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KAPITEL 5
ОглавлениеVielleicht hätte sie sich doch krankschreiben lassen sollen, überlegte Katharina Klein, als sie sich am Montagmorgen die Treppen des Polizeipräsidiums zum dritten Stock hochquälte. Dr. Gärtner hatte ihr das nahegelegt, aber Katharina hatte abgelehnt. Sie saß nicht gern untätig zu Hause herum, während alle anderen ihren Beschäftigungen nachgingen.
Ein unangenehmes Pochen im rechten Knie, das auf die doppelte Größe angeschwollen war, hatte sie in der vergangenen Nacht kaum schlafen lassen, und beim Treppensteigen fühlte es sich an, als bohrte sich ein Nagel durch ihre Kniescheibe.
Fünf Treppenstufen lagen noch vor ihr. Nicht, dass es keinen Aufzug in Münsters Polizeipräsidium gab, aber der war wie üblich defekt. Von hinten hörte Katharina Schritte, dann ertönte eine vertraute Stimme.
»Hey Kati!«
Die eine Hand am Geländer drehte Katharina sich umständlich um.
Eva kam die Treppe herauf. »Sag mal, humpelst du?« Sie hielt ein angebissenes Quark-Schoko-Brötchen in der Hand und deutete damit fragend auf Katharinas Bein. »Bist du etwa gestürzt? Ich habe dir ja gleich gesagt, dass es ein Wahnsinn ist, mit einem Mountainbike durch die Berge zu rasen.«
Katharina umarmte Eva. »Allerdings ist ein Mountainbike genau dafür gemacht. Aber wir waren, wie du ja weißt, nicht in den Bergen, sondern nur im Sauerland.«
»Das Sauerland ist bekannt für seine Berge.«
»Mag sein, aber wo wir waren, gab es nur bewaldete Hügel. Gestürzt bin ich aber trotzdem. Allerdings nicht beim Radfahren, sondern auf dem Weg zum Frühstück.«
»Wie schafft man das denn?« Eva hatte Katharina untergehakt. Zusammen stiegen sie die letzten Stufen hinauf und bogen in den Flur ein, in dem das KK 11 untergebracht war.
Katharina erzählte Eva, wie sie am Sonntagmorgen die steile Treppe vom Dachzimmer ihrer Pension hinabgestiegen war und dabei die taube, uralte Katze des Hauses übersehen hatte. Die hatte sich auf einer der Stufen zum Schlafen zusammengerollt. Sie war auf sie getreten, hatte das Gleichgewicht verloren und war die Treppe hinuntergefallen. »Jetzt habe ich einen Kapselriss im Knie.«
Eva verzog das Gesicht. »Tut es sehr weh?«
»Und wie. Ich habe ein Rezept für ein Schmerzmittel, aber ich war noch nicht in der Apotheke.«
»Ach, du Arme«, Eva drückte Katharinas Arm. »Und während du im Sauerland über Katzen stolperst, haben wir es hier seit Samstagmorgen mit einem neuen Mordfall zu tun.«
»Habe ich schon gehört. KD hat mir gestern Abend noch eine Nachricht geschickt von wegen Besprechung um neun Uhr. Deshalb habe ich es auch nicht vorher zur Apotheke geschafft. Hast du zufällig eine Ibuprofen oder so etwas dabei?«
»Ich nicht, aber Birgit bestimmt. Hoffentlich war das taube Kätzchen nicht schwarz.«
Sie passierten Bürotüren, die teils offen, teils geschlossen waren, und grüßten nickend Kollegen, die ihnen geschäftig entgegenkamen. Im Flur roch es nach einer Mischung aus Kaffee und Bohnerwachs.
»Es war kein Kätzchen, sondern ein dicker Kater, pechschwarz und dem Namen Diabolo.«
»Das ist schlecht«, meinte Eva. »Das wird dir sieben Jahre Unglück bringen.«
Katharina sah Eva von der Seite an und stieß ein belustigtes Lachen aus. »Quatsch. Eine Katze von links bringt Unglück. Aber nicht sieben Jahre. Mit den sieben Jahren, das war etwas anderes.«
Eva zuckte mit den Schultern. »Schwarze Katzen bringen Unglück. Ob von links oder rechts oder von vorn. Das ist ganz egal.«
»Das meinst du nicht ernst, oder? Diese abergläubische Seite kenne ich ja gar nicht an dir.«
Eva blieb stehen und legte mit ernster Miene eine Hand auf Katharinas Schulter. »Katharina«, flüsterte sie, als befände sie sich in einer Kirche. »Pass auf dich auf. Schwarze Katzen sind Boten der dunklen Seite. Wenn sie deinen Weg kreuzen, dann passieren schlimme Dinge.«
Katharina starrte in Evas weit aufgerissene, blaue Augen und Eva starrte zurück, bis sie in heftiges Gekicher ausbrach. »Scherz, Kati, nur ein Scherz! Aber dein Gesicht gerade, das war grandios!« Eva lachte noch immer als die beiden Kommissarinnen das Besprechungszimmer betraten.
Katharina brummelte vor sich hin: »Sehr witzig.«
Es waren schon alle versammelt, nur Klaus-Dieter Franke, der Leiter des Kriminalkommissariats 11, fehlte noch. Außer Eva, Tim und Katharina gehörten noch Birgit Prigge und Jörn Kuttner zum engeren Kreis.
Birgit sah von ihren Unterlagen auf. »Nanu, Eva, so gut drauf am Montagmorgen?«
Eva ließ sich neben der älteren Kollegin auf den Stuhl plumpsen. »Ja, bin ich. Hast du eine Schmerztablette für unsere Kati? Sie hat ein dickes Knie.«
Birgit wollte wissen, was passiert war, und während Katharina von ihrem Sturz erzählte, fischte sie aus ihrer Tasche einen angebrochenen Blister mit Tabletten. Eva organisierte ein Glas Leitungswasser.
»Nehmt ihr beide auch Kaffee?«, fragte Birgit. Sie war neunundfünfzig und Mutter von vier erwachsenen Kindern, die bereits alle das Haus verlassen hatten. »Jetzt habe ich nur noch Mattes, den ich verwöhnen kann, und euch«, pflegte sie zu sagen und brachte regelmäßig Selbstgebackenes mit und kochte unermüdlich für alle Kaffee. Sie war es auch, die dafür sorgte, dass in dem ansonsten schmucklosen Besprechungsraum ab und an ein paar frische Schnittblumen der bedrückenden Trostlosigkeit trotzten.
Katharina hielt Birgit einen Kaffeebecher hin. Birgit schenkte ihr ein, als sie plötzlich von Tim aus Versehen angestoßen wurde. Ein Schwall des heißen Getränks landete auf Katharinas Handrücken.
»Mein Gott! Kati, Entschuldigung! Oh nein!« Birgit stellte hektisch die Warmhaltekanne ab. »Du musst die Hand sofort unter kaltes Wasser halten.«
Katharina humpelte fluchend zu dem kleinen Handwaschbecken in der Ecke des Raums. Dabei entging ihr nicht, wie Eva, lautlos aber überdeutlich, mit dem Mund zwei Worte formte: s-c-h-w-a-r-z-e K-a-t-z-e.
Es vergingen noch zehn Minuten, dann betrat Klaus-Dieter Franke, der von allen nur KD genannt wurde, den Besprechungsraum. Der Leiter des Kriminalkommissariats 11, der seit dem Tod seiner Frau ausnahmslos schwarz trug, war über 1,90 Meter groß und hatte die Statur eines Marathonläufers. Vor einigen Monaten hatte er sich sein grauschwarzes Haar von einer normalen Länge auf drei Millimeter kürzen lassen. Der rasierte Kopf betonte sein hageres Gesicht und ließ ihn noch mehr aussehen wie einen ehemaligen Hochleistungssportler.
Er hielt sich nicht lange mit der Begrüßung auf, sondern erläuterte Katharina kurz und knapp den aktuellen Stand der Ermittlungen im Fall Heffner. Kurze Zeit später war Katharina darüber im Bilde, dass man von einem Mord im Affekt ausging. Gegen einen geplanten Mord sprach, dass Rainer Heffner mit seiner eigenen Weinflasche erschlagen worden war. Der Täter hatte demnach keine Tatwaffe mit sich geführt. Vermutlich war dem Mord ein Streit vorausgegangen, was auf eine Beziehungstat schließen ließ.
Tatjana Peitz, die Gerichtsmedizinerin, mit der sie häufig zu tun hatten, erwähnte in ihrem Obduktionsbericht, dass der Schlag mit der rechten Hand ausgeführt worden sei. Außerdem verwies sie darauf, dass der Täter oder die Täterin auf keinen Fall größer als Heffner gewesen sei, sonst wäre er weiter oben am Kopf getroffen worden. Zu der Frage, ob es sich beim Täter eher um einen Mann oder eine Frau handelte, hatte Tatjana keine eindeutige Aussage getroffen. Mit einer vollen Weinflasche einem anderen Menschen eine tödliche Kopfverletzung beizubringen, bedurfte es keiner außergewöhnlichen Körperkraft.
Katharina erfuhr außerdem, dass es acht Personen gab, die es näher zu überprüfen galt. Die sechs Dauercamper, ein Nachbar und ein noch nicht näher identifizierter Mann mittleren Alters, eventuell obdachlos.
»Etwas, das annähernd als heiße Spur bezeichnet werden kann, haben wir noch nicht. Auch die Durchsuchung von Heffners Wohnung hat nichts ergeben«, erläuterte KD. »Mit den Dauercampern sind am Wochenende erste allgemeine Fragen geklärt worden. Jetzt geht es darum, mehr ins Detail zu gehen. Da würde ich gerne euch«, KD sah Birgit und Jörn an, »weiter drauf ansetzen.«
Die beiden nickten, und Tim sagte: »Wir tun sicher gut daran, diesen Herrschaften intensiv auf den Zahn zu fühlen. Die Kündigung der Pachtverträge war für alle ein Schock, und sie haben auch kein Geheimnis daraus gemacht, dass sie den Heffner nicht leiden konnten. Und sorry, Eva, aber vor allem Onkel Horst würde ich ganz besonders unter die Lupe nehmen.«
»Jetzt hör doch mal mit diesem Onkelquatsch auf«, fauchte Eva.
»Horst Lohoff«, sagte sie dann ruhiger, aber ihre Stimme klang, als zerrisse man ein Stück Stoff, »mag etwas aufbrausend sein, ist aber im Kern zahm wie ein Kaninchen.«
Tim machte eine beschwichtigende Geste. An Katharina gewandt sagte er: »Vielleicht weißt du es noch gar nicht, aber unter den Dauercampern befinden sich Onkel Horst und Tante Erika. Das sind ehemalige Nachbarn von Eva, und die sind erst mal per se über jeden Verdacht erhaben.« Tim wandte sich wieder Eva zu. »Ganz so harmlos kann dein Horst aber nicht sein. Sein Übergriff auf Rainer Heffner war jedenfalls keine Bagatelle, so wie Frauke Themsen und Isa Brinkmann den Vorfall beschrieben haben.«
»Wie auch immer«, schaltete KD sich ein. Er wandte sich wieder Birgit und Jörn zu. »Ihr müsst euch alle sechs vornehmen.« Er setzte sich halb auf einen Tisch und verschränkte die Arme vor der Brust.
»Was ist mit dem Büro?«, fragte Jörn. »Das haben wir auch noch nicht gründlich angeschaut.«
Katharina betrachtete ihren Kollegen. Sie fand es immer wieder bemerkenswert, wie stark sein süddeutscher Akzent inzwischen nachgelassen hatte. Er sei erfolgreich integriert, pflegte Jörn zu sagen. Nur seinem Kleidungsstil war er treu geblieben. Nach wie vor kam er mit Jackett und Hemd zur Arbeit.
»Da müsst ihr auf jeden Fall rein«, sagte KD. »Schaut euch auch seinen Computer an. Wenn nötig, bringt Akten und Unterlagen mit hierhin. Tim und Eva, ihr versucht euer Glück heute bei Martin Hülskamp. Er müsste ja gestern Abend von seinem Jagdausflug wiedergekommen sein. Und wenn ihr schon in Hofkamp seid, könnt ihr auch gleich noch mal zu den beiden Höfen fahren, wo ihr gestern niemanden angetroffen habt. Vielleicht kann ja von denen jemand mehr über diesen unbekannten Mann sagen oder hat ihn zumindest mal irgendwo gesehen.«
Katharina rutschte auf ihrem Stuhl ein Stück nach vorne. »Und was mache ich?«, fragte sie, und eine leise Ahnung erwachte in ihr.
»Du«, sagte KD betont munter, »du stellst Recherchen zu Rainer Heffners Privatleben und seiner Vergangenheit an. Bislang wissen wir noch nicht allzu viel über ihn. Nur, dass er bis zu seiner Pensionierung vor zwei Jahren Lehrer an einer Realschule in Rinkerode war und keine Familie hatte. Er ist früh Witwer geworden, seine Eltern leben ebenfalls nicht mehr, Geschwister hat er keine und auch sonst keine näheren Verwandten. Aber was ist mit Freunden, Nachbarn und Hobbys? Die Dauercamper erwähnten eine Mitgliedschaft in einem Wanderverein. Mit diesen Fragen kannst du erst mal anfangen.«
»Ich soll also hier im Präsidium bleiben und mich ans Telefon hängen?«
»Genau das«, bestätigte KD. »Glaubst du, ich lasse dich in deinem Zustand durch die Gegend humpeln?«
Katharina verdrehte die Augen. »Ich habe einen Kapselriss und kein amputiertes Bein.«
KD schüttelte den Kopf. »Es muss auch jemand den persönlichen Hintergrund des Opfers abklopfen, solange wir noch keinen konkreten Verdacht haben. Das ist genauso wichtig wie die Befragungen, und du bist sehr gut in dieser Art der Ermittlungsarbeit. Und was deine Verletzung angeht – ich hatte auch schon mal einen Kapselriss, da hilft nur eins: schonen, schonen, schonen.«