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KAPITEL 4

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Die Dauercamper des Werseparadieses sowie Tim und Eva betraten hintereinander das Rezeptionsgebäude, das den Charme eines Fußballvereinsheims aus den Sechzigerjahren besaß. Fehlten nur die entsprechenden Wimpel an den holzvertäfelten Wänden. Erika Lohoff hielt ihnen die Tür zum Aufenthaltsraum auf. In dem ausgekühlten Raum hing noch ein schwacher Geruch nach Zigarettenqualm aus der Zeit, als noch drinnen geraucht werden durfte. Eva sah sich um. Theke, Tische und Stühle waren aus massiver Eiche, auf dem Fußboden lag ein abwaschbarer PVC-Belag. Die Wände, die mal weiß gewesen waren, changierten inzwischen ins Gelbe.

Die Dauercamper ließen sich an einem langen Tisch nieder. Eva und Tim nahmen an der Kopfseite Platz. Nur Erika eilte geschäftig hin und her. Zuerst drehte sie beide Heizkörper auf, dann machte sie sich an der Kaffeemaschine zu schaffen.

Sie war noch ganz die Alte, dachte Eva, während ihr Blick Erika folgte. Immer um das Wohl aller bemüht. Als sie sich beim Eintreten an Erika vorbeigedrückt hatte, war ihr ein vertrauter Geruch in die Nase gestiegen. Eine Mischung aus Apfelshampoo, stark parfümierter Bodylotion und Waschmittel. Die Geruchserinnerung hatte umgehend sorgsam verwahrte Bilder einer glücklichen Kindheit in Evas Kopf heraufbeschworen. Warme Sommerabende. Grillwürstchen, die auf einem Holzkohlegrill vor sich hin brutzelten, und Erwachsene, die sich keinen Deut darum scherten, was ihre Kinder trieben.

Mit diesen Erinnerungen hing allerdings auch jener Winter zusammen, der für Erika und Horst die Welt auf einen Schlag verändert hatte.

Eva schaute zu Horst hinüber, der zu ihrer Linken saß. Er war ein paar Jahre älter als Erika und musste jetzt ungefähr dreiundsiebzig sein. Diesen enormen Bauch hatte er schon gehabt, seit sie denken konnte. Aber er war trotzdem immer wendig und agil gewesen. Jetzt wirkte er schwerfällig und bewegte sich so, als hätte er Probleme mit den Knien. Sein Doppelkinn zitterte, wenn er sprach, und seine Gesichtsfarbe zeugte eindeutig von zu hohem Blutdruck.

Als Erika alle mit Kaffee versorgt und sich gesetzt hatte, begannen sie mit ihren Fragen.

Eine viertel Stunde später schaute Tim von seinen Notizen auf. Neben den Personalien und den Angaben zu ihren Berufen hatte er stichpunktartig festgehalten, was die Campingplatzbewohner bis jetzt auf ihre Fragen geantwortet hatten. »Ich fasse noch mal zusammen. Gestern Abend um 18:30 Uhr gab es hier eine kleine Versammlung, auf der Ihnen Herr Heffner mitgeteilt hat, dass er Ihre Pachtverträge kündigen wird. Daraufhin kam es zu einer Auseinandersetzung zwischen Herrn Lohoff und Herrn Heffner …«

»Aber wirklich nur zu einer kleinen«, wurde Tim von Erika unterbrochen. »Das war gar nichts Dramatisches!« Sie blickte auffordernd in die Runde. Niemand sagte etwas, aber alle nickten zustimmend.

»Eine Stunde später, also um 19:30 Uhr, sind Sie dann auseinandergegangen«, fuhr Tim fort. »Drei von Ihnen haben anschließend den Campingplatz noch mal verlassen. Frau Brinkmann ist um kurz nach 22 Uhr vom Yoga gekommen, Herr Lohoff gegen 22:30 Uhr von seiner Skatrunde und Herr Lewandowski um 23:20 Uhr vom Volleyball. Außerdem haben Sie alle zu Protokoll gegeben, dass keiner von Ihnen Herrn Heffner nach der Versammlung noch mal gesehen oder gesprochen hat.«

Es folgte ein weiteres einvernehmliches Nicken.

Tim richtete das Wort an Erika. »Sie haben angegeben, Herrn Heffner um Viertel nach sieben gefunden zu haben.«

»Ja, es war schrecklich. Einfach schrecklich. Literweise Blut.« Erika hatte ein Papiertaschentuch aus ihrer Hosentasche geholt und zerknüllte es in ihren Händen. »Mir ist ganz übel geworden.« Sie sah Eva an. »Das kannst du mir glauben, Eva.«

»Es war ja auch ein furchtbarer Anblick«, bestätigte Eva. »Angefasst hast du nichts, oder?«

Erika starrte Eva mit großen Augen an. »Bist du verrückt? Ich fasse doch keinen Toten an!«

»Was wollten Sie denn so früh an der Rezeption?«, fragte Tim.

Erika musterte ihn aus zusammengekniffenen Augen. »Sie fragen das so komisch. Glauben Sie, ich hätte Rainer ermordet?«

»Oh, nein«, kam Eva Tim zuvor. »Das denkt mein Kollege nicht. Wir müssen nur diese und noch viele weitere Fragen stellen, um uns einen Überblick über das Geschehene zu verschaffen. Das ist alles reine Routine.«

Tim quittierte Evas dazwischengeworfene Bemerkung mit einem Stirnrunzeln und forderte dann Erika Lohoff mit einem Blick auf, seine Frage zu beantworten.

»Ich wollte aus dem Aufenthaltsraum meinen Schal holen. Den habe ich gestern dort vergessen. Ich habe einen Schlüssel für die Rezeption. Anschließend wollte ich mit dem Rad zum Bäcker fahren. Ohne Schal war mir das aber zu kalt, und als ich den holen wollte, habe ich den Rainer auf dem Boden liegen sehen.« Sie presste sich das Taschentuch vor den Mund. »Er hat so furchtbar ausgesehen. Ich wünschte, ich hätte nicht so genau hingeschaut. Dieser Anblick wird mich für den Rest meines Lebens verfolgen.«

Eva schaltete sich wieder ein. »Ich möchte Sie jetzt alle bitten, einmal gründlich nachzudenken. Gab es etwas, das in den letzten Tagen oder Wochen ungewöhnlich war? Ist jemandem von Ihnen etwas aufgefallen?«

»Da war dieser Mann, der sich seit ungefähr zwei Wochen immer mal wieder in der Nähe des Campingplatzes herumgedrückt hat.« Dieser Hinweis stammte von Isa Brinkmann. Sie und ihre Freundin Frauke Themsen waren beide gleich alt, vierunddreißig Jahre, aber das war auch schon die einzige Gemeinsamkeit, die sie zu haben schienen. Zumindest auf den ersten Blick. Isa Brinkmann strahlte etwas Elfenhaftes aus. Anmutig hatte sie ihre langen Beine übereinandergeschlagen. Ihre Lippen umspielte ein nachsichtiges Lächeln, als ginge sie das alles hier nicht wirklich etwas an. Yoga passte auf jeden Fall hervorragend zu ihr.

Frauke Themsen war mittelgroß, breitschultrig und von kompakter Statur. Auf keinen Fall dick oder mollig, eher muskulös. Eine Sportskanone, tippte Eva. Durchbrochen wurde ihre burschikose Ausstrahlung durch ihr herzförmiges Gesicht, das sie verletzlich wirken ließ. Sie umklammerte die Hand ihrer Partnerin, als wollte sie sie nie wieder loslassen.

Frauke Themsen wandte sich an Horst Lohoff. »Du hast ihn doch mal angesprochen, und da hat er doch so seltsam reagiert.«

»Ich habe ihm was zugerufen«, bestätigte Horst Lohoff. »Ich wollte wissen, was er bei uns zu suchen hat, und da ist er auf und davon.«

»Er sah auch komisch aus«, bemerkte Erika Lohoff.

»Inwiefern komisch?«, hakte Eva mit gezücktem Kugelschreiber nach.

»Verwahrlost irgendwie. Ungepflegte, lange Haare, unrasiert und Klamotten, die auch schon mal bessere Zeiten gesehen hatten.«

»Ein Obdachloser?«, fragte Tim.

Erika zuckte mit den Schultern. »Ja, vielleicht. Auf jeden Fall war er ziemlich scheu.«

Nach einigen weiteren Fragen konnten Eva und Tim festhalten, dass alle Dauercamper den Mann in den letzten vierzehn Tagen immer mal wieder in der Nähe des Campingplatzes oder auch in der Bauernschaft gesehen hatten. Er war immer zu Fuß unterwegs gewesen, hatte eine Armeetasche dabeigehabt und hatte immer sofort das Weite gesucht, sobald man ihm nähergekommen war.

»Fällt Ihnen sonst noch etwas ein? Hatte Rainer Heffner mit jemandem Probleme?« Tim sah die Dauercamper der Reihe nach an.

»Ja«, meldete sich Corinna Lewandowski zu Wort. Sie und ihr Mann Sebastian bildeten das dritte Pärchen der Gruppe und befanden sich mit Mitte fünfzig altersmäßig zwischen dem Lesbenpärchen und dem Ehepaar Lewandowski. »Es gab Ärger zwischen Rainer und unserem Nachbarn Martin Hülskamp. Das ist erst ein paar Tage her. Ich glaube, das war Montag oder Dienstag. Auf jeden Fall sind die ordentlich aneinandergeraten.«

Corinna war eine große, kräftige Frau mit einem kantigen Kinn und ausgeprägten Wangenknochen. Dennoch wirkte ihr Gesichtsausdruck nicht hart, denn in ihren Augen lag ein warmer, freundlicher Glanz. Sie hatte als Beruf Krankenschwester angegeben, und Eva konnte sich vorstellen, dass sie gut in ihrem Job war.

»Ich kam mit dem Rad vom Krankenhaus«, erklärte Corinna, »und da standen die beiden auf der Allee und schrien sich an. Martins Tochter und ein Junge aus der Nachbarschaft waren auch dabei. Martin war außer sich und riss dem Rainer ziemlich heftig an der Jacke herum. Ich bin vom Rad gesprungen und habe ihn von Rainer weggezogen. Es hätte nicht viel gefehlt, und Martin hätte zugeschlagen.«

»Um was ging es denn? Wissen Sie das?«

Corinna schüttelte den Kopf. »Nein, nicht genau. Es hatte wohl mit den Kindern zu tun. Die standen völlig verschreckt daneben. Lisa hat die ganze Zeit geweint. Martin hat dann die Kinder ins Auto bugsiert und ist abgerauscht.«

»Ich möchte zwar Martin nichts anhängen«, mischte sich nun Sebastian Lewandowski ein, »aber im Sommer gab es da auch schon mal so einen Vorfall.« Er wandte sich an Erika und Horst Lohoff. »Wisst ihr noch? Da mussten Horst und ich doch auch dazwischengehen.«

Erika nickte zustimmend. »Martin und Margret hatten aber auch wirklich ihr Päckchen zu tragen mit einem Nachbarn wie Rainer.«

»Allerdings«, bestätigte Horst. »Ich kann mich noch gut an das Theater erinnern. Rainer war aber auch ein sturer Bock.« Horst Lohoff erzählte den beiden Kripobeamten, um was es bei der Auseinandersetzung im Sommer gegangen war.

Während sich Eva und Tim diese Informationen, Namen und Adresse des Nachbarn notierten, ergriff Sebastian Lewandowski wieder das Wort. »Darf man auch mal eine Frage stellen?«

»Ja bitte«, forderte Eva ihn auf und betrachtete den Mann mit dem ernsten Gesicht und der rauchfarbenen Brille. Er war Partner einer Steuerkanzlei, die sich auf Kleinunternehmen und Handwerksbetriebe spezialisiert hatte. Außerdem, so urteilte Eva für sich, war er weder Fisch noch Fleisch. Er machte keinen unsympathischen Eindruck, hatte aber auch nichts Einnehmendes an sich.

Sebastian Lewandowski ruckelte an seiner Brille. »Wie geht das jetzt hier weiter? Rainer hat keine Angehörigen. Er hat mir mal erzählt, dass er den Platz dem Verein Wanderfreunde Münster vererben würde, wenn es bei ihm so weit ist. Aber wer kümmert sich um die Angelegenheiten vom Werseparadies, bis das alles geregelt ist? Um die Post, die Rechnungen, mögliche Reservierungsanfragen und so weiter? Nächste Woche zum Beispiel, da kommt eine Frau, die für zwei Wochen ein Mobilheim gemietet hat. Das hat Rainer am Donnerstag noch lang und breit erzählt.«

Sehr gute Frage, dachte Eva. Hier saß jemand, der mitdachte.

»Mit dem Wanderverein und der Dame, die das Mobilheim reserviert hat, setzen wir uns in Verbindung. Wissen Sie zufällig, um wen es da geht?«

»Die Frau heißt Lieke Jansen und kommt aus Flensburg. Das habe ich mir gemerkt, weil sie wie ich, einen norddeutschen Namen hat«, sagte Frauke Themsen.

»Mit Name und Wohnort können wir auf jeden Fall etwas anfangen«, sagte Eva. »Hier bleibt erst mal alles wie gehabt. Allerdings wäre es hilfreich, wenn Sie unter sich ausmachen könnten, wer in der nächsten Zeit ein Auge auf alles hat.«

»Ich denke, das sollte nicht einer alleine machen«, wandte Corinna ein. »Mein Mann und ich, wir können uns ein wenig kümmern. Zusammen mit Horst und Erika.«

»In Ordnung«, stimmte Eva zu. »Bitte beachten Sie auch, dass Sie Münster nicht verlassen dürfen, solange die Ermittlungen andauern. Wir werden in den nächsten Tagen auch noch mit jedem von Ihnen einzeln sprechen müssen, damit wir Sie als Täter ausschließen können.«

Horst Lohoff räusperte sich vernehmlich. Er hatte seine Arme auf dem Tisch abgelegt. Zwischen seinen massigen Händen wirkte die Kaffeetasse wie Puppengeschirr. »Das können wir alles machen. Ich möchte nur, dass ihr eins wisst«, er ließ eine kleine Pause entstehen, »hier weint dem Rainer niemand eine Träne nach. Trotzdem könnt ihr euch eins abschminken. Von uns Dauercampern hat dem keiner die Rübe eingeschlagen.«

Schatten über der Werse

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