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2. Das Lama-Kloster

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Seit jener Nacht in dem alten Haus in Cumberland waren sechzehn Jahre vergangen, und wir beide, Leo und ich, waren noch immer unterwegs, noch immer auf der Suche nach jenem Berggipfel, der wie das Lebenssymbol geformt ist, und den wir niemals finden konnten.

Unsere Abenteuer würden mehrere Bände füllen, aber welchen Sinn hätte es, sie aufzuzeichnen? Viele Erlebnisse ähnlicher Art sind in Büchern beschrieben worden; die unseren hatten länger gedauert, das ist alles. Fünf Jahre hatten wir in Tibet verbracht, zumeist als Gäste mehrerer Klöster, wo wir die Gesetze und Traditionen der Lamas studierten. Hier waren wir auch einmal zum Tode verurteilt worden, weil wir eine verbotene Stadt besucht hatten, doch gelang es uns dank der Hilfe eines chinesischen Beamten, zu entkommen.

Nachdem wir Tibet verlassen hatten, waren wir nach Osten, Westen und Norden gezogen, tausende und tausende Meilen, hatten uns bei vielen Stämmen auf chinesischem Territorium und in anderen Ländern auf gehalten, viele Sprachen erlernt und große Strapazen überstanden. Und wenn wir irgendwo die Legende eines Ortes hörten, der, sagen wir, neunhundert Meilen entfernt lag, so verbrachten wir die nächsten zwei Jahre damit, ihn zu erreichen; und wenn wir dort ankamen, fanden wir nichts.

Und so vergingen die Jahre. Doch nicht ein einziges Mal kam uns der Gedanke, aufzugeben und zurückzukehren, da wir uns vor unserem Aufbruch aus England geschworen hatten, dass wir unser Ziel erreichen oder sterben würden. Tatsächlich hätten wir einige Dutzend Mal sterben müssen, doch immer wieder wurden wir gerettet, auf eine wundersame Weise gerettet.

Jetzt waren wir in einem Land, in das, soweit ich es beurteilen kann, noch nie ein Europäer seinen Fuß gesetzt hatte. In einem Teil dieses riesigen Landes, das Turkestan genannt wird, befindet sich ein großer See, der Balhkash-See, dessen Gestade wir aufsuchten. Zweihundert Meilen westlich davon erhebt sich eine gewaltige Bergkette, die auf den Karten als Arkarty Tau bezeichnet wird, und auf der wir etwa ein Jahr zubrachten. Etwa fünfhundert Meilen östlich davon liegt ein weiteres Bergmassiv, das Cherga genannt wird, und dorthin zogen wir, nachdem wir das Arkarty Tau-Gebirge durchforscht hatten.

Und hier begann endlich unser wirkliches Abenteuer. Auf einem Ausläufer der zerklüfteten Charga-Berge - man wird ihn auf keiner Landkarte finden - wären wir beinahe verhungert. Der Wintereinbruch stand unmittelbar bevor, und wir fanden kein Wild. Der letzte Mensch, den wir getroffen hatten - mehrere hundert Meilen südlich von hier -, hatte uns berichtet, dass sich in dieser Bergkette ein Kloster befände, in dem Lamas von überragender Heiligkeit lebten. Er hatte uns erzählt, dass sie in diesem wilden Land lebten, das noch von keiner Macht beansprucht worden war, und in dem es nicht einmal Nomaden gebe, um Verdienst zu erwerben. Wir glaubten zwar nicht an die Existenz dieses Klosters, doch suchten wir trotzdem nach ihm, getrieben von dem blinden Fatalismus, der uns während der jahrelangen Suche aufrechterhalten hatte. Wir standen kurz vor dem Verhungern und konnten auch kein Stück Holz finden, um ein Feuer zu machen. Schweigend schritten wir durch die mondhelle Nacht und trieben das Yak an, das unsere Lasten trug. Wir hatten keine Dienstboten mehr; der letzte war im Jahr davor gestorben.

Es war ein kräftiges Tier, dieses Yak, doch inzwischen war es genauso am Ende wie seine Herren. Nicht dass wir es überladen hätten; die Last bestand nur noch aus etwa hundertfünfzig Gewehrpatronen, dem Rest des Postens, den wir zwei Jahre zuvor in einer Karawane hatten erstehen können, für einen kleinen Beutel mit Gold- und Silbermünzen, etwas Tee und einem Bündel Felldecken und Schafspelzen. Wir zogen über ein weites verschneites Plateau, die Berge zu unserer Rechten, als das Yak plötzlich seufzte und stehenblieb. Wir blieben notgedrungen ebenfalls stehen, wickelten uns in die Felldecken und hockten uns in den Schnee, um auf den Sonnenaufgang zu warten.

»Wir werden das Yak töten und sein Fleisch roh essen müssen«, sagte ich und klopfte dem armen Tier, das geduldig neben uns lag, auf das Hinterviertel.

»Vielleicht finden wir Wild, wenn es hell geworden ist«, sagte Leo.

»Vielleicht auch nicht, und dann werden wir verhungern.«

»Gut«, antwortete er, »dann werden wir eben sterben. Der Tod ist der letzte Ausweg aus dem Versagen, und wir sterben zumindest in dem Bewusstsein, unser Bestes getan zu haben.«

»Sicher haben wir unser Bestes getan, Leo, wenn man sechzehn Jahre Trampen über Berge und durch endlosen Schnee in Verfolgung eines nächtlichen Traums so nennen kann.«

»Du weißt, was ich glaube«, antwortete er scharf, und dann herrschte eine Weile Schweigen zwischen uns. Ich wusste, dass er allen Argumenten unzugänglich war, und auch ich wollte mir nicht eingestehen, dass alle Mühen und Leiden umsonst gewesen sein sollten.

Als es dämmerte, blickten wir einander prüfend an; jeder wollte sehen, wieviel Kraft noch in dem anderen verblieben war. In den Augen zivilisierter Menschen mussten wir wie wilde Tiere wirken. Leo war jetzt über vierzig Jahre alt, und was seine Jugend versprochen hatte, hatte er im Mannesalter gehalten. Ich habe noch nie einen prächtigeren Mann gesehen. Er war groß und schlank, und die vielen Jahre in Wüste und Gebirge hatten seine Muskeln zu Stahl werden lassen. Sein Haar war schulterlang, wie das meine, Schutz vor Sonne und Kälte, eine lockige, goldene Mähne, und sein Bart bedeckte die breite Brust. Sein Gesicht – so viel der Bart davon freiließ - war von männlicher Schönheit, von Wind und Wetter braun gegerbt, nachdenklich und edel, und darin leuchteten, klar wie Kristall, seine großen grauen Augen.

Und ich - ich war, was ich immer gewesen bin - hässlich und behaart, jetzt eisengrau geworden, aber noch immer voller Kraft, denn meine Kraft schien mit den Jahren zu wachsen, und meine Gesundheit ebenfalls. Während all dieser Jahre waren wir beide, trotz aller Strapazen und mehrerer Unfälle, nicht einen Tag krank gewesen. Die Härten unseres Lebens schienen uns eine eiserne Konstitution gegeben und unsere Körper gegen jede Krankheit immunisiert zu haben. Oder war es, weil wir als einzige unter den Lebenden einst den Atem der Essenz des Lebens gespürt hatten?

Unserer Sorgen entledigt - denn trotz unserer Nacht ohne Essen zeigte keiner von uns Zeichen der Erschöpfung - wandten wir uns um und betrachteten die Landschaft. Unter uns, hinter einem schmalen Streifen fruchtbaren Bodens, begann eine weite Wüste von der Art, mit der wir vertraut waren: sandig, salzverkrustet, baumlos, wasserlos, und hier und da streifig mit dem ersten Schnee des bevorstehenden Winters. Hinter der Wüste, achtzig oder hundert Meilen entfernt, erhob sich ein weiteres Gebirgsmassiv, ein wahres Meer schneebedeckter Gipfel.

Als die goldenen Strahlen der aufgehenden Sonne den Schnee rot färbten, verdüsterte sich Leos Gesicht. Er wandte sich rasch um und blickte zum Rand der Wüste hinab.

»Sieh!«, sagte er und deutete auf einen vagen, riesigen Schatten. Kurz darauf erreichte ihn das Licht der aufgehenden Sonne. Es war ein mächtiger Berg, der nicht mehr als zehn Meilen weit entfernt aus dem Boden der Wüste wuchs. Dann wandte er der Wüste seinen Rücken zu und starrte die Hänge der Berge hinauf, an deren Fuß wir während der Nacht entlanggezogen waren. Sie lagen noch im Dunkel, weil die Sonne hinter ihnen stand, doch kurz darauf begann das Licht über ihre Gipfel zu rollen wie eine Flut. Immer tiefer und tiefer strömte es herab, bis es ein kleines Plateau erreichte, das knapp dreihundert Meter entfernt direkt oberhalb von uns lag. Und dort, am Rand dieses Plateaus, stand ein riesiges, halb verfallenes Idol, ein gigantischer Buddha, der in die Unendlichkeit der Wüste hinausblickte, und hinter ihm sahen wir, aus gelben Steinen errichtet, den halbmondförmigen Bau eines Klosters.

»Endlich!«, schrie Leo. »Mein Gott, endlich!« Und er warf sich zu Boden und vergrub sein Gesicht im Schnee, als ob er es verbergen wollte, als ob es etwas ausdrückte, das selbst ich nicht sehen sollte.

Ich ließ ihn eine Weile in Ruhe; ich verstand, was in seinem Herzen vorging, und auch in dem meinen. Dann trat ich zu dem Yak, diesem armen Tier, das nicht an unserer Freude teilhaben konnte und mit hungrigen Augen umherblickte. Ich lud die Felldecken auf seinen Rücken, dann berührte ich Leo an der Schulter und sagte mit sachlicher Stimme: »Komm! Wenn das Kloster nicht verlassen ist, können wir dort vielleicht Nahrung und Schutz finden. Es sieht so aus, als ob gleich ein Schneesturm losbrechen würde.«

Er erhob sich wortlos, klopfte den Schnee aus seinem Bart und seiner Kleidung und half mir dann, das Yak auf die Beine zu ziehen, denn das hungrige, erschöpfte Tier war zu schwach, um allein aufzustehen. Ich warf einen verstohlenen Blick auf Leos Gesicht und entdeckte einen glücklichen, fast verzückten Ausdruck; er schien von einem tiefen Frieden erfüllt.

Wir stiegen den tief verschneiten Berghang hinauf und zogen das Yak mit uns. Als wir die Terrasse erreichten, auf der das Kloster errichtet war, kam es uns verlassen vor. Wir konnten nirgends Anzeichen von Leben entdecken, nicht einmal Fußspuren im Schnee. War das Kloster nur noch eine Ruine? Davon hatten wir eine Menge gefunden; dieses Land schien voll von Bauten, die einst Heime frommer, gelehrter Männer gewesen waren, die vor Hunderten oder sogar Tausenden von Jahren gelebt hatten und gestorben waren, lange bevor unsere westliche Zivilisation geboren wurde.

Mein Herz, und auch mein leerer, hungriger Magen krampften sich bei dieser Vorstellung zusammen, doch während ich so stand und zweifelnd auf das Kloster starrte, bemerkte ich eine dünne Rauchfahne, die sich aus dem Schornstein kräuselte - noch nie hatte sich mir ein erfreulicherer Anblick geboten. In der Mitte des Komplexes befand sich ein großes, ausladendes Gebäude, offensichtlich der Tempel, und in einem uns näherliegenden Teil der Bauten entdeckte ich eine kleine Tür, direkt unter dem rauchenden Schornstein. Auf diese Tür ging ich zu und hämmerte mit der Faust gegen das Holz.

»Macht auf! Öffnet uns, ihr heiligen Lamas! Fremde bitten euch um Obdach!«

Nach einer Weile hörte ich schlurfende Schritte, und die Tür ging knarrend auf. Ich sah einen uralten Mann in zerfransten, gelben Roben.

»Wer ist da? Wer ist da?«, rief er und blickte mich durch die Gläser einer Hornbrille an. »Wer stört unsere Einsamkeit, die Einsamkeit der heiligen Lamas der Berge?«

»Reisende, Heiliger, die genug Einsamkeit gehabt haben«, antwortete ich in seinem Dialekt, mit dem ich gut vertraut war. »Reisende, die hungrig sind und um Obdach bitten.

Eine Bitte«, setzte ich hinzu, »die du nicht zurückweisen darfst.«

Er starrte uns durch seine Hornbrille an, und da er in unseren Gesichtern nichts erkennen konnte, blickte er auf unsere Kleidung, die genauso zerschlissen war wie die seine und ihr auch ähnelte. Wir trugen die Kleidung tibetanischer Mönche, bestehend aus gefütterten, knöchellangen Röcken und einer Robe, die einem Burnus ähnelte. Wir hatten uns an sie gewöhnt, da wir nichts anderes bekommen konnten. Sie schützte uns gut gegen die Unbilden der Witterung und war unauffällig, hätte es in dieser Region jemanden gegeben, dem wir auffallen hätten können.

»Seid ihr Lamas?«, fragte er misstrauisch. »Und wenn, von welchem Kloster?«

»Lamas sind wir«, antwortete ich, »Lamas des Klosters, das die Welt heißt, und wo man hungrig werden kann.«

Die Antwort schien ihm zu gefallen, denn er kicherte ein wenig, doch dann schüttelte er den Kopf und sagte: »Es ist gegen unsere Gesetze, Fremde bei uns aufzunehmen, wenn sie nicht unseres Glaubens sind, und ich bin sicher, dass ihr nicht zu uns gehört.«

»Und es ist noch mehr gegen euer Gesetz, heiliger Khulighani« - denn mit diesem Titel werden die Äbte angesprochen -, »Fremde verhungern zu lassen«, und ich zitierte eine bekannte Passage aus den Sprüchen Buddhas, die zu dieser Situation passte.

»Ich sehe, dass Ihr die Schriften kennt«, rief er verwundert, »und solchen darf ich das Obdach nicht verwehren. Tretet ein, Brüder des Klosters, das sich die Welt nennt. Aber da ist noch das Yak, das auch Anspruch auf Obdach hat.« Er wandte sich um und schlug auf einen Gong, der hinter der Tür hing.

Ein zweiter Mann erschien, der noch mehr Falten im Gesicht hatte und anscheinend noch älter war als der Abt, und er starrte uns mit offenem Mund an.

»Bruder«, sagte der Abt, »mach deinen großen Mund zu, damit nicht ein böser Geist hineinfliegt. Nimm dieses arme

Yak und füttere es doch gemeinsam mit den anderen Tieren!«

Wir nahmen unsere Sachen von dem Rücken des Yaks, und der alte Bursche, dessen pompöser Titel Herr der Herden war, führte es fort.

Als das Yak gegangen war - ziemlich widerwillig, da es sich nicht gern von uns trennte und seinem Führer misstraute - brachte uns der Abt, dessen Name Kou-en war, in den Wohnraum des Klosters, oder die Küche, da er offenbar für beide Zwecke benutzt wurde. Hier trafen wir die anderen Bewohner des Klosters, etwa zwölf Mönche, die um das Feuer saßen, dessen Rauch wir bemerkt hatten. Einer von ihnen war damit beschäftigt, die Morgenmahlzeit zu kochen, die anderen wärmten sich.

Es waren alles alte Männer, der jüngste von ihnen mindestens fünfundsechzig Jahre alt. Wir wurden ihnen feierlich als Brüder des Klosters, das die Welt genannt wird und wo Menschen hungern vorgestellt, denn der Abt konnte sich nicht von seinem kleinen Scherz trennen.

Die alten Mönche starrten uns an, rieben ihre knochigen Hände, verbeugten sich, hießen uns willkommen und waren offensichtlich froh über unsere Ankunft. Das war nicht erstaunlich, da wir seit über vier Jahren die ersten Besucher waren, wie sich herausstellte.

Und sie beließen es auch nicht bei freundlichen Worten. Sie stellten Wasser aufs Feuer, und während es heiß wurde, bereiteten zwei von ihnen einen Raum für uns vor und andere zogen uns die harten, eisverkrusteten Stiefel von den Füßen, halfen uns aus den dicken gefütterten Röcken und brachten Pantoffel. Dann führten sie uns in das Gästezimmer und wiesen uns darauf hin, dass es ein glückbringender Raum sei, da einmal ein berühmter Heiliger in ihm geschlafen habe. Ein Feuer brannte, und - Wunder über Wunder - saubere Kleidung lag bereit, alles sehr alt und ausgeblichen, doch von guter Qualität und sauber.

Wir wuschen uns mit heißem Wasser, und nachdem wir die saubere Kleidung angezogen hatten - die sich für Leo als etwas knapp erwies schlugen wir auf die Glocke, die neben der Tür hing, und ein Mönch erschien und führte uns zur Küche zurück, wo das Essen bereits aufgetragen war. Es bestand aus einer Art Grütze, die mit frischer Milch gegessen wurde, sowie getrocknetem Fisch aus dem See, und Tee mit Yakbutter. Noch nie hatte uns ein Essen so köstlich geschmeckt, und noch nie hatten wir so viel gegessen. Ich musste Leo schließlich ermahnen, aufzuhören, als ich sah, wie die Mönche ihn anstarrten und der Abt leise zu kichern begann.

»Oho! Das Kloster, das die Welt genannt wird, lässt die Menschen wirklich hungrig werden«, kicherte er, und ein anderer Mönch, der Herr der Vorräte genannt wurde, bemerkte unsicher, wenn wir so weitermachten, würden seine Kammern schon lange vor Ende des Winters leer sein. So beendeten wir unser Mahl getreu der Maxime, an die ich mich aus meiner Kinderzeit erinnere, dass wir noch mehr hätten essen können, und beeindruckten unsere Gastgeber, indem wir ein langes, buddhistisches Dankgebet sangen.

»Ihre Füße sind auf dem Weg! Ihre Füße sind auf dem Weg!«, riefen sie erstaunt.

»Ja«, sagte Leo, »und schon seit sechzehn Jahren in unserer derzeitigen Inkarnation. Doch sind wir noch immer Novizen, denn ihr, heilige Mönche, wisst, wie unendlich lang dieser Weg ist. Um auf diesen Weg geführt zu werden, sind wir durch einen wunderbaren Traum zu euch geleitet worden, mit der Aufforderung, bei euch zu verweilen, bei den frömmsten, heiligsten und gelehrtesten aller Lamas in diesem Teil der Welt.«

»Ja, das sind wir«, antwortete Abt Kou-en, »da es in einem Umkreis von fünf Monatsreisen kein anderes Kloster gibt...« - er kicherte wieder -, »doch unsere Zahl«, fügte er mit einem pathetischen kleinen Seufzer hinzu, »nimmt ständig ab.«

Kurz darauf baten wir, uns in unser Zimmer zurückziehen und ausruhen zu dürfen, und wir schliefen volle vierundzwanzig Stunden lang und erhoben uns frisch und munter. So verlief unsere Einführung in das Kloster der Berge - es hatte keinen anderen Namen - in dem wir die nächsten sechs Monate unseres Lebens zubringen sollten. Wenige Tage nach unserer Ankunft - denn sie brauchten nicht lange, um uns völlig zu vertrauen - erzählten uns diese gutherzigen, einfachen, alten Mönche die ganze Geschichte ihres Klosters.

Vor langer, langer Zeit hatte sich hier ein Lama-Kloster befunden, in dem mehrere hundert Brüder lebten. Das traf ganz offensichtlich zu, denn die Gebäude waren riesenhaft, wenn auch jetzt zum größten Teil verfallen, und, wie die verwitterte Buddha-Statue bewies, uralt. Gerüchte besagten, wie uns der alte Abt erklärte, dass die Mönche vor zweihundert Jahren von einem kriegerischen Stamm, der jenseits der Wüste lebte und das Feuer anbetete, ermordet worden seien. Nur wenige von ihnen überlebten das Massaker, um die Nachricht zu verbreiten, und fünf Generationen lang wagte niemand, in dem Kloster zu leben.

Schließlich wurde ihm, unserem Freund Kou-en, in seinen jungen Jahren offenbart, dass er die Reinkarnation eines der ermordeten Mönche dieses Klosters sei, der ebenfalls Kou-en geheißen hatte, und dass es während seines jetzigen Lebens seine Pflicht sei, dorthin zurückzukehren und durch diese Tat viel Verdienst zu erwerben. Also sammelte er eine Gruppe von anderen Mönchen um sich, die sich, mit dem Segen seiner Oberen, auf den Weg machten und nach einem harten und verlustreichen Marsch das Kloster fanden und in Besitz nahmen.

Dies geschah vor gut fünfzig Jahren, und seit dieser Zeit hatten sie ihr Kloster niemals verlassen und nur gelegentlich von der Außenwelt gehört. Anfangs wurde ihre Zahl durch Zugänge von anderen Klöstern stabil gehalten, doch nach einiger Zeit kam niemand mehr, und die Gemeinde starb allmählich aus.

»Und was dann?«, fragte ich.

»Und dann nichts«, antwortete der Abt. »Wir haben große Verdienste erworben; wir wurden mit vielen Offenbarungen gesegnet, und, nach der verdienten Ruhepause im Devachan, werden wir bei unserer nächsten Inkarnation mit einem viel besseren und leichteren Leben belohnt werden. Was können wir mehr verlangen, so weit entfernt von allen Versuchungen dieser Welt?«

Ansonsten, in den Pausen zwischen den endlosen Gebeten und noch endloseren Meditationen, waren sie Bauern, die den fruchtbaren Boden am Fuß der Berge bestellten und sich um ihre Yak-Herde kümmerten. So führten sie ein frommes Leben, bis sie eines Tages an Altersschwäche starben und, wie sie glaubten - und wer würde zu behaupten wagen, dass sie sich irrten -, den ewigen Kreislauf von Werden und Vergehen in einer anderen Gestalt, an einem anderen Ort, fortsetzen würden.

Kurz nach unserer Ankunft im Kloster, noch am gleichen Tag, begann der Winter mit bitterer Kälte und Schneestürmen, die so anhaltend und so häufig waren, dass die Wüste mit einer dicken Schneeschicht bedeckt wurde. Uns war sehr bald klar, dass wir bis zum Frühjahr hier bleiben müssten, da ein Weiterziehen, ganz gleich in welche Richtung, einem Todesurteil gleich käme. Etwas verlegen erklärten wir Abt Kou-en unsere Lage und schlugen vor, in einen der Räume in dem verfallenen Teil des Klosters zu ziehen und uns von Fischen zu ernähren, die wir fangen würden, indem wir ein Loch in das Eis des zugefrorenen Sees oberhalb des Klosters hackten, und von dem Wild, falls es welches geben sollte, das wir in dem dichten Gehölz von Krüppelkiefern, der das Kloster an drei Seiten umgab, schießen oder in Fallen erbeuten konnten. Aber davon wollte er nichts hören. Wir seien als Gäste zu ihm geschickt worden, erklärte er, und wir sollten seine Gäste bleiben, solange es uns gefiele. Wie könnten wir ihm zumuten, das Gesetz der Gastfreundschaft zu brechen? Außerdem, bemerkte er mit seinem trockenen Kichern: »Wir, die wir hier allein leben, hören gerne etwas über das große Kloster, das die Welt genannt wird, wo es den Mönchen nicht so gut geht wie uns, die wir in so gesegneten Umständen leben, und wo die Menschen sogar hungerten - an Körper und an Seele.«

Das Anliegen dieses gütigen, alten Mannes war, wie wir später feststellen sollten, unsere Füße auf dem Weg zu lassen, bis wir das Ziel, die Wahrheit, erreicht haben würden - das heißt, bis wir so perfekte Lamas geworden waren wie er und seine fromme Herde.

Also gingen wir auf dem Weg, wie wir es schon in vielen anderen Lama-Klöstern getan hatten, nahmen an den langen Gebetssitzungen in der Tempelruine teil, studierten das Kandjurm, die Übersetzungen der Worte Buddhas, die Bibel der Lamas (eine ziemlich umfangreiche), und bewiesen immer wieder, dass unsere Gehirne geöffnet waren. Wir schilderten ihnen auch die Doktrinen des Christentums, und sie waren entzückt, wenn sie viele Ähnlichkeiten zwischen unserem und ihrem Glauben feststellen konnten. Wenn wir über einen längeren Zeitraum hinweg hätten bei diesen Mönchen bleiben können - sagen wir einmal: zehn Jahre lang -, so hätten wir sicher einige von ihnen dazu bringen können, eine neue Erleuchtung zu akzeptieren, deren Propheten wir gewesen wären.

Wir erzählten ihnen zwischen den religiösen Exerzitien viel von dem Kloster, das die Welt genannt wird, und es war ergreifend zu erleben, wie gespannt und begierig sie unseren Berichten über fremde Länder und Menschen anderer Rassen lauschten; sie kannten ja nur China und Rußland und ein paar halbwilde Stämme, die Bewohner der Berge und der Wüste.

»Es ist gut, dass wir von anderen Ländern und anderen Menschen erfahren«, erklärten sie. »Wer weiß, vielleicht werden wir in späteren Inkarnationen in einem dieser Länder geboren.«

Doch obwohl die Zeit auf diese Weise relativ rasch verging, und wir in Bequemlichkeit, verglichen mit manchen vergangenen Erfahrungen sogar im Luxus lebten, waren unsere Herzen von Unruhe erfüllt, denn in ihnen brannte das verzehrende Feuer unserer Sehnsucht. Wir fühlten, dass das Ziel unserer jahrelangen Suche greifbar nahe lag - ja, wir wussten es. Wir wussten es, doch die Umstände verwehrten uns, auch nur einen einzigen Schritt zu tun, um unserem Ziel näherzukommen. Immer noch peitschten Stürme über die Wüste, trieben Wolken von Schnee vor sich her und türmten ihn zu turmhohen Verwehungen auf, unter denen jeder Mensch lebendigen Leibes begraben werden würde. Wir mussten hier ausharren und warten, es gab keine andere Möglichkeit.

Wir fanden nur eine Ablenkung, nur eine einzige: in dem verfallenden Teil des Klosters entdeckten wir eine Bibliothek, eine recht umfangreiche Sammlung von Büchern und Schriften, die zweifellos von den Mönchen angelegt worden war, die bei dem Massaker vor über zweihundert Jahren starben. Sie wurde von ihren Nachfolgern mehr schlecht als recht instand gehalten, und wir erhielten die Erlaubnis, sie nach Belieben zu benutzen. Es war in der Tat eine eigenartige Sammlung, und von ungeheurem Wert, könnte ich mir vorstellen, denn ich entdeckte buddhistische, schivaistische und schamanistische Schriften, die ich nie zuvor gesehen, von denen ich nicht einmal gehört hatte, neben zahlreichen Lebensbeschreibungen von Boddhisatvas, hervorragenden Heiligen. Die Schriften waren in verschiedenen Sprachen abgefasst, von denen einige uns unbekannt waren.

Am interessantesten fanden wir jedoch ein Journal, das über mehrere Generationen von den Khubilghans oder Äbten des alten Lama-Klosters geführt worden war, und in dem alle wichtigen Vorkommnisse akribisch und detailliert registriert worden waren. Als ich die letzten Seiten des jüngsten Bandes durchblätterte, der vor etwa zweihundertfünfzig Jahren geschrieben worden war, kurz vor der Zerstörung des Klosters, entdeckte ich die folgende Eintragung, die ich aus der Erinnerung nur in ihren wesentlichen Punkten zitieren kann:

Im Sommer dieses Jahres fand ein Bruder (sein Name wurde genannt, doch ich habe ihn vergessen) nach einem verheerenden Sandsturm einen Mann in der Wüste, der zu dem Volk gehört, das jenseits der Fernen Berge lebt, und von dem wir hin und wieder gerüchteweise hören. Der Mann lebte noch, doch neben ihm lagen die Leichen zweier seiner Landsleute, die verdurstet waren. Der Mann wirkte wild und unzivilisiert und weigerte sich, uns zu sagen, wie er in die Wüste gekommen sei. Er teilte uns nur mit, dass er einer uralten Straße gefolgt sei, die nicht mehr benutzt würde, seit die Verbindung zwischen seinem Volk und der Außenwelt abgebrochen worden sei. Wir schlossen aus seinen spärlichen Erklärungen, dass seine beiden Brüder, mit denen er geflohen war, ein Verbrechen begangen hatten und zum Tode verurteilt worden waren, und dass er sie auf ihrer Flucht begleitet hatte. Er berichtete uns, dass jenseits der Fernen Berge ein reiches, fruchtbares Land läge, das jedoch häufig von Erdbeben erschüttert würde - die wir selbst hier zeitweise spüren.

Das Volk, das in jenem Land lebt, erklärte er uns, sei kriegerisch und zahlreich und ernähre sich hauptsächlich durch Ackerbau. Es hätte sät Urzeiten dort gelebt, zeitweilig unter der Herrschaft von Khans, die Abkömmlinge eines Griechenkönigs namens Alexander waren, der das Land südwestlich des Klosters erobert habe. Dies könnte der Wahrheit entsprechen, da unsere Schriften von einer Armee berichten, die vor etwa zweitausend Jahren in dieses Land eindrang, obwohl ein Alexander in diesem Zusammenhang nicht erwähnt wird.

Dieser Fremde berichtete uns außerdem, dass sein Volk eine Priesterin verehre, die Hes oder Hesea hieße und seit vielen Generationen herrsche. Sie lebt völlig allein in einem großen Berg und würde von allen Menschen gefürchtet und angebetet, sei jedoch nicht die Königin des Landes, in dessen Affären sie sich nur selten einmische. Es würden ihr Opfer dargebracht, und jeder, der ihren Zorn heraufbeschwöre, müsse sterben, so dass selbst die Häuptlinge jenes Volkes sie fürchteten. Trotzdem komme es immer wieder zu Kämpfen zwischen den einzelnen Stämmen dieses Volkes, die einander hassten.

Wir bezichtigten ihn der Lüge, als er behauptete, dass diese Frau unsterblich wäre - denn das schien er uns weismachen zu wollen -, da nichts und niemand unsterblich sei. Wir lachten auch über seine Schilderung ihrer Macht, was ihn in große Wut versetzte. Er erklärte sogar, dass unser Herr, Buddha, nicht so viel Macht besäße wie seine Priesterin, und dass er uns das beweisen würde, indem er uns ihren Zorn über unsere Zweifel spüren ließe.

Wir versorgten ihn mit Nahrung und schickten ihn aus dem Kloster. Als er ging, erklärte er uns, dass wir sehr bald erfahren würden, wer die Wahrheit sage. Wir wissen nicht, was aus ihm geworden ist, und er weigerte sich, uns den Verlauf der alten Straße zu verraten, die jenseits der Wüste und der Fernen Berge liegt. Vielleicht war er von einem bösen Geist zu uns gesandt worden, um uns zu ängstigen, was ihm jedoch nicht gelang.

Soweit die seltsame Eintragung, die uns mit Erregung und Hoffnung erfüllte. Sonst fanden wir nichts über diesen Mann und sein Land, doch ein gutes Jahr nach diesem Bericht brach das Journal abrupt ab, ohne jede Andeutung darauf, dass ungewöhnliche Ereignisse stattgefunden hätten oder erwartet würden.

Die letzte Eintragung in dem Pergament befasste sich, im Gegenteil, mit Zukunftsplänen, mit der Erschließung neuen Landes für den Anbau von Getreide, was darauf hindeutet, dass die Brüder keinerlei Störungen ihres friedlichen Lebens erwarteten oder befürchteten. Wir fragten uns, ob der Mann von jenseits der Berge seine Drohung wahrgemacht und die Rache der Priesterin Hesea auf die kleine Gemeinde herabbeschworen habe, die ihn vor dem Tod gerettet hatte. Und wir fragten uns vor allem, wer oder was diese Hesea sein mochte.

Einen Tag nach dieser Entdeckung baten wir den Abt, uns in die Bibliothek zu begleiten, und nachdem wir ihm die Passage vorgelesen hatten, fragten wir ihn, ob er etwas über diese Angelegenheit wisse. Er wiegte seinen weisen, alten Kopf, der mich immer an den Kopf einer Schildkröte erinnerte, und sagte: »Wenig, sehr wenig, und das auch nur über die griechische Armee, die in der Schrift erwähnt wird.«

Wir fragten ihn, wie er von Ereignissen wissen könne, die vor zweitausend Jahren stattgefunden hätten, woraufhin Kou-en uns ruhig erklärte: »Zu jener Zeit, als der Glaube des Heiligen noch sehr jung war, lebte ich als einfacher Mönch in diesem Kloster, das eins der frühesten war, und ich sah die Armee vorüberziehen. Das ist alles. Es war...«, fügte er nachdenklich hinzu, »während meiner fünfzigsten Reinkarnation - nein, das war eine andere Armee - in meiner siebenunddreißigsten.«

Leo begann zu lachen, doch ich brachte ihn durch einen Tritt ans Schienbein zum Schweigen, und er tarnte den Heiterkeitsausbruch mit einem Niesen. Glücklicherweise, denn sonst wäre der alte Mann tief gekränkt gewesen. Und schließlich waren gerade wir, wie Leo selbst einmal erklärt hatte, nicht berechtigt, uns über den Glauben an die Reinkarnation lustig zu machen, der, das sollte hier erwähnt werden, von fast einem Viertel aller Menschen dieser Erde geteilt wird, und es ist gewiss nicht das dümmste Viertel.

»Wie ist das möglich, gelehrter Kou-en?«, fragte ich, »da die Erinnerung doch durch den Tod gelöscht wird?«

»Ah!«, rief er. »Bruder Holly, das mag oft so scheinen, doch sehr häufig kommt sie zurück, besonders zu denen, die schon eine lange Strecke auf dem Weg hinter sich gebracht haben. Ich, zum Beispiel, hatte alles über diese Armee vergessen, bis ich den Bericht in dem alten Tagebuch las, doch jetzt sehe ich sie marschieren, marschieren, und ich stehe mit anderen Mönchen bei der großen Buddha-Statue und blicke hinab, während sie vorüberzieht. Es war keine starke Armee, weil die meisten ihrer Soldaten gestorben oder gefallen waren, und der Rest wurde von den wilden Völkern angegriffen, die damals südlich von hier lebten, so dass sie in großer Eile waren, die Wüste zwischen sich und ihre Verfolger zu bringen. Der König dieser Armee war ein dunkelhäutiger Mann - ich wünschte, ich könnte mich an seinen Namen erinnern, doch er fällt mir nicht ein.

Dieser König kam in unser Kloster und verlangte Quartier für seine Frau und seine Kinder«, fuhr der Abt fort, »außerdem Nahrung und Medizin und einen Führer, der seine Armee durch die Wüste bringen sollte. Der Abt jener Tage erklärte ihm, dass es gegen unser Gesetz verstieße, eine Frau unter unserem Dach aufzunehmen, worauf er erwiderte, wenn wir uns weigerten, würden wir kein Dach mehr haben, weil er das Kloster niederbrennen und uns alle töten lassen würde. Nun wisst ihr genauso wie ich, dass ein gewaltsamer Tod für uns bedeutet, dass wir mehrere Inkarnationen als Tiere durchlaufen müssen, eine entsetzliche Vorstellung! Also wählten wir das kleinere Übel und gaben nach und erhielten später Absolution für diese Sünde vom Dalai Lama. Ich habe die Königin nicht selbst gesehen, doch ich sah die Priesterin, die diese Menschen verehrten... die sie anbeteten... Oh!« Kou-en schlug mit beiden Fäusten gegen seine Brust.

»Wieso Oh?«, fragte ich so desinteressiert, wie es mir möglich war, denn seine Erzählung fesselte mich ungemein.

»Wieso? Weil ich die Armee vergessen hatte, nicht aber die Priesterin, die mir ein großes Hindernis auf meinem Weg durch viele Inkarnationen war und mich auf meiner Reise zum Anderen Ufer, zum Ufer der Erlösung, aufgehalten hat. Ich, ein einfacher Lama, war damit beschäftigt, ihr Quartier vorzubereiten, als sie eintrat und ihren Schleier zurückriss und zu mir sprach und mir viele Fragen stellte, mich, der ich geschworen hatte, nie eine Frau anzusehen.«

»Was... wie war sie?«, fragte Leo begierig.

»Wie sie war? - Oh, sie war die Inkarnation aller Schönheit; sie war wie der Schein der Morgendämmerung auf dem Schnee; sie war wie der Abendstern über den Bergen; sie war wie die erste Blume des Frühlings. Bruder, frage mich nicht, wie sie war. Ich will nicht mehr von ihr reden.

Oh! Meine Sünde, meine Sünde! Ich gleite in die Vergangenheit zurück, und ihr zerrt meine verborgene Schande an das Licht des Tages. Nein, ich will es gestehen, damit ihr wisst, wie schwach und sündig ich bin, den ihr vielleicht für einen Heiligen gehalten habt. Diese Frau - falls sie eine Frau war - hat in meinem Herzen ein Feuer entfacht, das niemals erloschen ist - Oh! - und noch mehr, noch mehr...« Kou-en wiegte seinen Oberkörper vor und zurück und Tränen der Reue quollen unter seiner Hornbrille hervor. »Sie hat mich dazu gebracht, sie anzubeten! Zuerst fragte sie mich nach meinem Glauben und hörte aufmerksam zu, als ich ihr unsere Dogmen darlegte. Ich sprach mit großer Hingabe, da ich hoffte, in ihrem Herzen die Flamme der Erleuchtung anfachen zu können. Doch als ich zu Ende gekommen war, sagte sie: Dein Weg ist also die Entsagung, und dein Nirwana das Nichts, ein Ziel, das kaum die großen Anstrengungen lohnt, die ihr euch auferlegt, um es zu erreichen. Ich werde dir jetzt einen amüsanteren Weg zeigen, und eine Göttin, die deine Verehrung mehr verdient.

Welchen Weg, und welche Göttin?, fragte ich sie.

Den Weg der Liebe und des Lebens, antwortete sie, der die ganze Welt geschaffen hat, der auch dich geschaffen hat, oh, Sucher des Nirwana, und der Name dieser Göttin ist Natur.

Ich fragte sie nun, wo diese Göttin wäre, und sie richtete sich auf, und ihre Haltung war die einer Königin, und sie sagte: Ich bin diese Göttin, ich bin Sie. Knie nieder und bete mich an!

Meine Brüder, ich fiel auf die Knie, ja, und ich küsste ihre Füße, und dann floh ich wie gehetzt aus dem Raum, beschämt und gebrochenen Herzens, und sie begann zu lachen und rief mir nach: Denk an mich, wenn du Devachan erreichst, du Diener des Buddha-Heiligen, denn obwohl ich mich verändere, sterbe ich doch nicht, und selbst dort werde ich bei dir sein, der du mich einmal angebetet hast.

Und so ist es, meine Brüder, so ist es; obwohl ich für meine Sünde Absolution erlangt und ihretwegen während meiner folgenden Inkarnation viel gelitten habe, kann ich mich nicht von ihr lösen, und für mich ist der Endgültige Friede weit, weit entfernt.« Kou-en presste seine Greisenhände vor das Gesicht und begann bitterlich zu schluchzen.

Ein befremdender Anblick, wahrlich, einen heiligen Khublighan von weit über achtzig Jahren wie ein Kind weinen zu sehen wegen eines Traums von einer schönen Frau, den er in einer mehr als zweitausend Jahre zurückliegenden Inkarnation geträumt zu haben glaubte. So wird es der Leser sehen. Doch ich empfand aus sehr persönlichen Gründen ein tiefes Mitgefühl mit diesem armen, alten Mann, und auch Leo verstand ihn. Wir klopften ihm auf den Rücken und versicherten ihm, dass er gewiss das Opfer einer bösen Halluzination geworden sei, die niemals gegen ihn aufgerechnet werden könne, weder in diesem Leben, noch in einem späteren, und wenn es eine Sünde gewesen sein sollte, so sei sie längst vergeben, und so weiter. Als er sich wieder etwas beruhigt hatte, versuchten wir, weitere Informationen von ihm zu erhalten, doch mit sehr magerem Resultat, soweit sie die Priesterin betrafen.

Er erklärte uns, dass er nicht wüsste, zu welcher Religion sie gehörte, und es sei ihm auch gleichgültig, da es sich auf jeden Fall um eine sehr üble Religion handeln müsse. Sie sei am nächsten Morgen mit der Armee weitergezogen, und er habe sie nie wiedergesehen und auch nie wieder von ihr gehört, doch erinnere er sich, dass er gezwungen gewesen war, sich acht Tage lang in seiner Zelle einzuschließen, um sich davor zu bewahren, ihr zu folgen. Doch, an eines könne er sich noch erinnern: Der Abt hatte den Brüdern erklärt, dass die Priesterin der wahre Anführer jener Armee sei, nicht der König oder die Königin, die die Priesterin hasste. Ihr Befehl sei es gewesen, der die Armee den Marsch nach Norden habe antreten lassen, um jenseits der Wüste und der Fernen Berge ein Land zu erreichen, in dem sie sich und ihren Kult etablieren wollte.

Wir fragten, ob es wirklich ein Land jenseits der Fernen Berge gäbe, und Kou-en antwortete, dass es den Anschein habe. Entweder in diesem oder einem seiner früheren Leben habe er davon gehört, dass dort Menschen leben sollten, die das Feuer anbeteten. Auf jeden Fall sei erwiesen, dass ein Bruder, der vor etwa dreißig Jahren den alleinstehenden Berg in der Wüste erklommen hatte, um dort ein paar Tage in einsamer Meditation zu verbringen, bei seiner Rückkehr von wunderbaren Dingen zu berichten wusste, die er gesehen hatte: von einem gewaltigen Feuer, das hinter den Fernen Bergen lodere; doch ob es sich dabei um eine Vision oder Wirklichkeit handelte, konnte er nicht sagen. Er erinnerte sich jedoch, dass er zur gleichen Zeit, als er das Feuer sah, die Erschütterungen eines starken Erdbebens gespürt habe.

Dann begann die Erinnerung an die schwere Sünde, die er glaubte, vor zweitausend Jahren begangen zu haben, wieder das unschuldige, alte Herz Kou-ens zu bedrücken, und er schlich laut lamentierend aus der Bibliothek und wurde eine Woche lang nicht mehr gesehen. Und er sprach nie wieder mit uns über diese Angelegenheit.

Wir aber unterhielten uns lange und oft darüber, von Verwunderung und Hoffnung erfüllt, und wir beschlossen, dass auch wir eines Tages auf diesen alleinstehenden Berg steigen würden.

AYESHA - SIE KEHRT ZURÜCK

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