Читать книгу Ein Mas im Roussillon - Herbert E Große - Страница 3
Оглавление3. Kapitel
Wenn es nicht den berühmten Türsturz über dem Westportal der Kirche gäbe, würde St. Génis in keinem Reiseführer erwähnt werden. Es ist eine typische südfranzösische Kleinstadt mit einer Durchgangsstraße und dem alten Ortskern leicht bergauf. Dahinter kommt ein Neubaugebiet.
Von der Durchgangsstraße biegt man am Brunnen vor der „Crédit Agricole“ ab und ist sofort an der Kirche. Heute ist es die Gemeindekirche „Saint-Michel“. Früher war es ein Benediktinerkloster, das 1507 dem Kloster Montserrats angegliedert wurde.
Der berühmte Türsturz datiert von 1019 und stellt Christus mit einer perlengeschmückten Mandorla dar. Getragen wird er von zwei Erzengeln. Neben den Erzengeln befinden sich je drei Apostel.
Der Kreuzgang ist ein solcher wie jeder andere. Auch dem Kircheninneren kann man keine Besonderheit bescheinigen, obwohl viele Bildungstouristen fast in Ekstase geraten, wenn sie alles besichtigen.
Henri und Paul hatten gemeinsam im „Le Carrefour“ zu Mittag gegessen. Auf dem Weg zu ihren Autos, die auf dem oberen Parkplatz hinter dem „Syndicat d`Initiative“ abgestellt waren, kamen sie an der Kirche „Saint-Michel“ vorbei. Auf der Portalseite stehen riesige Platanen, die in der Nachmittagshitze angenehmen Schatten spendeten. Neben dem Eingangsportal lehnte an der Wand eine Metallbank, die unbesetzt war. Weil sie sich noch etwas unterhalten wollten, setzten sie sich.
„Warum ist Jesus auf diesem Türsturz nur mit sechs Aposteln dargestellt?“, fragte Paul.
„Beantworten kann ich ihnen diese Frage nicht mit Sicherheit. Ein Apostel ist im Verständnis der christlichen Tradition jemand, der direkt von Jesus als „Gesandter“ beauftragt worden ist.
Später, ich glaube nach dem 8. Jahrhundert, wurden in der katholischen und in der orthodoxen Kirche auch die Bischöfe als Apostel bezeichnet. Jesus wurde allerdings bis zum 11. Jahrhundert meist mit nur sechs Aposteln dargestellt. Wenn man bedenkt, dass dieser Türsturz aus dem Jahre 1019 datiert, könnte dies eine Erklärung sein“, sagte Henri.
Bevor sie sich weiter über den Türsturz, die Apostel und katholische Bischöfe unterhalten konnten, legte sich ein Straßenköter zwischen ihre Beine. Obwohl der Hund ungepflegt aussah, stank er nicht.
Paul sagte etwas gedankenverloren: „Überall in den südlichen Ländern laufen immer irgendwo Hunde herum, meist in Rudeln. Ein Bellen hört man nur selten und die Köter sind friedlich. Wenn ich jedoch an Deutschland denke, erinnere ich mich, dass die Hunde fast immer angeleint sind und bei einer Begegnung mit anderen Artgenossen regelmäßig aggressiv werden. Die Hundehalter haben ihre Mühe, ihre braven Lieblinge zu bändigen. Hier im Süden stört sich niemand an diesen Tieren. Ich glaube, sie werden als Mitgeschöpfe so toleriert, wie sie sind.“
„Das sehen sie richtig“, antwortete Henri und kraulte dem Hund den Kopf.
Plötzlich kam ein Tourist, offenbar ein Engländer, auf den Platz. Typische Sandalen mit Socken, kurze Safarihosen und das entsprechende Hemd. Auch der Hut passte zu diesem Mann. Etwas unbeholfen stellte er eine große Reisetasche ab. Ganz professionell suchte er den richtigen Standort für sein Stativ, das er sorgfältig entfaltete und darauf einen Fotoapparat befestigte. Mit einem Gerät maß er offenbar die Lichtverhältnisse.
Jetzt holte er einen Reiseführer aus der Tasche, blätterte darin und las etwas. Er richtete den Fotoapparat auf den Türsturz und drückte mehrmals ab.
Henri erinnerte ihn noch an die Grabplatten an den Seiten der Türen. Offenbar stand aber darüber nichts in seinem Reiseführer und er ließ sie unbeachtet.
Daraufhin sagte Paul zu dem Engländer: „Wissen sie, dass der Türsturz am Eingang der Kirche in Saint André, das ist der nächste Ort in Richtung Strand, noch viel wertvoller ist, als dieser hier. Das wissen aber nur Eingeweihte und nicht alle Touristen.“
„Was erzählen sie denn da für einen Unfug?“, fragte ihn Henri.
„Das ist doch nur ein englischer Tourist, der ohnehin keine Ahnung hat. Der erzählt bestimmt zu Hause von diesem Tipp.“
„Das glaube ich nicht, denn die Grabplatten haben ihn auch nicht interessiert, weil sie nicht in seinem Reiseführer erwähnt waren. Es ist zwar richtig, dass diese kleine vorromanische Kirche in St. André zu den bedeutenden Monumenten Frankreichs aus dem 10. /11. Jahrhundert gerechnet wird. Aber der Türsturz ist kulturhistorisch nichts Besonderes“, erwiderte Henri.
Weil sie deutsch sprachen, verstand der Engländer sie offenbar nicht. Denn er fragte, ob sie sich auf der Bank so hinsetzen könnten, dass sie mit auf dem Bild seien.
Henri wollte diese Bitte gerade abschlagen, als der Straßenköter in die Reisetasche des Engländers einen dicken Haufen setzte.
„Können sie denn nicht auf Ihren Hund besser aufpassen!“, schrie der Engländer und jagte den Straßenköter weg.
„Ist nichts Schlimmes passiert“, erwiderte Henri.
„Doch! Dieses widerliche Vieh hat in meine Reistasche geschissen.“
„So?“, sagte Henri und ging zur Reisetasche.
„Tatsächlich, das Zeug ist noch warm und stinkt entsetzlich.“
„Wer entfernt jetzt das Zeug aus meiner Tasche?“
„Kein Problem!“, erwiderte Henri und griff in die Tasche. Als er seine Hand herausnahm, hielt er darin den Hundehaufen. Er wandte sich dem englischen Touristen zu, gab ihm die Hand, in der er den Hundehaufen hielt, und sagte: „Nichts für Ungut, Mister. Das kann schon mal passieren und ist nur hündisch.“
Der Fotograf nahm tatsächlich die ihm entgegen gestreckte Hand und griff zu, als wollte er die Entschuldigung annehmen. Nachdem er das Unheil bemerkt hatte, musste er sich übergeben und wischte auch noch die kotverschmutzte Hand an seiner Hose ab.
„Paul wissen sie, wessen Hund das ist?“
„Nein, aber der englische Gentleman soll seinen Fotoapparat und die Tasche nicht vergessen.“