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KAPITEL 1

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Dezember 1978

Da!« Zorro stach mit ausgestrecktem Zeigefinger in die Luft. »Da könnten wir ihn tagelang festhalten, ohne dass jemand ihn entdeckt.« Er war von seinem Rad gesprungen, das er vor zwei Monaten zu seinem zwölften Geburtstag bekommen hatte, und blies gegen seine Finger. Die Dezemberkälte hatte sie steif und rot werden lassen. Genauso rot wie seine Ohren, die wie die Henkel eines Pokals von seinem Kopf abstanden.

Zorros beste und einzige Freunde, Sindbad und Batman, waren dicht hinter ihm zum Stehen gekommen und starrten zu dem Tannenwald hinüber.

Batman musste dazu seine viel zu große Pudelmütze, ohne die seine Mutter ihn nicht aus dem Haus gehen ließ, aus dem Gesicht schieben. Sein rundes Mondgesicht war heiß und verschwitzt. Er wog fast doppelt so viel wie seine Freunde, und körperliche Anstrengung brachte ihn immer schnell aus der Puste. Im Moment aber waren ihm sein Seitenstechen und seine Zunge, die sich anfühlte wie ein trockener Schwamm, egal. Was für eine gute Idee von ihrem Anführer, hierher zu fahren! Gut verborgen in dem gegenüberliegenden Wald lag die verlassene Fabrik, und sie war perfekt für ihre Mission. »Ja, super Sache«, sagte er und fuhr sich mit dem Handrücken über die verschwitzte Stirn.

»Dann nichts wie hin.« Zorro stieg wieder auf sein Rad, und unter abenteuerlichem Geheul radelte er los.

Zorro, Batman und Sindbad, deren richtige Namen keine Rolle spielten, wenn sie zu dritt unterwegs waren, überquerten die B 54 und fuhren hintereinander in den Wald hinein. Nach kurzer Zeit mündete der Weg in eine Lichtung, die etwas größer war als ein Fußballfeld und von allen Seiten von hohen, tiefgrünen Nadelbäumen eingefasst war. Mitten darauf befand sich ein langgestrecktes Gebäude. Die »Lemke-Fabrik«, so wurde das trostlose Bauwerk von den Rinkerodern genannt.

Bis vor acht Jahren waren hier in kleinem Umfang Steinplatten aus Beton hergestellt und an den örtlichen Baustoffhändler verkauft worden. Die Betreiber der Steinfabrik waren zwei Brüder aus Rinkerode gewesen, Harald und Rupert Lemke. Im Alter von fünfundfünfzig Jahren erkrankte Harald, der Ältere, aus heiterem Himmel an Leukämie. Zwei Jahre kämpfte er gegen die Krankheit an, dann gaben die Ärzte ihn auf. Harald selber gab sich auch auf. Er erhängte sich mit einem Strick in der Fabrik. Rupert war es, der seinen Bruder mit heraustretenden Pupillen und blau angelaufenem Gesicht fand, und Rupert war es auch, der es anschließend fertigbrachte, binnen weniger Monate die Firma in den Ruin zu führen. Nur neun Monate nach Haralds Tod stellte die Lemke-Fabrik ihren Betrieb ein. Rupert wollte schon immer weg aus Rinkerode, das als Ortschaft zu Drensteinfurt gehört, und zog ins nahegelegene Münster. Seitdem war die Lemke-Fabrik ihrem Schicksal überlassen und verfiel vor sich hin.

Über die Jahre hinweg hatte die leerstehende Fabrik immer mal wieder die Dorfjugend aus Rinkerode angezogen. Aber für einen dauerhaften Treffpunkt war die Lage nicht attraktiv genug. Dafür lag sie zu weit außerhalb. Immerhin drei Kilometer vor dem Ortseingang von Rinkerode – und das war auch der Grund, warum sie nach Zorros Meinung genau richtig für ihre Mission war. Ihre Mission. So nannten sie das, was sie in den vergangenen zwei Wochen im Partykeller von Zorros Eltern bei Kartoffelchips und Cola geplant hatten.

Die Jungen lehnten ihre Räder gegen die Hauswand. Als ihre Lenker dagegen stießen, lösten sich Teile des Putzes und bröckelten auf den Boden.

Sindbad kratzte sich mit seinem dicken, handgestrickten Fäustling am Kopf und sah sich um. Überall auf dem Gelände befand sich zurückgebliebener Unrat. Holzpaletten türmten sich neben einem rostigen Betonmischer auf. Eimer, Bretter und Plastiksäcke, die wohl niemals verrotten würden, lagen verstreut zwischen hüfthohen Brennnesseln. Betonplatten in unterschiedlichen Größen, die nicht mehr verkauft worden waren, stapelten sich entlang der Hauswand.

»W-w-w-wo w-w-w-wollen w-ir a-ls E-e-e-erstes …«

»Als Erstes sehen wir im Haus nach«, unterbrach Zorro seinen Freund. Wenn er aufgeregt war, stotterte Sindbad noch schlimmer als ohnehin schon.

Sie marschierten halb um das Gebäude herum, und Batman zog die Eisentür so weit auf, dass sie hindurchschlüpfen konnten. Drinnen schlug ihnen der Geruch nach feuchtem Beton entgegen. Das letzte Mal hatte es sie vor zwei Monaten zur alten Fabrik verschlagen. Da waren sie vor Henk aus der Neunten und seinen ekelhaften Freunden auf der Flucht gewesen.

Auf ihrer Liste der meistgehassten Menschen kamen diese Jungs gleich nach Mr. X. Sie waren genauso gut darin, ihnen das Leben zur Hölle zu machen, wie ihr Klassenlehrer.

Batman rümpfte seine Nase. Heute lag im Inneren der Fabrikhalle noch etwas anderes in der Luft. Ein furchtbarer Gestank, der ihnen entgegenschlug wie ein unfreundlicher Willkommensgruß. »Iiiii!« Er schüttelte angewidert den Kopf. »Was ist das? Das stinkt ja hier wie … wie … wie zehn Stinkbomben auf einmal!«

Damit hatte er recht. Der Gestank nach faulen Eiern war betäubend.

Die Halle bestand nur aus zwei Räumen. In dem ersten, in dem sie jetzt standen, waren früher die Steinplatten hergestellt und gelagert worden. Jetzt war der weitläufige Raum leer, bis auf eine vergessene Schaufel, einen Haufen zerlumpter Leinensäcke und einige leere Getränkeflaschen. Strom gab es natürlich keinen mehr. Es fiel aber genug Licht durch die kaputten Fenster und die Löcher im Dach.

»Hier hat sich aber auch gar nichts verändert, seit wir das letzte Mal hier waren«, meinte Batman.

»D-d-das st-st-simmt. A-a-außer d-d-dem G-gestank.«

»Wo das wohl herkommt?« Zorro sah sich suchend um. Sein Blick fiel auf einen Bretterverschlag. Das war der zweite Raum, den es hier gab. Die Lemkebrüder hatten in eine Ecke der Fabrikhalle zwei Wände aus Sperrholz eingezogen und den auf diese Weise entstandenen Raum als Büro genutzt. Zorro ging zu dem Bretterverschlag hinüber. Der Gestank nahm zu, und ihm wurde ein wenig übel davon. In die schmalere der beiden Holzwände war eine Tür eingelassen. Zorro drückte die Klinke nach unten, aber sie öffnete sich nicht. Sindbad und Batman waren ihm gefolgt.

»D-d-da st-st-eckt e-e-ein …« Während er sprach deutete Sindbad auf den rostigen Schlüssel, der von außen in der Tür steckte, und an dem ein rotes Plastikschild mit der Aufschrift Büro baumelte.

»Ja, ich sehe es«, fiel Zorro Sindbad ins Wort. Er hatte selten die Geduld, seinen Kumpel aussprechen zu lassen. »Da steckt ein Schlüssel«, vollendete er deshalb den Satz und drehte gleichzeitig den Schlüssel um. Er stieß die Tür auf, und fast gleichzeitig schnappten alle drei Jungs nach Luft. Der Gestank nach Fäulnis und verrottendem Fleisch war jetzt unerträglich. Batman gab ein würgendes Geräusch von sich, drehte sich auf dem Absatz um und stürzte zum Ausgang.

Zorro und Sindbad hatten reflexartig ihre Hände vors Gesicht geschlagen. Sie hielten sich die Nasen zu und atmeten durch den Mund.

»Jetzt wissen wir wenigstens, woher der Gestank kommt«, murmelte Zorro mit nasaler Stimme und spähte in den kleinen Raum.

In den beiden Außenwänden war jeweils ein Fenster eingelassen. Durch die zersplitterten Scheiben drang diffuses Tageslicht.

An das ehemalige Büro erinnerte nichts mehr. Abgesehen von einigen fest an der Wand verschraubten Regalbrettern war der Raum leer. Fast leer. Denn in einer Ecke lag ein dunkles Bündel. Zorro spürte, wie seine Handflächen feucht wurden und ihm ein kalter Schauer über die Wirbelsäule kroch. Auf einmal war er sich nicht mehr sicher, ob er wissen wollte, was es mit dem Gestank auf sich hatte. Trotzdem machte er zwei Schritte nach vorne. Es war wie bei einem Verkehrsunfall – man will nicht hinsehen und doch kann man nicht anders.

Zorro erkannte Reste von schwarzem Fell, vier Beinen und einem Kopf. Eine Katze! Der Körper war eingefallen, der Verwesungsprozess in vollem Gang. Das war zu viel für Zorro, den grenzenlosen Tierfreund und stolzen Besitzer von vier Meerschweinchen, zwei Zwergkaninchen und einem Wellensittichpärchen. Er wirbelte herum, stieß gegen Sindbad und schrie: »Scheiße! Verdammte Scheiße!«

Sindbad starrte seinen Anführer erschrocken an.

Zorro deutete auf die verendete Katze. »Jemand hat diese Katze eingeschlossen und verhungern lassen!« Mit diesen Worten stürzte er aus dem Bretterverschlag. Sindbad folgte ihm auf den Fersen.

Draußen lehnte sich Zorro an die Hauswand. Sein Gesicht war so weiß wie ein Fischbauch.

»Wer macht denn so was?«, fragte Batman betroffen, nachdem Zorro ihn über die Ursache des Gestanks aufgeklärt hatte. Er legte den Kopf in den Nacken und schaute in das Geäst der Tannen, als könnte er dort die Antwort finden.

Mit bebender Stimme sagte Zorro: »Es gibt halt solche Schweine.«

»V-v-vielleicht war sie schon t-t-t-tot, b-b-bevor sie …«, begann Sindbad.

»… bevor sie dort eingesperrt wurde?«, beendete Zorro die Frage. »Das glaube ich nicht. Wer sperrt schon eine tote Katze ein. Nein, irgendein Superarschloch hat sie hier reingelockt, eingesperrt und verhungern lassen. Ganz bestimmt ist das so gewesen.« Zorro spuckte auf den Boden. Dann lehnte er den Kopf nach hinten und schloss die Augen.

Seine Freunde betrachteten ihn beunruhigt. Er würde ja wohl nicht anfangen zu heulen?! Klar, wenn jemand die Katze lebendig in das Kabuff gesperrte hatte, dann war das natürlich schrecklich. Aber wurden nicht auch täglich Katzen überfahren? Andererseits ging ihr Tod dann wohl deutlich schneller vonstatten.

»S-s-s-sollen w-w-wir sie b-beerdigen?«, schlug Sindbad vor.

Zorro öffnete die Augen. »Das ist eine gute Idee, Sindbad. Du bist ein guter Mann!«

Sindbads Wangen färbten sich zartrosa. Es kam nicht oft vor, dass jemand ihn für etwas lobte.

»Die Schaufel in der Halle!«, rief Batman, der in der Gunst ihres Anführers nicht zurückstehen wollte. »Damit können wir ein Grab ausheben.«

Eine Dreiviertelstunde später war alles vorbei. Die sterblichen Überreste der unglückseligen Katze lagen keine zehn Meter von der Fabrik entfernt unter der Erde. Batman und Sindbad hatten ein Loch direkt unter einer gewaltigen Tanne ausgehoben. Zuerst mussten sie sich durch eine nicht enden wollende Schicht aus Tannennadeln arbeiten. Dafür war der Boden darunter aber locker und weich gewesen. Zorro hatte sich indessen seinen Schal um Mund und Nase gebunden und war in das Haus zurückgekehrt. Mit Hilfe von einem der alten Leinensäcke hatte er die Katze, beziehungsweise das, was von ihr noch übrig war, nach draußen transportiert.

Als sie die Grube wieder geschlossen hatten, blieben sie eine Weile schweigend an dem Katzengrab stehen.

Sindbad war es, der das Schweigen brach. »I-ich h-h-hab’s! W-w-wir b-buddeln a-a-auch f-für Mr. X e-e-e-ein …«

In Zorros Augen glomm ein Leuchten auf. Er haute Sindbad kameradschaftlich auf die Schulter. »Mensch, Sindbad, heute ist wohl dein Tag! Na klar! Wir schaufeln ihm ein Erdgefängnis und sperren ihn darin ein. Da kann er dann darüber nachdenken, ob er weiterhin so fies zu uns sein will.«

»Klasse!«, stimmte Batman zu. »Und verschließen können wir das unterirdische Verlies mit Steinplatten, die hier herumliegen. Dann kann er auch nicht türmen.«

Zorro sah seine Mitstreiter zufrieden an. »Ich habe wirklich eine tolle Bande«, sagte er feierlich.

Schatten über der Werse

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