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KAPITEL 3
ОглавлениеFrauke wachte am nächsten Morgen viel zu früh für einen freien Samstag auf. Schuld war ihr Handy. Sie hatte vergessen, die Weckfunktion auszustellen, und nun drangen aus ihrem Smartphone die ersten Takte von Morning Glory von Oasis.
Sie tastete im Halbschlaf nach dem Telefon, und mit einem Wisch verstummte die Musik. Isa neben ihr murmelte etwas Unverständliches, atmete dann aber ruhig und gleichmäßig weiter. Es brauchte schon etwas mehr als ein bisschen Gedudel, um sie aus dem Schlaf zu reißen.
Frauke wusste, dass sie nicht wieder einschlafen würde, und entschied sich deshalb fürs Aufstehen.
Während sie in Jogginghose und Hoody schlüpfte, betrachtete Frauke ihre Freundin. Isa lag in Embryonalstellung mit dem Gesicht zu ihr. Sie hatte die Decke bis zum Kinn gezogen. Man sah nichts von ihr außer einer Flut langer, brauner Haare, die ihr wunderschönes Gesicht zur Hälfte verdeckten. Frauke hatte Isa schon oft im Schlaf betrachtet. Immer wieder war sie fasziniert davon, wie anders sie dann aussah. Hilflos und schutzbedürftig. Frauke war jedes Mal ganz gerührt davon.
Sie knipste die Nachttischlampe aus und verließ die Schlafkabine.
Den Wohnwagen samt Vorzelt hatte Frauke vor fünf Jahren von einem Rentnerehepaar übernommen, denen es aus gesundheitlichen Gründen nicht mehr möglich war, dauerhaft auf einem Campingplatz zu leben. Sie hatte von dem Verkauf rein zufällig gelesen. Seit sie zwanzig war, hatte sie davon geträumt, so zu wohnen. Unabhängig und im Grünen. Zusammen mit dem fest verbauten Vorzelt hatte sie in ihrem neuen Zuhause mehr Wohnfläche zur Verfügung als in ihrem Appartement in der Hammerstraße, wo sie nicht mal einen Balkon gehabt hatte.
Frauke goss sich einen grünen Tee auf und hockte sich dann mit angezogenen Beinen auf die Bank der Sitzecke. Auf dem Tisch lag die Zeitung von gestern. Sie schlug sie auf, aber ihre Gedanken waren ganz woanders. Rainer hätte gestern nicht diese Anspielung machen sollen. Warum hatte dieser Mann nicht einfach seine Klappe gehalten? Und warum war sie darauf angesprungen? Das war wohl die viel entscheidendere Frage. Sie hätte das ignorieren müssen.
Seit Februar war Frauke jetzt mit Isa zusammen. Vor sieben Monaten war Isa zu ihr auf den Campingplatz gezogen. Von Zusammenziehen war da eigentlich noch gar keine Rede gewesen. Aber Isa war wegen Eigenbedarfs gekündigt worden, und so hatten sie beschlossen, es zu probieren. Frauke wusste, dass das Wohnen auf dem Campingplatz nur ein großes Experiment für Isa war. So wie alles, auf das sich Isa einließ. Alles war wie ein Spiel für sie. Auch die Beziehung zu ihr.
Frauke pustete in ihren Becher. Sie überlegte, ob sie Isa mit Brötchen zum Frühstück überraschen sollte, wurde aber durch ein Klopfen an eines der Fenster aus diesem Gedanken gerissen. Frauke war vor Schreck zusammengefahren, sodass etwas von dem Tee auf ihrem Handrücken gelandet war. Sie stieß einen Fluch aus, zwängte sich hinter der Bank hervor und spähte aus dem Fenster. Draußen stand eine wild gestikulierende Corinna mit ungekämmten Haaren und im Jogginganzug.
Frauke schob das Fenster ein Stück auf. »Was ist los? Braucht ihr Kaffee?«
Corinna schüttelte den Kopf. »Ihr müsst sofort zur Rezeption kommen. Es geht um Rainer. Er ist tot! Die Polizei ist schon unterwegs.«
Eva Mertens, Kommissarin bei der Kripo Münster, und ihr Kollege Tim Novak schauten auf den Mann hinunter, der vor ihnen am Boden lag. Unter seinem Kopf hatte sich eine riesige, dunkelrote, fast schwarze Blutlache sternförmig ausgebreitet.
»Was ist mit ihm passiert?«, fragte Tim den Notarzt, der vor der Leiche kniete, und fügte hinzu: »Bin ich froh, dass ich noch keine Zeit zum Frühstücken hatte.«
»Jemand hat ihm mit voller Kraft eine Weinflasche auf den Kopf geschlagen. Anschließend muss dem Täter die Flasche aus der Hand gefallen sein oder er hat sie fallen gelassen. Jedenfalls ist sie auf dem Boden zersprungen. Was Sie hier sehen, ist nicht nur Blut, sondern zum Teil auch Rotwein.«
Jetzt erst nahmen Eva und Tim die Scherben wahr, die um den Mann herumlagen.
»Wo ist der Rest der Flasche?«, fragte Eva. »Der Flaschenhals und der Boden?«
»Nicht hier«, antwortete Dr. Jaspers. »Der Täter wird die Teile wohl eingesammelt haben. Was Sinn ergibt, immerhin handelt es sich um die Tatwaffe. Und Fingerabdrücke auf Flaschen sind ja für die Beweisaufnahme ein reines Geschenk.«
Eva betrachtete das Opfer zu ihren Füßen aufmerksam. Der Anblick war grausig. Dabei war es gar nicht mal die schwere Kopfverletzung, die so abschreckend wirkte. Die konnte man, aufgrund des vielen geronnen Blutes, nur erahnen. Es war vielmehr sein Gesicht. Unter beiden Augen hatten sich Blutergüsse gebildet. Sie leuchteten wie zwei dunkelviolette Halbmonde. Es schien, als hätte der Täter sein Opfer nicht nur mit einer Weinflasche erschlagen, sondern ihm auch noch zwei blaue Augen verpasst. Außerdem war die Leichenstarre bereits voll ausgeprägt. Die Gesichtszüge wirkten maskenhaft, so wie es für dieses Stadium typisch war. Aber da war noch etwas anderes. Die linke Gesichtshälfte war ein Stück abgesackt, als hätte der Mann kurz vor seinem Tod eine schiefe Grimasse geschnitten, die dann so geblieben war.
»War er sofort tot?«, fragte Eva.
»Genau kann ich das nicht sagen. Aber er war sofort ohne Bewusstsein. Es sieht nach einer Felsenbeinfraktur aus, also ein Schädelbasisbruch. Dafür sprechen die Blutergüsse unter den Augen und die Gesichtsnervenlähmung. Die erkennt man an den asymmetrischen Gesichtszügen. Das Schädeldach wird auch gebrochen sein. Eine volle Weinflasche kann schon einiges anrichten. Beide Frakturen sind nicht unbedingt tödlich, aber in diesem Fall wird es durch die Wucht des Schlags zu einer Hirnblutung gekommen sein, die dann zum Tod geführt hat. Die Gerichtsmedizin wird Ihnen da ja noch Genaueres zu sagen. Für den Moment können wir festhalten, dass der Tod durch brachiale, vermutlich spontane Gewalteinwirkung auf den Kopf herbeigeführt wurde.«
»Man, man, man«, sagte Tim und wandte den Blick ab.
Eva entging nicht die Blässe in seinem Gesicht. Der Anblick des Mordopfers schien Tim diesmal mehr zuzusetzen als sonst. »Ungefährer Todeszeitpunkt?«, fragte sie den Arzt.
»Ich denke, dass der Tod zwischen 20 und 23:30 Uhr eingetreten ist. Viel später sicher nicht. Bei dieser Kälte dauert das Voranschreiten der Leichenstarre viel länger. Aber der Leichnam ist schon komplett versteift. Das indiziert einen Todeszeitpunkt vor Mitternacht.«
Ein Motorengeräusch erklang, und Tim und Eva hoben die Köpfe. Auf der Zufahrt zum Campingplatz, die rechts und links von blattlosen Bäumen gesäumt war, näherte sich ein Auto.
»Wir machen mal Platz für die Kollegen der Kriminaltechnik und kümmern uns um das Trüppchen da drüben«, sagte Eva zu Dr. Jaspers. »Da ist wahrscheinlich auch die Dame dabei, die den Toten gefunden hat, oder?«
»Ja. Das sind Dauercamper. Die wohnen alle hier auf dem Campingplatz, und dafür haben sie meine volle Bewunderung. Ich bin auch leidenschaftlicher Camper, aber nur bei Außentemperaturen jenseits der zwanzig Grad.« Dr. Jaspers teilte Eva und Tim noch mit, dass er sich auf den Weg machen werde, sobald er den Totenschein ausgestellt habe.
Der Tatort, zu dem Evas und Tims Chef sie heute Morgen bestellt hatte, befand sich auf einem Campingplatz. Das Opfer, Rainer Heffner, war der Besitzer des Platzes gewesen.
Bis heute Morgen hatte Eva nichts von diesem Campingplatz gewusst, obwohl er nicht mal fünf Kilometer von Münsters Innenstadt entfernt war. Um genau zu sein, hatte sie auch noch nie etwas von der Bauernschaft Hofkamp gehört, zu der der Campingplatz gehörte – wunderschön gelegen direkt am Ufer der Werse, umgeben von alten Bäumen, Feldern und Weiden.
Auf dem Weg zu der kleinen Menschenansammlung sagte Eva zu Tim: »Du siehst total erledigt aus. Warst du feiern?«
»Feiern? Ich wüsste nicht, wann ich das letzte Mal feiern war. Nein, Louis hat die ganze Nacht geschrien. Er leidet unter Blähungen. Ich sage dir, ich bin so am Ende. Ich könnte im Stehen einschlafen.«
»Es ist aber auch ein Pech, dass immer wir beide Bereitschaft haben, wenn etwas passiert.« Evas Gedanken wanderten kurz zu ihrer Kollegin und Freundin Katharina Klein, die das Wochenende mit ihrem Freund im Sauerland verbrachte. Sie hielt Tim eine Schokokugel in goldenem Alupapier hin, doch der schüttelte den Kopf. »Danke, aber so früh am Morgen kann ich noch keine Schokolade essen.«
»Nein?« Eva war erstaunt. Nach ihrer Meinung war das Genießen von Schokolade völlig unabhängig von der Tageszeit. »Das tut mir leid mit dem Kleinen. Aber toll, dass du Annkathrin unterstützt und nicht alles ihr überlässt.« Sie wickelte die Schokokugel aus und schob sie sich in den Mund.
»Das würde Annkathrin gar nicht zulassen. Da muss man sich keine Sorgen machen.«
Eva zog ihren Strickschal fester um den Hals. Es war empfindlich kalt heute Morgen. Fast so eine trockene Kälte, wie man das vom Januar kannte. Sie warf Tim einen Blick zu, der die Hände in den Hosentaschen vergraben hatte und mit hochgezogenen Schultern neben ihr her stapfte. Kein Wunder, er trug nur eine dünne Jeansjacke.
Tim hatte gerade seinen dreiundvierzigsten Geburtstag gefeiert. Seit vier Monaten war er Vater und im Gegensatz zu seiner Freundin, die immer einen ausgeruhten und entspannten Eindruck machte, schien Tim die neue Lebenssituation ziemlich zu schlauchen. Das muntere Glitzern in seinen eisblauen Augen hatte Eva jedenfalls schon lange nicht mehr gesehen. »Das erste von dreien«, hatte er zu Katharina und ihr gesagt, als sie im Kling-Klang auf die Geburt seines Sohnes angestoßen hatten. Eva fragte sich, ob diese Familienplanung immer noch aktuell war.
Sie erreichten die kleine Gruppe, und Eva widmete ihre Aufmerksamkeit den vier Frauen und zwei Männern, die eng beieinanderstanden und sich mit den beiden Streifenpolizisten unterhielten. Alle trugen sie gefütterte Jacken, Mützen und festes Schuhwerk. Camper halt, dachte Eva und sagte in die Runde: »Guten Morgen zusammen.«
»Moin, moin«, grüßte der ältere der beiden Polizisten und übertönte mit seiner sonoren Stimme das Gemurmel der anderen.
Eva ließ ihren Blick über die Dauercamper gleiten, und plötzlich entfuhr ihr ein kleiner Überraschungsschrei. »Onkel Horst!«
Fast zeitgleich stieß die älteste der vier Frauen, eine kleine, mollige Person in einer lila Steppjacke, einem Mann mit stattlichem Bauch in die Seite. »Das ist ja die Eva!«
»Mensch, das gibt es ja gar nicht!«, rief Eva. »Euch habe ich ja ewig nicht gesehen!«
Horst und Erika Lohoff lösten sich aus der Gruppe und schlossen Eva in ihre Arme. »Mädchen, Mädchen«, sagte Horst und schob Eva, seine großen Hände lagen immer noch schwer auf ihren Schultern, ein Stück von sich weg. »Wie lange ist das her? Zehn Jahre doch bestimmt. Bei dem sechzigsten Geburtstag deines Vaters muss das gewesen sein. Wie alt bist du jetzt? Hast du die vierzig schon geknackt?«
»Ja«, sagte Eva. »Seit dem Sommer.«
Horst zog Eva wieder an sich und drückte sie noch mal fest. »Siehst aber immer noch top aus, Evalein.« Er strich Eva über ihr schwedenblondes, langes Haar, das sie heute ausnahmsweise offen trug. Seidig und glänzend quoll es unter ihrer Wollmütze hervor.
»Ihr kennt euch?«, schaltete Tim sich ein.
»Ja. Das sind Erika und Horst Lohoff. Sie haben früher neben meinem Elternhaus gewohnt. Ich kenne sie schon mein ganzes Leben.« Eva schaute dabei Erika an, und für einen kurzen Augenblick trat in die Augen ihrer früheren Nachbarin ein schmerzlicher Ausdruck. Sie trug es immer noch in sich, stellte Eva fest, das Trauma von damals. Auch nach so vielen Jahren noch.
Genauso plötzlich war Erikas Blick aber wieder klar, und sie sagte: »Das stimmt.« Sie tätschelte Evas Oberarm. »Wir haben Eva schon als Baby im Arm gehalten, ihre ersten Laufversuche miterlebt und waren dabei, als sie kopfüber die Kellertreppe hinuntergefallen ist. Weißt du noch, Eva? Du hattest eine schwere Gehirnerschütterung.«
»Ach so«, sagte Tim. »Ich hatte schon verwandtschaftliche Beziehungen vermutet, wegen ›Onkel‹.«
»Nein, nein«, sagte Eva lächelnd. »Das ist so hängen geblieben. Nur ganz, ganz liebe Nachbarn von früher.«
Tim wandte sich an die gesamte Gruppe. »Es ist bestimmt ein großer Schock für Sie, so ein Verbrechen hautnah mitzuerleben. Für unsere Ermittlungen ist es aber wichtig, möglichst schnell Informationen über die letzten Tage und Stunden in Herrn Heffners Leben zu bekommen. Wo können wir reden?«