Читать книгу Ultramarin - Henrik Tandefelt - Страница 5
Prolog
ОглавлениеNatürlich habe ich richtig gehört, denkt er. Die Treppe zum Obergeschoss hat geknarrt. Ist da jemand? Wer soll das sein um diese Zeit? Dimitri? Ein Patient? Wohl kaum. Nicht so spät am Abend. Sicher nur die Katze. »Miez, miez ... komm, Mikko, na komm, mein Alter, bekommst noch ein bisschen Milch.« Er tastet im Dunkeln nach dem Lichtschalter. Der Regenschirm fällt von der Hutablage. Wo ist nur der Korb mit den Eiern geblieben, die er aus dem Hühnerstall geholt hat? Er ärgert sich, dass er in seinem Spareifer das Licht nicht angelassen hat, doch Geldverschwendung geht ihm prinzipiell gegen den Strich. Alles kommt einem irgendwann zugute. Früher oder später. Vor allem später, denkt er, aber das macht ihm nichts aus.
Da! Er spürt den Lichtschalter unter seinen Fingern, knipst die trübe 25-Watt-Birne im Flur an und dreht sich um.
Ein Schlag. Ein weiterer Schlag, ohne ein Wort. Jens Bäck, 85, fällt schwer zu Boden.
Ich sehe dich!, will er rufen, doch seine Stimme versagt ihm den Dienst. Ich sehe dich genau. Er kommt auf die Knie, sucht im Dunkeln nach einem Halt, streckt seine Hand nach dem Regenschirm aus, der auf dem Boden liegt, will sich verteidigen. Weitere Schläge treffen seinen Körper und seinen Kopf. Er fällt aufs Gesicht und bleibt liegen.
Wer nur? Verwirrende Gedanken. Ein Dieb? Ein gewöhnlicher Dieb, natürlich. Der glaubt wohl, dass ich immer noch Medikamente in meinem Haus aufbewahre. Verdammter Idiot! Ich bin zwar Arzt, aber mit Drogen kann ich nicht dienen. Ich bin längst im Ruhestand. Er versucht es auszusprechen, die Worte zu formulieren, bringt aber keinen Ton heraus. Fremde Schritte in seinem Haus. Jemand sucht etwas. Stößt gegen Einrichtungsgegenstände. Er selbst kann sich kaum bewegen. Langsam, unter Schmerzen, versucht er sich umzudrehen. Er will sehen, wer da ist. Bäcks Körper fühlt sich dumpf und schwerfällig an, doch er ist zäh. Dreh dich um, du Schwein!, knurrt er lautlos. Versucht alles. Kämpft. Schließlich gelingt es ihm, sich auf die Seite zu rollen.
Die Schritte nähern sich. Er bekommt einen Tritt. Bleibt wehrlos auf dem Rücken liegen. Die kleine Deckenlampe verlischt langsam, bis alles dunkel ist und seine Mutter ruft: »Komm, Jens, es gibt Frühstück!« Sie ruft aus der Küche. Draußen ist es Winter. Nein, Sommer. Der Lehrer hinter dem Katheder blickt ihn auffordernd an. »Was sagt dir die Reformation, Jens?« Oh, nein, nicht schon wieder. Gun ist so sanft. Sie riecht gut, aber ... Staffan riecht auch gut, sogar noch besser ... sein großes Geheimnis. Er denkt viel darüber nach. Kann man? Was? Wo ist Dimitri? Komm und hilf mir! Warum hilft Dimitri nicht? Ist er nicht zu Hause? Wer hat mich niedergeschlagen? Ist er immer noch da?
Langsam kehrt das Licht an der Decke zurück. Seltsam. Er dreht sich mühsam auf die Seite, winkelt die Beine an. Embryonalhaltung.
Wer? Warum? Er will nachsehen, ob etwas gestohlen wurde, doch er kann weder den Nacken bewegen noch den Kopf heben. Alles fällt so schwer. Nichts funktioniert. Hilflos liegt er auf dem Teppich im Flur. Verdammter alter Körper. Ich bin müde. Sehr müde. Hab keine Kraft mehr. Der Welpe, den er am Wochenende in Pension genommen hat, schleckt ihm das Ohr ab.
Verflixte Zeitungsstapel, verfluchte Dunkelheit. Er kann nichts erkennen. Ist der Dieb weg? Er horcht mit geschlossenen Augen und spürt die Kälte über den Boden kriechen. Das weiche Moos des Waldes. Eichhörnchen, Ameisen. Den Korb voller Beeren. Zum Dessert gibt es Heidelbeerkuchen, tröstet er sich, während sein Körper in der Zugluft von der Haustür taub wird.
Als sie ihn fanden, war er immer noch bewusstlos. Mit dem Taxi brachten sie ihn ins Krankenhaus. Das ging am schnellsten. Die Köchin der Schule begleitete ihn. Früher einmal hatte sie als Krankenschwester gearbeitet. Was sie in der Theorie nicht konnte, beherrschte sie in der Praxis. Im Krankenhaus kümmerten sie sich sofort um ihn. Sein Zustand sei gar nicht so schlimm. Sagten sie.
Ein paar Wochen später, kurz nach Weihnachten, war er plötzlich und unerwartet gestorben. Der pensionierte Arzt Jens Bäck war tot. Wenige Tage vor seinem sechsundachtzigsten Geburtstag erlag er seinen Verletzungen. Niemand folgte seinem Sarg.