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KAPITEL 2

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2019

Als Rainer Heffner seine kurze Ansprache beendet hatte, herrschte im Aufenthaltsraum des Campingplatzes Werseparadies brodelndes Schweigen. Sechs Augenpaare starrten ihn auf eine Weise an, die es ihm unmöglich machte, aufzustehen und die Runde aufzulösen.

Entscheidung mitteilen, Begründung nachschieben, Ende der Diskussion. So war sein Plan gewesen. Doch ganz so einfach würde es wohl nicht werden. Vielleicht hätte er den Dauercampern die Kündigung ihrer Stellplätze besser einzeln beibringen sollen. Er wich ihren stummen Blicken aus und schaute zum Fenster hinüber. Kompakte Dunkelheit drückte sich von außen dagegen und verstärkte Rainers Gefühl, etwas losgetreten zu haben, das jetzt und hier außer Kontrolle geraten könnte.

Diese Ahnung wurde zur Gewissheit, als Horst Lohoff seine riesigen Pranken auf den Tisch knallte und damit die Stille zum Platzen brachte. Er hievte sich hoch. Das Gesicht so dunkelrot wie eine überreife Tomate. »Was hast du gerade gesagt?! Du kündigst uns die Stellplätze? Du aufgeblasener kleiner Dorfschullehrer, du …«

»Horst!« Erika Lohoff zupfte am Pulloverärmel ihres Mannes.

»Was denn, Erika? Hast du verstanden, was der Idiot gerade gesagt hat? Er will uns vom Platz schmeißen. Nach über zwanzig Jahren sollen wir unseren Stellplatz räumen!« Horst starrte Rainer über den Tisch hinweg an. »Das werden wir nicht zulassen! Das kann ich dir versprechen! Ich verschwinde hier nicht freiwillig!«

Rainer hob beschwichtigend die Hände. Er war ein großer, athletischer Mann, mit einem länglichen, von Sonne und Wind gezeichneten Gesicht. Sein immer noch volles Haar war eisgrau, genauso wie der kurz gestutzte Vollbart. Wie immer trug er eine Cargohose, Trekkingschuhe und einen Fleecepullover mit Reißverschluss. Auf den ersten Blick wirkte Rainer wie ein sympathischer Naturbursche in den Sechzigern. Tatsächlich hatte er im April seinen siebzigsten Geburtstag gefeiert. »Du hast offenbar nicht richtig zugehört, Horst. Ich schmeiße euch nicht vom Platz. Ich biete euch andere Stellplätze an, die ihr im Sommer nutzen könnt.«

»Ja, schönen Dank auch.«

Rainer nahm seine Brille ab und begann sie umständlich zu putzen. »Wie ich schon sagte, ich will das Konzept des Campingplatzes verändern. Er wird nur noch von März bis Oktober geöffnet haben. Weniger Wohnwagen und Zelte, dafür mehr Mobilheime. Eure drei Stellplätze sind prädestiniert dafür. Es sind die größten auf dem Platz und liegen direkt an der Werse. Ich wäre ja bescheuert, das nicht zu nutzen.« Während er sprach, fand Rainer zu seiner alten Selbstsicherheit zurück. Er war nun mal der Eigentümer des Campingplatzes und konnte tun und lassen, was er wollte. Horst plusterte sich sowieso bei jeder Gelegenheit auf wie ein Hahn im Hühnerhof. Das musste man nicht weiter ernst nehmen. Er setzte die Brille wieder auf.

Horst gab ein Schnaufen von sich. Bevor er aber etwas sagen konnte, fiel ihm Sebastian Lewandowski ins Wort. »Aber warum setzt du die Mobilheime nicht dahin, wo die anderen stehen? Das macht doch viel mehr Sinn. Dann ist das wie eine kleine Siedlung.«

Rainer musterte Sebastian und dessen Frau Corinna abschätzig. Ein Paar mittleren Alters. Er, selbstständiger Steuerberater und ein Klugscheißer vor dem Herrn. Sie, Krankenschwester, bei der die Gefahr, sie könnte jemals mit einem Halbgott in Weiß durchbrennen, gegen Null tendierte. »Ich möchte aber«, Rainer sprach zu Sebastian in einem Ton, als würde er einem uneinsichtigen Erstklässler zum hundertsten Mal etwas erklären, »die neuen Mobilunterkünfte nun mal am Wasser haben. Schluss. Aus. Ende.«

»Aber du kannst uns doch nicht einfach vor vollendete Tatsachen stellen«, meldete sich Corinna zu Wort. Zwischen ihren viel zu dichten Augenbrauen bildete sich eine steile Falte.

Sie sollte nicht so ein Gesicht machen, dachte Rainer. Es machte sie älter und auch nicht unbedingt attraktiver.

»Kannst du uns überhaupt so einfach kündigen? Es gibt ja schließlich auch Fristen. Vor allem im Fall von Horst und Erika. Die haben ihren Platz ja schon so lange.« Corinna strich sich eine Strähne ihres aschblonden Haares hinter das Ohr.

Rainer seufzte. »Glaubt ihr denn, ich hätte mich nicht vorher abgesichert. Als ich den Platz vor einem Jahr übernommen habe, habe ich mir die Pachtverträge genau angeschaut. Walter Steinkötter hat in jeden Vertrag eine Klausel aufgenommen, nach der die Kündigungsfrist für beide Seiten drei Monate beträgt und zwar unabhängig von der Laufzeit des Vertrages.«

»Walter hätte uns niemals gekündigt«, murmelte Erika vor sich hin und schüttelte nachdrücklich den Kopf. »Niemals.«

»Ich muss auch sagen, Rainer, dass deine Entscheidung eine riesige menschliche Enttäuschung für mich ist«, ließ Frauke verlauten, und Isa, ihre Partnerin, fixierte ihn mit einem schwer zu deutenden Blick. »Du hast dich zwar hier von Anfang an aufgeführt wie ein kleiner König, aber das hätte ich dir nun doch nicht zugetraut.«

Rainer stieß Luft zwischen seinen Zähnen hervor. Frauke, dieses Mannsweib war ihm schon zu Beginn auf die Nerven gegangen. Vorlaut und ruppig. Eine Kampflesbe. Isa, dieses bildhübsche Ding mit Modelfigur, konnte nicht ganz gescheit sein, sich an so eine Frau zu hängen. »Mein Gott, ihr tut so, als ob ihr alle im kommenden April auf der Straße stehen würdet. Nun macht aber mal einen Punkt! Es ist jetzt Mitte November. Gekündigt habe ich euch zum 31.3. des kommenden Jahres. Ihr habt also jetzt viereinhalb Monate Zeit, euch was Neues zu suchen. Das sollte doch wohl reichen. Ihr vier«, Rainer zeigte nacheinander auf Sebastian, Corinna, Frauke und Isa, »ihr verdient doch gutes Geld. Ihr könntet euch doch sonst was leisten, nachdem ihr jetzt ein paar Jahre so günstig gewohnt habt.«

Ein lautes Krachen ließ die Gruppe zusammenfahren und die Bierflaschen und Weingläser leise klirren. Diesmal war es Sebastian, der seine geballte Faust auf den Tisch hatte sausen lassen. Als er anfing zu sprechen, zitterte seine Stimme vor unterdrückter Wut. »Du hast überhaupt nichts verstanden, Rainer! Es geht uns doch nicht ums Geld! Es geht uns um das Lebensgefühl! Wir fühlen uns in einer Wohnung nicht wohl. Natürlich könnten wir uns eine schicke, große Wohnung leisten. Aber das wollen wir gar nicht! Was wir wollen, ist das Campingfeeling. Und zwar das ganze Jahr durch. Uns reichen der Wohnwagen und das Vorzelt. Mehr brauchen wir nicht. Wir wollen diese Idylle hier und nicht eine Wohnung oder ein Haus. Das haben wir alles gehabt.«

Rainer schaute Sebastian überrascht an. So emotional hatte er den Steuerberater noch nie erlebt. Er schüttelte verständnislos den Kopf. »Verstehe ich nicht.« Er sah zu Frauke und Isa hinüber. »Am allerwenigsten übrigens bei euch beiden. Ihr seid doch noch jung. Ihr wollt doch bestimmt noch mal etwas anderes, als auf einem Campingplatz leben.«

»Was wir wollen oder nicht, muss dich doch gar nicht interessieren«, fauchte Frauke. »Im Moment wollen wir auf diesem Campingplatz leben und wenn wir es nicht mehr möchten, dann sagen wir Bescheid!«

Während Frauke redete, war Horst aufgestanden und einmal um den Tisch herum auf Rainer zugegangen. Seine Hände fuhren unablässig an der Naht seiner Hose auf und ab. Rainer sah Horst misstrauisch an. Das mulmige Gefühl von vorhin kehrte zurück. Horst brachte locker hundertzwanzig Kilo auf die Waage – und er war jähzornig. Rainer hatte ihn im Sommer ein paar Mal im Clinch mit anderen Campinggästen erlebt. Man tat gut daran, Horst Lohoff nicht zu reizen. »Was dich und Erika angeht«, versuchte Rainer Horst deshalb zu beschwichtigen, »so gibt es staatliche Unterstützung, wenn die Rente nicht reicht. Wohngeldzuschuss nennt sich das.«

»Wir wollen in keine Wohnung!«, brüllte Horst. »Kapierst du das nicht? Wir sind Camper!!«

»Horst, denk an deinen Blutdruck«, flehte Erika.

Doch Horst interessierte sich im Augenblick kein bisschen für seinen Blutdruck. Er legte eine Hand auf Rainers linke Schulter und drückte fest zu.

Rainer schnappte vor Schmerz nach Luft. »Hör auf damit!«, keuchte er. »Du tust mir weh.«

Horst beugte sich zu Rainer hinunter. Sein Atem roch nach Bier. »Das ist mir scheißegal, ob dir das wehtut. Frauke hat recht. Du hast von Anfang an so getan, als wärst du sonst wer. Und jetzt meinst du, du kannst uns einfach vor vollendete Tatsachen stellen und wir nicken brav dazu?«

Zwischen zusammengebissenen Zähnen stieß Rainer hervor: »Wenn ihr unbedingt euer Leben als Dauercamper fristen wollt, dann sucht euch doch einen anderen Cam…« Weiter kam er nicht.

Horst riss ihn an der Schulter auf die Füße, schleifte den überrumpelten Besitzer des Werseparadieses quer durch den Raum bis zur gegenüberliegenden Wand und drückte ihn unsanft dagegen. Dann ließ er Rainers Schulter los, umfasste aber dafür seinen Hals. Das alles geschah in einer Geschwindigkeit, die niemand Horst zugetraut hätte. Sprachlos starrten alle die beiden Männer an.

»Ich noch nie in meinem Leben dem Staat auf der Tasche gelegen!«, schrie Horst in einer Lautstärke, dass es in Rainers Ohren zu klingeln begann. »Da fange ich doch jetzt nicht damit an, nur weil so ein Hanswurst wie du meint, den großen Affen markieren zu müssen!« Seine Hand umklammerte Rainers Hals fester.

»Horst«, jammerte Erika.

Rainer versuchte vergeblich, Horsts Finger aufzubiegen, aber Horst verstärkte seinen Griff daraufhin nur. Aus Rainers Mund kam nur noch ein Röcheln.

»Hör auf! Lass ihn los! Du bringst ihn ja um!« Erika war zu ihrem Mann hinübergehastet und zerrte an seinem Arm.

Horst hatte wieder angefangen zu brüllen. »Ich bring dich um! Ich mach dich kalt!«

»Sebastian«, rief Erika kläglich über ihre Schulter, »komm her! Du musst mir helfen! Er ist ja nicht mehr bei Sinnen!«

Nicht nur Sebastian, alle sprangen sie auf und mit vereinten Kräften brachten sie Horst dazu, von Rainer abzulassen.

Sobald Rainer befreit war, beugte er sich vornüber und stützte sich mit den Händen auf seinen Knien ab, wie ein Hundert-Meter-Läufer im Ziel. »Der ist ja komplett irre«, stieß er hervor. »Der wollte mich umbringen!«

Horst hatte sich abgewandt und schlurfte mit hängenden Schultern zurück zum Tisch. Dort ließ er sich auf seinem Stuhl nieder, der unter seinem Gewicht gefährlich ächzte. Er griff nach seiner Bierflasche und leerte sie in einem Zug.

Sebastian und Corinna brachten Rainer, der unablässig mit einer Hand über seinen Kehlkopf fuhr, ebenfalls zum Tisch zurück. Isa rückte ihm, in gebührenden Abstand zu Horst, einen Stuhl zurecht. Niemand sonst setzte sich. Unschlüssig blieben sie zwischen den beiden Männern stehen, als wären sie nicht sicher, ob der Streit tatsächlich vorbei war.

Horst hielt seine leere Bierflasche im Schoß und hatte den Kopf gesenkt. Seine Wut war verflogen. Corinna reichte Rainer ein Glas Wasser. Er trank einige Schlucke und verzog schmerzhaft das Gesicht. »Ich habe bestimmt eine Kehlkopfquetschung.«

»Du hast ganz bestimmt keine Kehlkopfquetschung«, widersprach Corinna. »In dem Fall könntest du nicht so deutlich sprechen.«

»Wenn Sie das sagen, Frau Doktor. Aber ihr habt es alle gesehen, oder? Der wollte mich umbringen. Um ein Haar wäre ich erstickt.«

»Jetzt mach mal halblang«, sagte Sebastian. »Horst hätte dich schon nicht erwürgt.«

»Eiskalt gekillt hätte der mich.«

Erika hatte sich hinter Horst gestellt und ihm eine Hand auf die Schulter gelegt. Ihre Apfelbäckchen glühten noch röter als sonst. »Das ist Quatsch. Horst kann keiner Fliege was zuleide tun. Du hast ihn zur Weißglut getrieben, Rainer, mit deinem Gerede.«

Rainer schnaubte verächtlich. »Jetzt bin ich auch noch selber schuld, dass der Verrückte mich umbringen wollte, oder was?«

Horst erhob sich schwerfällig und sofort schnellte auch Rainer von seinem Stuhl hoch. Noch mal würde er sich nicht so überrumpeln lassen. Doch Horst kümmerte sich nicht um Rainer. »Erika! Wir gehen!« Er steuerte auf die Tür zu. Erika folgte ihm beflissen.

Rainer rief ihnen nach: »Das wird ein Nachspiel haben, Horst, das schwöre ich dir!« An die Übriggebliebenen gewandt sagte er: »Die Party ist zu Ende. Ich wünsche euch noch einen schönen Abend.« Mit diesen Worten begann er damit, die Flaschen und Gläser einzusammeln.

»Willst du es dir nicht noch mal überlegen?« Sebastian hatte nach seiner Jacke gegriffen.

»Nach dem Auftritt von Horst gerade? Der kann froh sein, wenn ich ihn nicht gleich morgen vom Platz jage.«

»Ach, komm, du kennst doch Horst. Der ist ruckzuck auf hundertachtzig und genauso schnell fährt er wieder runter. Wir könnten ja mal zusammen darüber nachdenken, ob wir etwas mehr an Pacht bezahlen.«

»Keine Chance. Ich habe mir das alles gut überlegt und durchgerechnet. Den Platz im Winter für sechs Dauercamper offenzuhalten, ist absolut unwirtschaftlich. Hinzu kommt, dass ich mir das mit den Mobilheimen in den Kopf gesetzt habe.« Rainer ging hinüber zur Theke. Als er sich umdrehte, stand Sebastian immer noch auf demselben Fleck. »Meine Güte, Sebastian. Das Werseparadies ist doch nicht der einzige Platz rund um Münster. In Handorf gibt es auch einen, der direkt an der Werse liegt und sehr schön sein soll.«

Sebastians Gesichtszüge verhärteten sich. »So etwas wie dies hier gibt es kein zweites Mal.« Mit diesen Worten drehte er sich um und ging. Auch Corinna und Isa hatten den Aufenthaltsraum bereits verlassen, nur Frauke stand noch mitten im Raum und nestelte umständlich am Reißverschluss ihrer Jacke herum. Rainer kam mit einem feuchten Spüllappen zum Tisch zurück.

»Weißt du, Rainer«, sagte Frauke. »Eigentlich hätten wir ja mit so etwas rechnen müssen. Du hast ja keine Gelegenheit verpasst, uns spüren zu lassen, dass du keine Lust auf Dauercamper hast. Aber da ist auch immer noch etwas anderes gewesen. Etwas Subtileres, weniger greifbar als deine Ablehnung uns gegenüber.«

Rainer wischte mit dem Lappen über den Tisch. »Ach ja?« Er machte sich nicht die Mühe hochzublicken.

»Wir hatten hier wirklich eine schöne Zeit alle miteinander. Aber seitdem du den Platz übernommen hast, hat sich die Atmosphäre verändert. Als hätte deine schlechte Aura auch auf uns abgefärbt.«

Rainer, der versuchte, einen hartnäckigen, klebrigen Rand wegzubekommen, schaute nun doch auf. Er fixierte die junge Frau aus zusammengekniffenen Augen. Mit bedrohlich leiser Stimme sagte er: »Ich bin ganz bestimmt ein anderer Typ als es euer Kuschelwalter war und führe den Platz auf eine andere Art. Aber du kannst mich nicht für alles verantwortlich machen, was sich hier auf dem Platz abspielt. Da machst du es dir etwas zu einfach. Für die Untreue anderer Leute kann ich nun wirklich nichts.«

Seine Worte zeigten unmittelbar Wirkung. Fraukes Gesicht verlor alle Farbe. Sie machte Anstalten, etwas zu erwidern, schloss den Mund aber wieder und wandte sich zum Gehen.

Oh, dachte Rainer, da hatte er wohl mit seiner Vermutung ins Schwarze getroffen. Selbstgefällig sah er hinter Frauke her, die sich an der Tür noch mal umdrehte.

Ihre Stimme klang spröde, als sie sagte: »Das wird alles auf dich zurückfallen, Rainer, pass gut auf dich auf.«

Eine Stunde später schloss Rainer die Tür der Rezeption sorgfältig ab. Er hatte im Büro noch ein paar fällige Rechnungen überwiesen und Angebote für die Neugestaltung der Rezeption verglichen. Vor allem mit dem Aufenthaltsraum musste bis zum nächsten Saisonstart unbedingt etwas passieren. Aber die Angebote waren ihm allesamt überteuert vorgekommen. Da musste er wohl noch mal nachverhandeln.

Beim Abschließen achtete er darauf, dass ihm die Rotweinflasche, die er sich unter den Arm geklemmt hatte, nicht wegrutschte. Ein gemütliches Freitagabendschlückchen auf der Couch, das hatte er sich wirklich verdient. Wenn man von Horsts Ausbruch absah, war es alles in allem gut über die Bühne gegangen. Jetzt konnten sie alle erst mal eine Nacht darüber schlafen – und dann würde sich morgen die Aufregung schon wieder gelegt haben.

Als er sich seinem Fahrrad zuwandte, das vor einer Anpflanzung üppiger Rhododendronbüsche in einem Fahrradständer stand, hielt er inne. Er war sich sicher, hinter dem Buschwerk eine Bewegung wahrgenommen zu haben. Angestrengt blickte er in die Richtung, bis seine Augen anfingen zu tränen und er blinzeln musste. Er war seit sechs Uhr auf den Beinen, vielleicht hatte sein übermüdeter Geist ihm auch nur einen Streich gespielt. Doch als seine Augen sich an die Dunkelheit gewöhnt hatten, hatte er keine Zweifel mehr: Da stand jemand. Er erkannte die Person nicht, und es war unmöglich zu sagen, ob es sich um einen Mann oder eine Frau handelte, ob jung oder alt. Warnend meldete sich eine Stimme in seinem Kopf:

Geh zurück ins Haus. Sofort. Da drüben ist jemand, der keine guten Absichten hat.

Aber Rainer ignorierte die Stimme, die klang wie die seiner verstorbenen Mutter. Was sollte ihm schon passieren? Er war körperlich gut in Form. Außerdem war er neugierig. Gut möglich, dass es wieder dieser Penner war, der sich seit einiger Zeit hier herumtrieb. Es war höchste Zeit, Klartext mit ihm zu reden. Mit strammen Schritten ging er auf die Rhododendronbüsche zu.

Schatten über der Werse

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