Читать книгу AYESHA - SIE KEHRT ZURÜCK - Henry Rider Haggard - Страница 11

5. Der Gletscher

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Doch selbst dieser Tag ging einmal zu Ende, und nach einer zweiten Mahlzeit aus ein paar rohen Fleischstücken unseres Yak, zogen wir sein Fell über uns - unser Zelt war ja davongeweht worden - und schliefen, so gut es ging, in dem beruhigenden Bewusstsein, dass wir hier zumindest keine weiteren Lawinen zu befürchten hatten. In dieser Nacht wurde es wieder sehr kalt, und ohne das Yak-Fell, unsere wattierte Kleidung und die Decken, die wir glücklicherweise um uns gewickelt getragen hatten, als die Lawine herunterkam, wären wir wahrscheinlich erfroren. Auch so litten wir entsetzlich unter der Kälte.

»Horace«, sagte Leo, als es zu dämmern begann, »ich will weg von hier. Wenn ich sterben soll, dann lieber, während ich etwas tue. Aber ich glaube nicht, dass wir sterben werden.«

»Einverstanden«, sagte ich. »Dann wollen wir aufbrechen. Wenn der Schnee uns nach dieser eisigen Nacht nicht trägt, tut er es nie.«

Also machten wir zwei Bündel aus unseren Decken und dem Yak-Fell, und nachdem wir uns noch einige Stücke von dem hartgefrorenen Fleisch abgeschnitten hatten, begannen wir den Abstieg. Der kleine Berg war zwar nur knapp zweihundert Fuß hoch, doch war seine Basis recht breit - zum Glück für uns, denn sonst wäre er von der Wucht der Lawine losgerissen und in den Abgrund geschoben worden - und zwischen uns und dem Grund befand sich eine Masse von aufgehäuftem Schnee.

An der dem Berghang zugewandten Seite, wo der Schnee am höchsten aufgetürmt und durch den Druck zu einer eisfesten Masse geworden war, konnten wir nicht absteigen, da der Felsen hier überhing; also waren wir gezwungen, in das erheblich lockerere und weichere Material zu seinen beiden Flanken herabzuklettern. Da sich durch Abwarten nichts daran ändern würde, gingen wir zur linken Seite des Felsens, wo uns der Schnee etwas fester schien als auf der anderen, und begannen den Abstieg. Leo übernahm die Führung und probierte bei jedem Schritt die Festigkeit des Schnees. Zu unserer Freude hatte der strenge Nachtfrost seine Oberfläche so gehärtet, dass sie unser Gewicht trug. Auf halber Höhe des Hanges, wo der Druck weniger stark gewesen war, wurde der Schnee weicher und nachgiebiger, und wir waren gezwungen, den Rest der Strecke kriechend zurückzulegen, um unser Gewicht auf eine größere Fläche zu verteilen.

Alles ging gut, bis wir nur noch etwa zwanzig Schritte vom Boden entfernt waren, wo wir einen vom Druck der Lawine angewehten Berg Pulverschnee überqueren mussten. Leo glitt sicher über ihn hinweg, doch ich, der zwei oder drei Meter rechts hinter ihm folgte, spürte plötzlich, dass die harte Kruste unter mir nachgab. Mein ängstliches Bestreben, wieder Halt zu finden - eine vollkommen falsche, doch sehr natürliche Reaktion -, machte das Unglück zur Katastrophe, und mit einem erschrockenen, rasch erstickten Aufschrei verschwand ich in der lockeren, weißen Masse.

Jeder, der schon einmal unter Wasser getaucht ist, wird wissen, dass es alles andere als ein angenehmes Gefühl ist, doch kann ich ihm versichern, dass es eine weitaus schlimmere Erfahrung ist, im Schnee zu versinken; nur Schlamm und Morast kann noch schrecklicher sein. Ich sank tiefer und tiefer und tiefer, bis meine Füße gegen einen Felsen stießen, der allein mich davor bewahrte, für immer zu verschwinden. Doch jetzt begann der Schnee sich über mir zu schließen, es wurde dunkel, und ich hatte das Gefühl, zu ersticken. Doch die Schneewehe war so locker, dass es mir gelang, um meinen Kopf herum mit den Händen einen kleinen Hohlraum zu schaffen, in den Luft eindringen konnte. Ich stemmte meine Hände gegen den Felsen und versuchte mich aufzurichten, doch ich schaffte es nicht; das Gewicht, das auf mir lastete, war zu groß.

Nun ließ ich alle Hoffnung fahren und bereitete mich auf das Sterben vor. Dieser Vorgang erwies sich als nicht sehr unangenehm. Ich sah keine Visionen aus meiner Vergangenheit, was angeblich beim Ertrinken der Fall sein soll, sondern - und dies beweist die Stärke ihrer Herrschaft über mich - meine Gedanken kreisten um Ayesha. Ich sah sie in einer rauen Felsenlandschaft vor mir stehen, mit einem Mann an ihrer Seite. Sie trug einen langen Reisemantel und in ihren wunderbaren Augen stand ein Ausdruck tödlicher Angst. Ich wollte mich erheben, um sie zu grüßen, doch sie rief mit wütender, scharfer Stimme: »Was für ein Unheil ist hier geschehen? Du lebst; doch wo ist mein Geliebter Leo? Sprich, Mann, und sage mir, wo du meinen Geliebten versteckt hast - oder stirb!«

Die Vision war sehr real und lebendig, erinnere ich mich, und, wenn man sie in Verbindung mit einem gewissen späteren Ereignis sieht, äußerst bemerkenswert. Doch sie verschwand so rasch, wie sie gekommen war.

Ich wurde bewusstlos.

Plötzlich sah ich Licht und hörte eine Stimme - die Stimme Leos.

»Horace!«, schrie er. »Horace, halte dich am Gewehrkolben fest!« Etwas Hartes wurde gegen meine ausgestreckte Hand gedrückt, und ich griff danach. Ich spürte, wie jemand am anderen Ende mit aller Kraft zog; aber es war aussichtslos, der Schnee hielt mich fest in seiner Umklammerung. Doch dann kam mir ein Gedanke; ich zog die Beine an den Leib, und durch einen glücklichen Zufall, oder durch eine Gnade des Himmels, fühlte ich unter meinen Füßen den harten Fels, auf dem ich lag. Ich richtete mich auf, als ich wieder den kräftigen Zug am Gewehr spürte, stemmte meine Füße gegen den Fels und stieß mich von ihm ab. Plötzlich gab der Schnee nach, und ich schoss aus dem Loch wie ein Fuchs aus seinem Bau.

Mein Kopf prallte gegen etwas; es war Leo, der das Gewehr am Lauf gepackt hielt und mit aller Kraft daran zog. Ich stieß ihn auf den Rücken, und zusammen rollten wir den steilen Hang hinab, bis wir endlich hart am Rand der Schlucht gegen einen der herabgerollten Steine prallten. Ich setzte mich auf und zog gierig die frische Luft in meine Lungen. Ein unbeschreiblich herrliches Gefühl! Mein Blick fiel auf meine Hand, und ich sah, dass die Venen hart wie Schnüre unter der Haut lagen. Ich war dem Ende verdammt nahe gewesen, erkannte ich.

»Wie lange lag ich unter dem Schnee?«, fragte ich Leo, der neben mir saß und sich den Schweiß vom Gesicht wischte.

»Keine Ahnung. So ungefähr zwanzig Minuten, würde ich sagen.«

»Zwanzig Minuten! Mir kam es vor wie zwanzig Jahrhunderte. Wie hast du mich herausgezogen? Du konntest doch nicht aufrecht stehen in dem Pulverschnee.«

»Nein. Ich habe mich auf das Yak-Fell gelegt und mich durch das lockere Zeug zu dir hinabgegraben. Ich hatte dich ja verschwinden sehen und war nicht weit von der Stelle entfernt. Schließlich entdeckte ich deine Fingerspitzen. Sie waren so blaugefroren, dass ich sie zuerst für Fels hielt, doch dann sah ich, dass sie sich bewegten, als ich mit dem Gewehrkolben gegen sie stieß. Zum Glück hattest du noch so viel Kraft, dich daran festhalten zu können. Den Rest weißt du. Wenn wir nicht beide so kräftig wären, hätten wir es nicht geschafft.«

»Danke«, sagte ich.

»Wofür?«, antwortete er mit einem flüchtigen Lächeln. »Glaubst du, dass ich Lust hatte, allein weiterzureisen? Komm! Wenn du wieder zu Atem gekommen bist, wollen wir weitermachen. Du bist durchgefroren und musst dich bewegen. Sieh, mein Gewehr ist zerbrochen, und deins liegt irgendwo unter dem Schnee. Na schön, das erspart uns die Mühe, die Munition schleppen zu müssen.« Er lachte sarkastisch.

Wir begannen unseren Marsch zu der Stelle, an der die alte Straße vor der Schlucht endete, etwa vier Meilen weit entfernt, weil ein Weitergehen in die andere Richtung sinnlos erschien, und wir erreichten sie auch ohne Zwischenfall. Einmal donnerte eine Lawine von der Größe einer Kirche dicht vor uns zu Tal, und einmal löste sich ein Felsen aus dem Hang und kam mit der Geschwindigkeit eines angreifenden Löwen auf uns zugerast, sprang über unsere Köpfe hinweg und verschwand in der Tiefe der Schlucht. Doch wir nahmen von diesen Dingen kaum Notiz; unsere Nerven schienen von den Ereignissen der vergangenen Nacht betäubt und unempfindlich zu sein gegen jede Gefahr.

Wir standen am Ende der Straße und sahen unsere eigenen Fußabdrücke und die Hufspuren des Yaks im Schnee. Ich blickte eine ganze Weile auf diese Spuren, denn es kam mir seltsam vor, dass wir lebten und sie noch einmal sehen sollten. Dann starrten wir über den Rand des Abgrunds. Ja, seine Wand war steil und glatt und unbezwingbar.

»Komm, wir gehen zum Gletscher!«, sagte Leo.

Also gingen wir zum Gletscher, krochen ein kleines Stück an ihm hinab und überprüften seinen weiteren Verlauf. Soweit wir es erkennen konnten, war die Schlucht hier etwa vierhundert Fuß tief. Doch ob die Eiszunge bis zu ihrem Grund reichte, konnten wir nicht erkennen, da sie sich in ihrem letzten Drittel nach innen wölbte, wie das Ende eines gespannten Bogens, und wir deshalb ihr Ende nicht sehen konnten. Wir kletterten wieder auf den festen Boden zurück und setzten uns, von Resignation und Verzweiflung gepackt.

»Was sollen wir tun?«, fragte ich. »Vor uns liegt der sichere Tod, genau wie hinter uns, denn wie sollten wir die Berge überwinden, ohne Nahrung, und ohne Gewehre, um Wild zu schießen? Wir werden hier sterben, Leo; wir werden hier sitzen, bis wir verhungern. Wir haben getan, was wir konnten - und sind gescheitert. Wir sind am Ende, Leo! Nur noch ein Wunder könnte uns retten.«

»Ein Wunder«, antwortete er. »Was war es denn, das uns auf das Plateau des kleinen Berges geführt hat, wodurch wir die Lawine überlebt haben? Und was war es, das den Fels unter deine Füße brachte, als du in der Schneewehe versankst, und was hat mir die Geistesgegenwart und die Kraft verliehen, dich aus deinem Schneegrab zu retten? Und was hat uns siebzehn Jahre lang Gefahren überstehen lassen, wie sie wohl kaum zwei andere Menschen durchgemacht haben? Eine leitende Macht, sage ich dir! Ein Geschick, das sich in uns verwirklichen will. Warum sollte diese Macht uns jetzt nicht mehr leiten? Warum sollte das Geschick jetzt seine Hand von uns nehmen?«

Er machte eine kurze Pause, dann fuhr er entschlossen fort: »Ich sage dir eins, Horace: Selbst wenn wir Gewehre, Nahrung und Yaks hätten, würde ich nicht kehrt machen, denn ein Aufgeben würde mich als Feigling entlarven und mich ihrer unwürdig machen. Ich mache weiter.«

»Wie?«, fragte ich.

»Über diesen Weg.« Er deutete auf den Gletscher.

»Dieser Weg führt in den Tod!«

»Und wenn schon, Horace. In diesem Land finden Menschen Leben im Tod, jedenfalls glauben sie das. Wenn wir jetzt sterben, dann bei der Verfolgung unseres Ziels, auf der Straße, die direkt zu ihm führt, und in dem Land, in dem wir, sollten wir sterben, vielleicht wiedergeboren werden. Ich habe meinen Entschluss gefasst, du musst dich entscheiden, was du tun willst.«

»Ich habe meine Entscheidung vor vielen Jahren getroffen, Leo, als wir diese Reise gemeinsam begannen, und deshalb werden wir sie auch gemeinsam beenden. Vielleicht weiß Ayesha von unserer Lage und wird uns helfen. Wenn nicht...« Ich lachte bitter. »Komm, wir verschwenden nur Zeit!«

Wir berieten uns, und das Ergebnis dieser kurzen Besprechung war, dass wir das zähe Fell des Yak in schmale Streifen schnitten und diese zu zwei recht brauchbaren Seilen zusammenknoteten, die wir uns um den Leib banden. Vielleicht konnten sie uns den Abstieg über den Gletscher erleichtern.

Anschließend schnitten wir eine unserer Decken in Stücke und banden diese um unsere Beine und Knie, damit sie vor den scharfen Kanten von Eis und Fels geschützt waren, und zogen aus demselben Grund unsere dicken Lederhandschuhe über. Nachdem das erledigt war, verschnürten wir den Rest unserer Habe zu Bündeln, beschwerten sie mit Steinen und warfen sie über den Rand des Abgrunds, in der Hoffnung, sie dort unten wiederzufinden, falls wir den Boden lebend erreichen sollten. Jetzt waren unsere Vorbereitungen abgeschlossen, und es wurde Zeit, dass wir zu dem vielleicht gefährlichsten Unternehmen aufbrachen, das Männer jemals freiwillig auf sich genommen haben.

Doch wir zögerten noch ein wenig und blickten einander schweigend an, denn wir waren unfähig, zu sprechen. Wir umarmten einander, und ich weinte ein wenig, muss ich gestehen. Es kam mir alles so traurig und hoffnungslos vor, diese Sehnsucht, die wir über so viele Jahre hinweg mit uns herumgetragen hatten, dieses ständige, ermüdende Reisen, und jetzt - das Ende. Mir war der Gedanke unerträglich, dass dieser wunderbare Mann, mein Schützling, mein geliebter Freund, der Gefährte meines Lebens, der jetzt so voller Leben neben mir stand, innerhalb weniger Minuten in einen zerfetzten Kadaver verwandelt werden sollte. Auf mich kam es nicht an. Ich war alt, und meine Zeit war abgelaufen. Ich hatte ein Leben in Unschuld gelebt, falls man es Unschuld nennen kann, dieser wunderbaren Frau zu folgen, dieser Sirene der Höhlen, die uns in unser Verderben gelockt hatte.

Nein, ich glaube nicht, dass ich damals an mich gedacht habe; doch ich dachte viel an Leo, und als ich seinen entschlossenen Gesichtsausdruck sah, den harten Glanz seiner Augen, war ich stolz auf ihn. Ich segnete ihn mit versagender Stimme, wünschte ihm Glück während aller Äonen und betete, dass ich bis zum Ende der Zeit sein Begleiter sein möge. Er dankte mir mit wenigen, kurzen Worten und murmelte dann: »Komm!«

Seite an Seite begannen wir den entsetzlichen Abstieg ins Unbekannte. Anfangs erwies er sich als nicht besonders schwierig, obwohl jedes Abgleiten uns in den Abgrund geschleudert haben würde. Doch wir waren kräftig und geschickt und an solche Situationen gewöhnt und begingen keine Fehler. Als wir etwa ein Viertel des Gletschers hinter uns gebracht hatten, machten wir eine kleine Pause. Wir standen auf einem großen Felsblock, der in die Oberfläche des Eises eingebettet war, und blickten vorsichtig in die Tiefe. Die Schlucht war grauenvoll, mit steilen Wänden, und auch von hier aus konnten wir nicht erkennen, wie es dort unten aussah, denn unter uns, etwa hundertzwanzig Fuß tiefer, begann die Biegung der langen Eiszunge, auf der wir standen, und verwehrte uns die Sicht auf den Grund der Schlucht.

Da wir das Gefühl hatten, dass unsere Nerven ein weiteres Nachdenken über das unerkennbare Dunkel nicht mehr ertragen würden, ließen wir uns wieder auf Hände und Knie nieder und setzten unseren Abstieg fort. Jetzt war er bedeutend schwieriger, denn in dem unteren Teil des Gletschers wurden die im Eis eingefrorenen Steine seltener, und zwei- oder dreimal mussten wir ein Stück über das abschüssige Eis gleiten, um sie zu erreichen, ohne zu wissen, ob sie uns rechtzeitig aufhalten würden. Doch wir hatten die Seile an den Felsen befestigt, die Ausgangspunkt unserer Rutschpartie waren, und zogen sie nach uns ein, wenn wir den nächsten Festpunkt erreicht hatten.

Auf diese Weise erreichten wir schließlich die Biegung, die sich etwa auf halber Höhe des Gletschers befand, eher noch etwas darunter, soweit ich das feststellen konnte, und etwa hundertfünfzig Fuß über dem dunklen Boden der Schlucht. Hier gab es keine eingebetteten Steine mehr, sondern nur ein paar Stellen, an denen das Eis etwas rau war, und an so einer Stelle setzten wir uns und ruhten uns aus.

»Wir müssen sehen, wie es weitergeht«, sagte Leo plötzlich.

Ich nickte. Die Frage war nur, wie wir das anstellen sollten. Es gab nur einen einzigen Weg: einer von uns musste sich über die Biegung hängen lassen und sehen, wie es unterhalb von ihr aussah. Wir lasen die Gedanken des anderen, da wir nach so langem Zusammensein kaum noch Worte brauchten, und ich stemmte mich hoch.

»Nein.« Leo hielt mich zurück. »Ich bin jünger und kräftiger als du. Komm, hilf mir!« Er begann, das Ende seines Seils an einem starken, hervorstehenden Eisstück zu befestigen. »Jetzt halte mich an den Füßen fest!«

Es war Wahnsinn, doch es war die einzige Möglichkeit. Ich klammerte mich mit Füßen und Knien an Unebenheiten des Eises fest, packte Leos Beine und ließ ihn vorsichtig tiefer gleiten, bis er bis zur Mitte um die Biegung verschwunden war. Was er dort sah, brauche ich jetzt nicht zu beschreiben, da ich es später selbst sehen sollte, doch plötzlich schien er den Halt zu verlieren, und sein ganzes Gewicht hängte sich mit einem so starken Ruck an meine Arme, dass seine Knöchel mir aus den Händen gerissen wurden.

Vielleicht war es auch der Schock, der mich loslassen ließ, ein natürlicher Impuls, der einen Mann dazu zwingt, zuerst an die Rettung des eigenen Lebens zu denken. Wenn es so gewesen sein sollte, möge man mir diese Schwäche vergeben, doch wenn ich festgehalten hätte, wäre ich unzweifelhaft von ihm mit in den Abgrund gerissen worden.

Das Seil lief ab und sang wie eine zu straff gespannte Saite, aber es hielt.

»Leo?«, schrie ich, »Leo?!« Und dann hörte ich eine leise Stimme etwas sagen, das ich als »Komm!« verstand. In Wirklichkeit aber hatte er gerufen: »Komme nicht!« Doch ich nahm mir nicht die Zeit - und das mag man mir zugutehalten lang über seine Worte nachzudenken. Ohne mich umzudrehen und mit dem Gesicht zum Eis zu klettern, so wie ich saß, begann ich über das Eis hinabzukrebsen und zu rutschen.

In zwei Sekunden erreichte ich die Biegung, in drei Sekunden war ich über sie hinweg. Unter ihr befand sich, was ich nur als einen riesenhaften Eiszapfen beschreiben kann, der dicht über seiner Basis abgebrochen war. Dieser Eiszapfen war etwa fünfzehn Fuß lang und wuchs aus der Wand der Schlucht. An seiner Basis war von Schmelzwasser oder einer anderen Einwirkung das Eis abgetragen und ein schmaler Felsensims von der Breite einer Männerhand freigelegt worden. Meine Kleidung verfing sich an Höckern und anderen Auswüchsen der Eisfläche, und ich griff nach ihnen, um mich auch mit den Händen daran festzuklammern. So kam es, dass ich ziemlich sanft an der überhängenden Zunge des Gletschers hinabglitt und schließlich mit den Füßen auf dem schmalen Sims an der Wurzel des Eiszapfens landete. Ich stand fast aufrecht, mit ausgebreiteten Armen, wie auf den Gletscher gekreuzigt.

Jetzt sah ich, was geschehen war, und der Anblick ließ mir das Blut in den Adern gerinnen. Vier Fuß unterhalb der abgebrochenen Spitze des gigantischen Eiszapfens hing Leo an seinem Seil - zu weit entfernt, als dass ich ihn erreichen hätte können. Er pendelte leicht hin und her und drehte sich dabei um die eigene Achse. Unter uns gähnte der schwarze Grund der Schlucht, und aus ihrer Tiefe sah ich das weiße Schimmern von Schnee.

Stellt euch das vor! Ich war auf das Eis gekreuzigt, mit den Füßen auf einem handbreiten Sims an einer steilen Felswand; meine Finger klammerten sich an Unebenheiten im Eis fest, auf denen kaum ein Vogel Halt gefunden hätte. Um mich herum nur glattes Eis und glatte Felswände. Der Rückweg auf den Gletscher, von dem ich gekommen war, war unmöglich, mich zu bewegen, ebenso, da ein Ausgleiten mein sicheres Ende bedeutet hätte.

Und unter mir hing, wie eine Spinne an ihrem Faden, Leo, und drehte sich langsam um die eigene Achse.

Ich konnte sehen, wie sich das Seil aus ungegerbtem Fell unter seinem Gewicht dehnte und die Knoten sich allmählich auseinanderzogen, und ich erinnere mich, dass ich mich fragte, was eher nachgeben würde, das Fell oder die Knoten, oder ob beide halten würden, bis er dort gestorben war und seine Knochen einzeln in die Schlucht fallen würden.

Oh! Ich habe in meinem Leben so vielen Gefahren ins Auge gesehen, doch niemals - niemals! - in einer so ausweglosen Lage wie dieser. Eine tiefe Verzweiflung packte mich, und kalter Schweiß brach aus allen Poren. Ich fühlte ihn über mein Gesicht rinnen wie Tränen. Mein Haar sträubte sich. Und unter mir hing Leo, drehte sich langsam um sich selbst, und wenn sein Gesicht in meine Richtung gewandt war, sah er mich an, und sein Blick war grauenhaft.

Das Schlimmste aber war die Stille, eine Stille der Hilflosigkeit und der Hoffnungslosigkeit. Wenn Leo geschrien hätte, wenn er sich gegen das Unvermeidliche gewehrt und um sich geschlagen hätte, wäre es leichter zu ertragen gewesen. Doch zu wissen, dass er lebend an dem Seil hing, alle Nerven und Sinne zum Zerreißen angespannt... Mein Gott! Mein Gott! Mein Gott!

Jeder Muskel meines Körpers begann zu schmerzen, doch ich traute mich nicht, ein Glied zu rühren. Sie schmerzten entsetzlich, jedenfalls glaubte ich das, und unter dieser Folter, physisch und psychisch, floh mein Bewusstsein in die Vergangenheit. Ich erinnerte mich daran, wie ich als Kind auf einen Baum geklettert und an eine Stelle gelangt war, wo ich nicht mehr vor und nicht zurück konnte, und wie ich dort gelitten hatte. Ich dachte an meine Zeit in Ägypten, wo ein leichtsinniger Freund allein auf die Zweite Pyramide gestiegen und auf ihrer Spitze liegengeblieben war, weil er den Abstieg nicht finden konnte. Eine halbe Stunde lag er dort, mit vierhundert Fuß fast glatter Fläche unter sich. Ich sah ihn jetzt wieder, wie er dort oben auf dem Bauch lag, mit seinen Füßen vergeblich nach einem Riss oder einem Spalt in den Steinplatten tastete und ihn dann wieder zurückzog. Ich konnte wieder sein zerquältes Gesicht sehen, einen heb len Fleck auf dem roten Granit.

Dann verschwand das Gesicht, und es wurde dunkel um mich, und in der Dunkelheit formten sich Visionen: von der lebenden, rachsüchtigen Lawine, von dem Schneegrab, in dem ich versunken war, und - ach! - viele Jahre zurück: von Ayesha, die Leos Leben von mir forderte. Dunkelheit und Stille, durch die ich das Knacken meiner Gelenke hörte.

Plötzlich ein Aufblitzen aus dem Dunkel, und aus der Stille ein Laut. Das Aufblitzen kam von der Klinge eines Messers, das Leo gezogen hatte, und er hackte damit auf dem Lederseil herum, um ein Ende zu machen. Und das Geräusch, das ich gehört hatte, waren die Schreie, die er dabei ausstieß, grauenvolle Schreie, halb Ausdruck von Trotz, halb Schreckensschreie.

Als er zum dritten Mal zuschlug, riss das Seil.

Ich sah, wie es sich auflöste. Die Klinge hatte es zur Hälfte durchtrennt, die losen Teile kräuselten sich nach oben und unten wie die Lefzen eines wütenden Hundes, während sich der noch haltende Teil weiter und weiter dehnte, und dabei immer dünner wurde. Dann zerriss er, und das Seil peitschte hoch und traf mich ins Gesicht.

Sekunden später hörte ich ein knirschendes, krachendes Geräusch. Leo war auf dem Boden der Schlucht aufgeschlagen. Leo war tot, eine leblose Masse von zerfetztem Fleisch und zerbrochener Knochen, so wie ich ihn vor mir gesehen hatte. Ich konnte es nicht länger ertragen. Mein Bewusstsein und meine Nerven hatten die Betäubung abgeschüttelt. Ich würde nicht so lange warten, bis ich, am Ende meiner Kraft, meinen unsicheren Halt verlor und abstürzte wie ein verwundeter Vogel von einem Baum. Nein, ich wollte ihm sofort folgen, und aus freiem Entschluss.

Ich ließ meinen Halt los, presste beide Arme an den Körper und genoss sekundenlang das Nachlassen der Schmerzen in meinen Muskeln und Gelenken, das Gefühl von Befreiung, das mir diese kleine Bewegung schenkte. Dann richtete ich mich langsam auf, stand aufrecht an die steile Felswand gepresst und blickte zum letzten Mal zum Himmel hinauf. Mehrere Sekunden lang stand ich so, den Kopf in den Nacken gelegt, und murmelte ein Gebet.

»Ich komme, Leo!«, schrie ich dann, riss beide Arme über den Kopf und tauchte so, wie ein Schwimmer, der ins Wasser springt, in die schwarzen Tiefen der Schlucht.

AYESHA - SIE KEHRT ZURÜCK

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