich Muffins von der Leine, und der schießt knurrend los.
Ein muskulöser, nur mit einer Badehose bekleideter Mann kommt uns über die Wiese entgegen. Eine Sense über der Schulter, abgeschnittene Stiefel an den Füßen. Offenbar unser Gastgeber. Blondes, zurückgekämmtes Haar und blaue Augen. Ziemlich hoch aufgeschossen und mit einem Lächeln, das man nur als strahlend bezeichnen kann.
»Hallo! Du musst Josef sein«, sagt er mit festem Handschlag.
»Richtig geraten, und das hier ist Bella. Muffins hast du ja schon gesehen.«
»Ja, der tollt mit Tipsa auf der Wiese herum. Sieht so aus, als hätten sie richtig Spaß«, entgegnet er und gibt Bella die Hand.
»Tipsa?«
»Ja. Der Name stand auf dem Halsband. Aber kommt nur herein ... ach nein, setzen wir uns lieber ans Wasser. Ihr könnt schon vorgehen, über die Wiese bis zur Sauna, ich hole den Kaffee«, sagt Olli. Wir schlendern auf dem leicht abschüssigen Pfad bis zum See. Wenige Meter vom Ufer entfernt befindet sich die kleine Sauna. Ein zwanzig Meter langer Steg führt mitten ins Blaue. An einem frei stehenden Pfahl liegt ein langes, schmales, sich an beiden Enden verjüngendes Ruderboot vertäut. Ein typisch schwedisches Binnenseemodell, das aussieht wie die Miniaturausgabe eines Wikingerschiffs. Es gluckert träge im Wasser, wie nur Holzboote das tun.
»Hab auch ein paar Teebeutel mitgenommen!«, ruft Olli, als er uns mit einem Tablett entgegenkommt. Er hat einen verwaschenen blauen Trainingsanzug angezogen.
»Da scheint Lindström ja was verraten zu haben«, entgegne ich, und Olli nickt lächelnd.
Bella lacht, die Sonne scheint, und wir setzen uns auf ein paar bequeme Gartenstühle vor die Sauna.
»War das eigentlich deine Idee oder die von Lindström?«, frage ich.
»Welche Idee?«, fragt Olli unschuldig, füllt die Becher und bietet uns Marmorkuchen an.
»Die mit dem Hund.«
»Ach, die ... auf die sind wir zusammen gekommen.«
»Wie das?«
»Angefangen hat alles damit, dass eine schwedische Familie hier in der Gegend ein Ferienhaus mietete. Sie hatten einen jungen Hund dabei, den sie bei ihrer Abreise einfach seinem Schicksal überließen. Zunächst haben sich dann die Nachbarn um ihn gekümmert. Vielleicht glaubten sie, er würde doch noch irgendwann abgeholt werden. Sie schrieben mehrere Briefe, bekamen aber nie eine Antwort. Schließlich wurde ihnen klar, dass der Hund absichtlich zurückgelassen worden war. Die hatten offenbar das Interesse an dem Tier verloren.«
»Pfui Teufel, was sind das nur für Leute!« Bella streichelt Tipsa, die versucht, ihr einen Hundekuss zu geben, ehe sie auf die Wiese prescht, um wieder mit Muffins zu spielen. Olli fährt fort:
»Die Nachbarn tauften sie auf den Namen Tipsa, konnten sich aber nicht ewig um sie kümmern, also wurde der Hund ein Fall für die Polizei. Irgendein Bürokrat verfügte schließlich, der Hund solle eingeschläfert werden. Ein Polizist wurde beauftragt, ihn zum Tierarzt zu bringen, doch sah er sich außerstande, den Auftrag auszuführen. Er brachte es einfach nicht übers Herz, einen gesunden, jungen Hund töten zu lassen. Da kam er auf die Idee, ihn mir zu überlassen, und dazu konnte ich einfach nicht Nein sagen. Schaut nur, wie sie spielen! Wie kommt man nur darauf, einen solchen Hund einzuschläfern?«
»Und jetzt kannst du ihn nicht länger behalten?«
»Mein Enkelkind ist allergisch gegen Tierhaare. Am Anfang haben wir nichts bemerkt, aber irgendwann begannen die Schwierigkeiten. Tipsa kann jedenfalls nicht hier bleiben, und in die Stadt mitnehmen kann ich sie auch nicht. Ich habe doch nur eine kleine Wohnung in der Runebergsgata, mitten in Helsinki. Dort ist einfach nicht genug Platz für einen so temperamentvollen Hund.«
»Wohnst du allein?«, fragt Bella.
»Ja, meine Frau Jaana ist vor ein paar Jahren gestorben. Sie hatte ... Krebs.«
Tipsa kommt angetrabt, als wolle sie ihr Herrchen trösten. Schmiegt sich an ihn und schleckt Ollis Ohr ab. Danach schnüffelt sie an mir herum, bevor sie ihren Kopf auf Bellas Knie legt. Muffins setzt sich hechelnd an ihre Seite.
»Tipsa hat mir ... bedeutet mir viel. Ich will, dass sie es gut hat. Sie ist daran gewöhnt, viel Platz zu haben und sich frei bewegen zu können.«
»Vielleicht findet sich ja eine nette Familie, die sie aufnimmt. Ich werde mich mal umhören«, verspreche ich.
»Wie wär’s mit meinen Eltern?«, schlägt Bella vor. »Meine Mutter hat oft davon gesprochen, wie schön es wäre, einen Hund zu haben. Sie hat sowieso das Gefühl, dass sie zu wenig draußen in der Natur ist. Ich frag sie mal«, sagt Bella, während sie ihren Bikini aus der Tasche zieht. »Kann man vom Steg aus ins Wasser springen?«
»Ja, da vorn ist das Wasser gut drei Meter tief«, antwortet Olli und zeigt ihr einen kleinen Raum neben der Sauna, in dem sie sich umziehen kann.
Ein paar Minuten später springt Bella ins Wasser, gefolgt von Tipsa und Muffins. Olli und ich beobachten schweigend, wie die Hunde an Land schwimmen, kurz über den Rasen toben und sich erneut ins Wasser stürzen, während Bella weit hinausschwimmt. Viel zu weit. Ich spüre eine gewisse Unruhe, bis sie kehrtmacht und uns wieder entgegenkommt. Ich wende meinen Blick von ihr ab und nehme unhöflich das letzte Stück Kuchen.
»Was für ein himmlischer Frieden«, seufze ich. »Der blaue See, die raschelnden Birken, eine eigene Sauna ...«
»Ja, das denkt man. Aber was meinst du, was hier los ist: Alkoholmissbrauch, Diebstahl, Körperverletzung – obwohl mich das eigentlich nichts angeht. Ich arbeite ja nicht hier.«
»Lindström hat mich doch wohl nicht nur wegen Tipsa hierher geschickt«, sage ich, während Bella mit den Hunden im Wasser spielt.
»Tja ... es gibt da noch dieses unaufgeklärte Verbrechen, das sich hier im Polizeidistrikt von St. Mickels ereignet hat. Natürlich ist das nichts Ungewöhnliches, aber dieser Fall interessiert mich, weil er diese Gegend betrifft ...« Dann erzählt Olli mir von dem Raubmord auf Hiitelä.
Ein pensionierter Arzt und Junggeselle namens Jens Bäck wohnte seit vielen Jahren auf einem kleinen Hof namens Hiitelä, unweit von Sysmä. Er war der langjährige Hausarzt vieler Leute aus der Umgebung, inzwischen schon über achtzig und seit Jahren im Ruhestand. Er züchtete Orchideen und kümmerte sich um seine Haustiere. Mit der Zeit wurde er ein bisschen sonderlich. Das Haus war irgendwann bevölkert von Enten, Katzen und Kaninchen, die überall frei herumliefen. Sauber machte er so gut wie nie. Im Stall stand ein Pferd, das sich die Koppel mit ein paar Kühen, einigen Ziegen und einem Esel teilte, auf dem die Kinder der Gegend reiten durften. Auf seine alten Tage wurde er immer mürrischer und unnahbarer. Ein paar alte Patienten hielten ihm noch die Treue, doch ansonsten wurde er immer mehr zum Eigenbrötler.
Sein Hof stammte aus dem späten 18. Jahrhundert. Neben dem Wohnhaus gab es ein Gebäude, in dem sein Gehilfe Dimitri wohnte, sowie ein weiteres, in dem sich die Praxis befand. Außerdem einen Stall und eine Scheune. Die Leute hielten ihn für vermögend, außerdem machte das Gerücht die Runde, er habe begonnen Kunst zu sammeln.
Im Dezember 1992 klopfte Bäcks Nachbar, der Autohändler Antero Myllylä, beim Arzt an die Tür, weil er von einer schweren Erkältung geplagt wurde. Ihm fiel auf, dass nicht abgeschlossen war. Da jedoch niemand auf sein Klopfen reagierte, beschloss er später wiederzukommen und dachte nicht weiter über die Sache nach. Ebenso wenig wie der Schornsteinfeger, der im Holzschuppen, wo sich der Heizkessel befand, seiner Arbeit nachging. Auch er nahm von Bäcks Abwesenheit keine Notiz. Satu Virtanen, der Enteneier kaufen wollte, holte die Eier wie üblich selbst aus dem Stall und steckte etwas Geld in die Sparbüchse.
Der Briefträger hingegen wunderte sich. Bäck hatte ein Päckchen mit Orchideen-Schösslingen nicht abgeholt. Damit nahm Bäck es normalerweise sehr genau. Also brachte der Briefträger es nach der Arbeit persönlich bei ihm vorbei, weil Bäcks Hof ohnehin auf seinem Weg lag. Er bemerkte, dass die Tür nicht abgeschlossen war, und trat ein, um das Päckchen in den Flur zu stellen. Dort fand er Bäck, verwirrt, aber immer noch am Leben. Er lag blutend im Flur auf dem Teppich.
Eine Weile suchte der Postbeamte vergeblich nach einem Telefon, dann lief er zum Auto und benutzte sein Handy. Er alarmierte die Polizei und einen Krankenwagen, der Bäck ins Kreiskrankenhaus nach St. Mickel brachte. Während des Transports erzählte Bäck, er sei erst mit einem massiven Gegenstand niedergeschlagen worden, dann hätte ihn jemand mit Tritten und Schlägen bearbeitet.
Dem kurzen Verhör zufolge, das die zuständigen Beamten am nächsten Tag führten, war Bäck gegen acht Uhr abends mit seiner Taschenlampe zum Stall gegangen, um nach seinen Tieren zu sehen. Als er zurückkam, habe ihn jemand von der Treppe zum Obergeschoss aus angegriffen. Bäck habe den Eindringling nicht sehen können. Es sei ein dunkler Dezemberabend gewesen, und Bäck habe nichts weiter erkennen können, als dass es sich um einen Mann handelte.
Wenige Wochen später starb Bäck plötzlich und unerwartet, den Ärzten zufolge an einem »subduralen Hämatom«. Vom Täter keine Spur, ebenso wenig von der Tatwaffe – vermutlich ein schwerer Gegenstand, eine Art Schlagholz. An dieser Stelle macht Olli eine kurze Pause, ehe er hinzufügt:
»Der einzige Hinweis auf den Täter ist ein dreißig Zentimeter langer Fußabdruck eines groben Schuhs oder Stiefels, dessen Sohle ein wenig aussagekräftiges Muster hinterließ. Er fand sich in einem Schneefleck auf dem Hof; an einer Stelle, wo eigentlich niemand hinkommt, es sei denn, man will durchs Fenster schauen. Zirka Größe vierundvierzig. Aber der Abdruck könnte von jeder x-beliebigen Person stammen, vom Schornsteinfeger, vom Autohändler – oder vom Mörder. Der Schornsteinfeger hat Größe dreiundvierzig. Der Autohändler trägt Größe fünfundvierzig. Viel klüger ist man also dadurch auch nicht«, sagt Olli und schaut mich an.
»Wovon geht die Polizei aus?«, frage ich.
»Die hat ihre übliche Theorie: dass Bäck einen Einbrecher überrascht hat, der ihn niederschlug und danach die Flucht ergriff. Keine unwahrscheinliche Annahme«, seufzt Olli.
»Und die Ermittlungen haben keine weiteren Erkenntnisse gebracht?«, frage ich.
»Eine heiße Spur gibt es nicht, aber es besteht ein vager Verdacht, der Dieb könnte mit Bäcks russischem Gehilfen Dimitri bekannt sein. Dimitri versorgte die Tiere auf dem Hof und ist seit der Tat spurlos verschwunden. Von ihm weiß man nur, dass er bei Bäck wohnte und arbeitete. Illegal. Er besaß kein Visum für Finnland. Ein paar Stiefel, die er zurückließ, belegen, dass er Schuhgröße vierundvierzig trägt. Das Muster der Sohle stimmt mit dem Fußabdruck überein. Die lokale Polizei hat nach ihm gefahndet, doch ohne Erfolg«, seufzt Olli.
»Auch nicht in Russland?«
»Nein, keine Spur, was an sich nicht verwunderlich ist. All seine Sachen, auch seine Kleider, hat er hier gelassen – und das mitten im Winter. Vielleicht ist er überstürzt mit dem Auto aufgebrochen. Man hat Reifenspuren entdeckt, die vermutlich von einem Lieferwagen stammen. Fragt sich nur, wem der Wagen gehört. Er könnte natürlich auch den Bus genommen haben ... wer weiß. Seltsame Geschichte.«
»Ein Russe, sagst du? Gibt es hier viele russische Touristen?«
»Ja, eine ganze Menge. Da Russland im Gegensatz zu Finnland nicht am Schengen-Abkommen beteiligt ist, benötigen russische Staatsbürger zur Einreise ein Visum. Offiziell werden jedes Jahr vierhunderttausend Visa ausgestellt, und es scheinen ständig mehr zu werden.«
»Ihr seid über eure russischen Besucher also gut informiert?«
»Ja, wir wissen, wer ins Land kommt oder sich auf der Durchreise befindet. Schwieriger ist es herauszufinden, wo sich jemand aufhält. Wer ein bisschen Geld hat, fährt in der Regel nach Helsinki zum Einkaufen. Die Gegend hier ist nicht gerade ein Touristenmagnet«, sagt Olli.
»Liegt gegen Dimitri ein konkreter Verdacht vor?«
»Nein. Aber er ist vermutlich am selben Tag verschwunden, an dem Bäck überfallen wurde. Er wohnte seit längerem auf dem Hof, und niemand kann sagen, wie er dorthin gekommen ist. Er scheint keine sozialen Kontakte gehabt zu haben.«
Der Wind ist abgeflaut, der See liegt unbeweglich da. Zwei Prachttaucher gleiten majestätisch in den Schatten einer mit Fichten bewachsenen Insel. Es ist später Nachmittag. Wir sollten langsam an die Heimfahrt denken.
»Bleibt doch noch zum Abendessen. Nachher könnt ihr die Sauna benutzen, und wenn euch danach ist, übernachtet ihr einfach hier und fahrt erst morgen früh«, schlägt Olli vor.
»Vielen Dank für das Angebot, aber ich glaube, wir machen uns lieber gleich auf den Weg. – Sag mal, weiß man eigentlich, worauf es der Dieb abgesehen hatte? Was ist denn gestohlen worden?«
»Verschiedene kleine Gegenstände, silberne Kerzenleuchter und so was. Wir haben keinen genauen Überblick, du hättest das Chaos sehen sollen ... aber ein paar Gemälde fehlen. Leider gibt es kein Inventar und keine Fotos, weder Verwandte noch ein schriftliches Testament. Drei Gemälde gelten in jedem Fall als vermisst. Sie stammen vermutlich von einem gewissen Ajvazovskij oder so ähnlich. Eine frühere Patientin, die inzwischen verstorben ist, konnte sich an Segelschiffe auf dem Meer erinnern. Das gesamte Inventar ist später versteigert worden.«
»Und es gibt keine Erben?«, frage ich.
»Nein.«
»Habt ihr noch mehr über die Gemälde herausfinden können?«
»Nein, eigentlich nicht. Dass sie tatsächlich gestohlen wurden, sah man an der Tapete: Drei 40 x 50 cm große Rechtecke hatten sie da hinterlassen. Ein Elektriker und der Briefträger haben bestätigt, dass es sich um Ölgemälde aus dem 19. Jahrhundert handelt, alles Seestücke. Verstehst du was von Kunst?«, fragt Olli.
»Nun, ein klein wenig ...«
Plötzlich steht Bella, gehüllt in einen viel zu großen Bademantel, hinter uns. Wir hatten sie gar nicht kommen gehört.
»Gibt es denn niemand, der sich genauer an die Bilder erinnert? Er könnte sie doch mal einem Patienten oder einem Freund gezeigt haben«, sagt Bella, während sie ihre kupferfarbene Mähne mit einem großen Frotteehandtuch abrubbelt.
»Sehr unwahrscheinlich. Bäck machte wenig Aufhebens um sich. Er war wohl eher ein stiller Sammler, der sich ein Bild kaufte, wenn er gerade mal etwas Geld übrig hatte. Ich kann mir nicht vorstellen, dass die Gemälde besonders teuer oder ausgefallen waren. Vielleicht mit Ausnahme der verschwundenen Bilder. Warum wären sie sonst gestohlen worden? Eine der befragten Personen meinte, sich erinnern zu können, dass Bäck einmal von diesen drei Bildern gesprochen hat. Er hat sie wohl geschenkt bekommen. Irgendwie gehörten die Bilder zusammen, jedenfalls waren auf allen Segelschiffe«, sagt Olli.
»Aber die Ermittlungen hast du nicht geleitet, oder? Du arbeitest doch in Helsinki?«
»Stimmt, mit den Ermittlungen hatte ich nichts zu tun, jedenfalls nicht offiziell. Mit denen war ein Kollege von mir betraut, mit dem ich manchmal angeln war. Veli Tuominen. Leider kam er vor einem guten Jahr bei einem Autounfall ums Leben. Er wohnte hier in der Gegend. Ich glaube, ich werde Lindström mal eine Kopie der Unterlagen schicken. Vielleicht hat er ja noch eine Idee. Der Fall interessiert mich, und wir beide pflegen seit Jahren einen informellen Austausch«, sagt Olli, indem er sich Bella zuwendet.
»Hast du zufällig gesehen, ob ein paar Hechte in der Reuse sind?«
»Hechte in der Reuse? Ich hab gar keine Reuse gesehen.«
»Ihr seid direkt daran vorbeigeschwommen. Eigentlich wollte ich Hecht zum Abendessen machen. Mit jungen Kartoffeln und Salat. Dann könnten wir nachher noch in die Sauna und den Mond anschauen, ein paar Biere trinken ... wie man das eben so macht in Finnland.«
»Hört sich sehr verlockend an, aber wir sollten jetzt wirklich bald aufbrechen. Bella muss morgen zur Probe und ...«
Weiter komme ich nicht, weil Bella mich unterbricht:
»Ich hab doch morgen keine Probe! Außerdem liebe ich Hecht.«
»Na also. Dann ist die Sache klar. Ihr bleibt. Wie wär’s, wenn ihr noch einen Ausflug nach Hiitelä zum Hof von Jens Bäck macht? Währenddessen hole ich den Hecht und kümmere mich ums Essen. Der Hof steht übrigens leer«, klärt Olli uns auf.
Ich schaue Bella an, sie zwinkert mir zu.
Der Weg ist voller Schlaglöcher und auch sonst in erbärmlichem Zustand. Auf den letzten dreihundert Metern wird er von mächtigen Ulmen gesäumt, was der Zufahrt dann doch einen herrschaftlichen Charakter verleiht. Die Hunde freuen sich über den Ausflug. Die niedrig stehende Sonne lässt das Laub glitzern und die Schatten über das Pflaster tanzen. Das Wohnhaus ist in kühlem Hellblau gestrichen, mit weißen Eckbalken und Fenstern, ein anderthalbgeschossiges Haus im Empirestil. Zu beiden Seiten befinden sich zwei asymmetrisch angeordnete Gebäude. In dem einen hatte sich Bäcks Praxis befunden, das andere war von seinem russischen Gehilfen Dimitri bewohnt gewesen.
Im Rondell vor dem Hauptgebäude wuchern Blumen und Büsche. Auch der angrenzende Rasen ist verwildert. Hinter dem linken Nebengebäude sieht man eine Scheune, in der möglicherweise das Vieh untergebracht wurde. Der auf einer Anhöhe gelegene Hof wird von fruchtbaren Wiesen umgeben, auf denen hoher Wiesenkerbel blüht. Zur Rechten schlängelt sich ein Bach zum See hinunter, der in der Ferne zu erahnen ist.
Als wir das Wohnhaus erreichen, werfe ich zunächst einen Blick durch die Fenster. Die Räume sind in gutem Zustand. Jemand muss hier renoviert haben. Danach schauen wir durch die Fenster der Nebengebäude. Eines ist ebenfalls von sämtlichen Möbeln befreit und gründlich gereinigt worden. Wir machen schweigend kehrt. Verlassene schöne Häuser machen mich immer traurig. Bella wechselt das Thema.
Tipsa schläft bei uns im Gästehaus. Mitten in der Nacht kommt sie angeschlichen, kratzt an der Tür und drängt sich, sobald ich sie hereingelassen habe, neben Muffins, der zwischen Bella und mir liegt. Ich streichele sie und versichere ihr, dass sie bei uns bleiben darf. Tipsa schnauft zufrieden.
»Wir kümmern uns schon um dich, Tipsa, schlaf gut ...«
Sie scheint so wohlig zu schlummern, dass sie gar nicht merkt, wie Bella und ich uns wenig später davonschleichen, um ein nächtliches Bad zu nehmen. Wir lassen uns nackt ins Wasser gleiten, während die Mücken im Mondlicht tanzen.